Einleitung
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich freue mich sehr über die Einladung, bei der diesjährigen Malcolm Wiener Lecture zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich bin immer wieder gerne in den Vereinigten Staaten, vor allem hier in Cambridge, wo ich in den 1970er-Jahren meinen Ph.D. gemacht habe.
Oftmals werden die Vereinigten Staaten als „junge Nation“ bezeichnet, doch die Institution, die ich leiten darf, ist wesentlich jünger! Die Europäische Zentralbank (EZB) und der Euro wurden vor fast 15 Jahren, Anfang 1999, geschaffen. Heute möchte ich Ihnen einen Eindruck davon vermitteln, wie unsere Anfänge aussahen und mit welchen Herausforderungen die EZB in ihrer „Jugend“ konfrontiert war.
Wie Sie sicher wissen, befindet sich Europa gegenwärtig in einem weitreichenden Reformprozess. Viele dieser Reformen werden derzeit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) durchgeführt, um die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen dieser Länder zu erhöhen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und die Bilanzen der einheimischen Banken zu stärken.
Aber auch auf europäischer Ebene ist eine Reihe wichtiger Reformen im Gange. Neue Regeln und Institutionen werden geschaffen, durch die sich die Beziehung zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten ändern wird. Diesen Prozess und seine Implikationen möchte ich in den Mittelpunkt meiner heutigen Ausführungen stellen.
In der Präambel des Vertrags über die Europäische Union ist eine immer engere Union als eines der Ziele der EU festgeschrieben. Manchen macht dies Angst, scheint es doch auf eine unaufhaltsame Entwicklung hin zu einem künftigen Superstaat hinzudeuten. Viele Europäer – deren Geschichte und Kulturen nicht homogen sind – haben das Gefühl, für diesen Schritt nicht bereit zu sein.
Daher ist es wichtig, zu verstehen, dass die Formulierung „eine immer engere Union“ die Agenda des heutigen Europa nicht wirklich trifft. Meiner Meinung nach wäre es angemessener, eine verbale Anleihe bei der US-Verfassung zu machen und stattdessen von der Schaffung einer „perfekteren Union“ zu sprechen.
Was ich damit sagen will, ist, dass wir etwas bereits Begonnenes perfektionieren – nämlich die Wirtschafts- und Währungsunion, die 1999 ins Leben gerufen wurde. Die politischen Entscheidungsträger tragen den Konsequenzen der Entscheidung Rechnung, einen echten Binnenmarkt zu schaffen, der durch eine Gemeinschaftswährung unterstützt wird.
In meinen weiteren Ausführungen möchte ich auf dieses Thema eingehen und werde dabei auf zwei Bereiche zu sprechen kommen.
Zum einen werde ich darlegen, dass ein Binnenmarkt zwangsläufig politische Implikationen hat. In diesem Zusammenhang kann ein teilweises Teilen von individueller und nationaler Souveränität der beste Weg zur Wahrung der Souveränität sein.
Zum anderen werde ich erörtern, wie die Konzepte einer Bankenunion und eines gestärkten Haushaltsrahmens den Binnenmarkt und die Gemeinschaftswährung unterstützen können.
Die politischen Implikationen eines Binnenmarkts
Um die EU und den Euroraum verstehen zu können, muss man sich den Unterschied zwischen einer Freihandelszone und einem echten Binnenmarkt vergegenwärtigen.
Eine Freihandelszone ist ein partielles und reversibles Arrangement, ein Binnenmarkt hingegen eine universelle und permanente Union. Dieser Unterschied hat fundamentale Implikationen.
Da der Binnenmarkt universell und permanent ist, verzichten die Regierungen und Parlamente der Mitgliedsländer sowohl grundsätzlich als auch durch den Vertrag auf die Möglichkeit, Grenzkontrollen wieder einzuführen. In der Praxis bedeutet dies, dass sie – anders als in einer Freihandelszone – nicht alleine agieren können, um ihre Wählerinnen und Wähler vor Wettbewerbsverzerrungen und Wettbewerbsverstößen durch ausländische Konkurrenten zu schützen.
Diese Untermauerung auf politischer Ebene ist für das Funktionieren des Marktes unerlässlich. Ein freier Markt ohne wesentliche juristische Grundsätze wie den Schutz des Eigentumsrechts und die Durchsetzung von Verträgen ist nicht denkbar. [1]
Während eine Freihandelszone durch die Zusammenarbeit der betreffenden Regierungen gesteuert werden kann, bedarf es im Fall eines Binnenmarkts einer supranationalen Organisation. Es muss eine Judikative geben, die befugt ist, das Wettbewerbsrecht auf Ebene des Markts durchzusetzen. In Europa wurde diese Befugnis der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof übertragen.
Wenn es eine Judikative gibt, dann folgt daraus ganz logisch auch der Bedarf an einer Legislativen, welche die Gesetze erarbeitet, die dann von der Judikativen durchgesetzt werden. In Europa üben der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament gemeinsam die Rolle der Legislativen aus.
Schließlich müssen beide Instanzen noch durch eine Exekutive ergänzt werden, welche die Entscheidungen von Judikative und Legislative umsetzen kann. In Europa fällt diese Rolle der Europäischen Kommission zu.
Genau das meinte ich, als ich sagte, der Binnenmarkt habe zwangsweise politische Implikationen. Es ist allgemein bekannt, dass die kurze Handelsklausel in der US-Verfassung, die dem Kongress die Befugnis einräumt, den Handel zwischen den Bundesstaaten zu regulieren, die Grundlage eines wichtigen Korpus föderaler Rechtsvorschriften bildet, die die Wirtschaftsfragen regeln.
Das Teilen von Souveränität in einem Binnenmarkt
Die schwierigere Frage, die sich in Europa stellt, ist, wie viele Befugnisse auf die supranationale Ebene übertragen werden müssen, um den Binnenmarkt zu stützen. Oder anders gesagt: wie viel Souveränität muss geteilt werden? Um uns dieser Frage zu nähern, wäre meiner Meinung nach beispielsweise genauer zu beleuchten, was genau wir unter Souveränität verstehen.
Eine Möglichkeit besteht darin, Souveränität normativ zu betrachten. Diese Betrachtungsweise bevorzugten in der Vergangenheit Absolutisten wie Jean Bodin im 16. Jahrhundert. Souveränität wird bei ihm anhand von Rechten definiert: das Recht, Krieg zu erklären und die Bedingungen für Frieden auszuhandeln, das Recht, Steuern zu erheben, Geld zu prägen und als letzte juristische Instanz zu fungieren.
Eine andere mögliche Betrachtungsweise ist positiv. Hier wird Souveränität als die Fähigkeit gesehen, die grundsätzlichen Leistungen, die der Regierung nach Ansicht der Bevölkerung obliegen, zu erbringen. Ein Souverän, der nicht imstande ist, sein Mandat effektiv zu erfüllen, wäre nur auf dem Papier ein Souverän.
Dieser zweite Ansatz entspricht eher den Theorien der politischen Philosophen, die unsere modernen Demokratien am meisten beeinflusst haben. In seiner zweiten Abhandlung über die Regierung legt John Locke dar, dass der Souverän lediglich eine treuhänderische Instanz ist und bestimmten Zwecken dient. Die Fähigkeit, diese Ziele zu erreichen, definiert Souveränität und verleiht ihr Legitimität.
Dasselbe Argument brachte James Madison im Federalist Paper 45 vor, in dem er erklärt, dass es einziger Wert jedweder Regierungsform ist, der Erreichung des Gemeinwohls zu dienen.
Diese positive Sichtweise ist in meinen Augen der richtige Ansatz, Souveränität zu definieren. Und diese Sichtweise muss uns bei der Entscheidung, welche Befugnisse auf nationaler und welche auf europäischer Ebene sein sollten, als Orientierung dienen. Der Wirksamkeit sollte unsere Aufmerksamkeit zugewandt sein und nicht abstrakten Grundsätzen, die ihre Bedeutung in der heutigen Welt unter Umständen verloren haben.
Ein derartiger Ansatz bringt uns weg von einer Sicht, in der eine Partei die Souveränität an eine andere abgibt und es somit zu einer „Nullsumme der Macht“ kommt. Wenn wir stattdessen die Bedürfnisse der Bevölkerung in den Mittelpunkt stellen, so können wir die Souveränität an ihren Ergebnissen messen. Und diese Ergebnisse können wiederum eine positive Summe ergeben.
Tatsächlich gibt der Vertrag über die Europäische Union diese Sichtweise bereits im Grundsatz der Subsidiarität vor. Dieser besagt, dass Befugnisse nur dann auf die Unionsebene übertragen werden dürfen, wenn sie dort mehr Wirksamkeit entfalten können als auf (nationaler) Regierungsebene. Anders gesagt: der Fokus liegt direkt auf politischer Effektivität.
Ich bin der Meinung, dass dieser pragmatische Fokus die treibende Kraft der weiteren Integration sein sollte.
Vom Binnenmarkt zur einheitlichen Währung
Politische Effektivität war eine der Hauptgründe für die Errichtung einer Währungsunion – insbesondere sollte der potenzielle Nutzen der Mitgliedstaaten, die den Binnenmarkt bilden, maximiert werden.
Für die Gemeinschaftswährung spricht zuallererst die Zweckmäßigkeit eines einheitlichen Zahlungsmittels und einer einheitlichen Recheneinheit in einem Binnenmarkt. Für den Handel ist eine einheitliche Währung nicht erforderlich, aber sinnvoll, da durch sie die Kosten für Währungsumrechnungen entfallen und die Preise transparenter werden.
Für eine einheitliche Währung sprechen auch die fairen Wettbewerbsbedingungen in einem Binnenmarkt. In einem System flexibler Wechselkurse wären einzelne Regierungen möglicherweise versucht, ihre Währung durch eine „Beggar-thy-neighbour-Politik“ zu manipulieren, was eine Wettbewerbsverzerrung darstellen würde. Aufgrund der Währungsabwertung in konkurrierenden Ländern könnte eine Volkswirtschaft, die ihre Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit steigert, um die damit einhergehenden verdienten Vorteile in Form höherer Marktanteile gebracht werden.
Die Instabilität der Wechselkurse in der Zeit nach Bretton Woods stützt die Ansichten von Volkswirten wie Ragnar Nurske. Dieser warnte in einer 1944 veröffentlichten einflussreichen Studie, die im Auftrag des Völkerbunds erstellt worden war, vor den wirtschaftlichen Verlusten aus Wechselkursschwankungen. [2]
Erwähnenswert ist auch, dass der Nobelpreisträger Robert Mundell mit seiner Theorie optimaler Währungsräume flexible Wechselkurse in einem Binnenmarkt kritisierte, nicht unterstützte. Er führte an, dass er nicht nachvollziehen könne, warum Länder, die im Begriff sind, einen Binnenmarkt bilden, sich mit einer neuen Handelsbarriere in Form von Unsicherheit über Wechselkurse belasten sollten. [3]
Der Wunsch, die Wechselkursvolatilität in der EU zu begrenzen, wurde jedenfalls schon sehr bald nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er-Jahre formuliert. Er spiegelte sich in sukzessiven Regelungen zu festen Wechselkursen wider, wie beispielsweise dem Europäischen Währungssystem und seinem Nachfolger, dem Wechselkursmechanismus.
Auch in der Vertragsregelung, dass die Wechselkurspolitik von jedem Mitgliedstaat als „Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ zu behandeln ist, findet dieses Anliegen seinen Ausdruck.
Es versteht sich von selbst, dass in einem echten Binnenmarkt nicht auf freien Handel und freien Kapitalverkehr verzichtet werden kann. Zudem hielten die Europäer feste Wechselkurse für ein bedeutendes Element fairen Wettbewerbs. Somit musste dann die nationale Souveränität in Bezug auf die Geldpolitik aufgegeben werden. Über die einheitliche Währung konnte der Nutzen aus dem Binnenmarkt maximiert werden. Und es gibt empirische Belege dafür, dass die gemeinsame Währung den Handel tatsächlich belebt hat, möglicherweise allerdings in geringerem Umfang als zuvor angenommen. [4]
Ich möchte noch ergänzen, dass der Beitritt zur Währungsunion für mehrere Mitgliedstaaten nicht nur größere politische Effektivität, sondern paradoxerweise auch größeren nationalen Einfluss mit sich gebracht hat.
Viele Mitgliedstaaten (z. B. Österreich bis zum Jahr 1999 oder Lettland heute) verfolgten eine feste Wechselkurspolitik oder hatten ein Currency-Board-System gegenüber einem größeren Nachbarn – in der Vergangenheit war dies Deutschland, heute ist es das Eurogebiet. Somit importierten sie im Grunde eine Geldpolitik, bei der sie kein Mitspracherecht hatten. Als Mitglieder des Euroraums können sie nun Einfluss nehmen. Mit der Euro-Einführung in Lettland am 1. Januar 2014 wird der Präsident der lettischen Zentralbank an der geldpolitischen Beschlussfassung der EZB vollständig beteiligt sein. Bei – zum Teil erheblich größeren – Ländern, deren Währung an den US-Dollar angebunden ist, ist dies nicht der Fall.
Von der einheitlichen Währung zur Bankenunion
Die Entscheidung, einen echten Binnenmarkt zu schaffen, ist in ihren Auswirkungen aber nicht auf die Einführung der einheitlichen Währung beschränkt. Die einheitliche Währung selbst zieht weitere Schritte nach sich, besonders dringend ist eine Bankenunion.
Die Errichtung einer Bankenunion wurde von den Staats- und Regierungschefs in Europa vereinbart und wird nun Schritt für Schritt umgesetzt. Als Erstes soll der einheitliche Aufsichtsmechanismus eingeführt werden. Diese Aufgabe wurde der EZB übertragen, wie jüngst vom Europäischen Parlament gebilligt. Wir gehen davon aus, dass der einheitliche Aufsichtsmechanismus Anfang 2015 in Kraft treten wird.
Um zu verstehen, warum die Bankenunion eine logische Folge der Währungsunion ist, muss man sich vor Augen halten, dass nur ein kleiner Anteil des Geldes „outside money“ – also Verbindlichkeiten der Zentralbank – darstellt. Der Großteil des Geldes in der Volkswirtschaft ist „inside money“, also Verbindlichkeiten von Geschäftsbanken.
Damit wir in einem Währungsraum eine wirklich einheitliche Währung haben, müssen ihre verschiedenen Formen vollständig substituierbar sein. Das heißt, dass ein Euro einer Bank eines beliebigen Landes im Euroraum uneingeschränkt durch einen Euro in einem anderen Land substituiert werden kann. Das ist nur zu erreichen, indem die Unterschiede im Bankensektor, die zu nationaler Fragmentierung führen können, beseitigt werden. Und die wichtigsten Unterschiede sind in diesem Zusammenhang die Art der Bankenaufsicht und, falls erforderlich, die Art der Abwicklung durch die nationalen Behörden.
Wir verlagern diese Funktionen somit auf die europäische Ebene, damit der einheitlichen Währung ein einheitliches Bankensystem gegenübersteht. Dies steht im Einklang mit der positiven Definition von Souveränität, die ich zuvor angeführt habe: eine echte Bankenunion kann den Bürgerinnen und Bürgern mehr Vertrauen in ihre Währung vermitteln, als unterschiedliche nationale Ansätze dies könnten.
Darüber hinaus kommt hier ein bedeutender positiver Rückkopplungseffekt zum Tragen. Der Entwicklung vom Binnenmarkt zur einheitlichen Währung und schließlich zur Bankenunion liegt eine gewisse Logik zugrunde; die Bankenunion wiederum unterstützt den Binnenmarkt. Bei einer Fragmentierung des Bankensystems nimmt nicht nur die Einheitlichkeit des Geldes Schaden, auch die Wettbewerbsbedingungen werden untergraben. Grund hierfür ist, dass eine Fragmentierung zu unterschiedlichen Bankkreditzinsen in den einzelnen Ländern führt, so wie wir es in den letzten Jahren beobachten konnten.
Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Es gibt per se keinen Grund, warum die Kosten der Kreditaufnahme für ein spanisches Unternehmen und ein niederländisches Unternehmen gleich sein sollten. Wenn das Geschäftsumfeld der beiden Unternehmen unterschiedlich ist, dann kann sich dies auf das jeweilige Kreditrisiko und somit auf den Kreditzins auswirken.
In einem Binnenmarkt sollte ein spanisches Unternehmen allerdings in der Lage sein, für einen Kredit bei einer spanischen oder einer niederländischen Bank dieselben Konditionen zu erhalten. Wenn dies nicht der Fall ist, wenn die Risikoprämie, die ein Bankkunde in einem Land zu zahlen hat, nicht idiosynkratisch, sondern systemisch ist, dann gibt es keinen echten Binnenmarkt für Kapital mehr. Der Standort würde eine Rolle spielen. Dies soll mit der Bankenunion rückgängig gemacht werden.
Da in Europa über zwei Drittel der Außenfinanzierung der Unternehmen über Bankkredite erfolgt, ist bei uns eine solche Bankenunion sogar von noch größerer Bedeutung als in den Vereinigten Staaten. Bei kleinen und mittleren Unternehmen liegt dieser Anteil sogar noch höher. In den Vereinigten Staaten hingegen machen Bankkredite nur etwa ein Drittel oder sogar noch weniger der Außenfinanzierung von Unternehmen aus. Eine Bankenunion ist folglich auch für die Realwirtschaft des Euroraums von entscheidender Bedeutung.
Nun drängt sich die berechtigte Frage auf: wenn eine Bankenunion so wichtig ist, warum wurde dies dann erst in den letzten Jahren offensichtlich?
Der Hauptgrund ist, dass nicht erkannt wurde, dass es im Euroraum zu einer Fragmentierung der Finanzmärkte kommen könnte. Politische Entscheidungsträger und Beobachter erkannten nicht in vollem Umfang, wie divergierende Fundamentaldaten in den einzelnen Volkswirtschaften auf das Bankensystem durchschlagen könnten. Dies gilt vor allem im Hinblick auf Staatsanleihen und das Wechselspiel zwischen Staatsschulden und angeschlagenen Banken.
Mit Sicherheit kann eine Bankenunion erheblich dazu beitragen, den in Europa derzeitig zu beobachtenden Teufelskreis zwischen Staaten und Banken zu durchbrechen. Auch die Regierungen stehen klar in der Pflicht, sicherzustellen, dass Staatsanleihen im Finanzsystem ihre vorgesehene Funktion als risikofreie und sichere Anlage erfüllen. Nun möchte ich noch kurz auf die Fiskalpolitik eingehen.
Die Implikationen für die Fiskalpolitik
Dass die Regierungen der Euro-Länder bei der Haushaltskonsolidierung deutliche Fortschritte gemacht haben und dadurch ein Teil des Länderrisikos im Finanzsystem eliminiert werden konnte, ist zu begrüßen. Das Primärdefizit des Euroraums ist von 3,5 % des BIP im Jahr 2009 auf rund 0,5 % im Jahr 2012 gesunken. In den Vereinigten Staaten belief es sich 2012 auf etwa 6 % des BIP.
Allerdings müssen wir die zeitliche Konsistenz gewährleisten. Wir alle wissen, welche Erfahrungen wir in den ersten zehn Jahren seit Bestehen des Euro gemacht haben. Die im Maastrichter Vertrag verankerten Haushaltsvorschriften waren nicht verbindlich genug, und auch die Marktdisziplin hat nicht wirksam funktioniert. [5]
Aus diesem Grund plädiert die EZB schon seit Langem dafür, im Fiskalbereich wirksamere Regeln einzuführen. Wir sind davon überzeugt, dass diese langfristig für die Stabilität der Gemeinschaftswährung von entscheidender Bedeutung sind. Daher ermutigt mich die Tatsache, dass die politischen Entscheidungsträger in Europa bedeutende Schritte zur Stärkung der gemeinsamen Fiskalregeln unternommen haben.
Diese Schritte umfassen neue Arten des Umgangs mit jenen Ländern, die Empfehlungen der Europäischen Kommission nicht einhalten. So erhielt die Kommission das Recht, nationale Haushaltspläne zu prüfen, bevor diese den nationalen Parlamenten vorgelegt werden – eine Befugnis, welche die US-Regierung gegenüber den Bundesstaaten nicht hat. Zudem werden Regeln zur Gewährleistung eines ausgeglichenen Haushalts in die Verfassungen oder entsprechenden Rechtsdokumente der Länder aufgenommen. Wir freuen uns auf die vollständige und transparente Umsetzung dieses neuen Systems.
Bis zu einem gewissen Grad stellen diese Veränderungen eine Übertragung von Zuständigkeiten auf die europäische Ebene dar. Doch wie im Fall der Bankenunion sehe ich dies nicht als einen Souveränitätsverlust. Meiner Auffassung nach ist eine Stärkung der Fiskalsäule, durch die die fiskalischen Maßnahmen an Glaubwürdigkeit gewinnen, vielmehr eine Möglichkeit, politische Effektivität wiederherzustellen: Zum einen für die Union als Ganzes, da die Länder weniger von Übertragungseffekten betroffen sind, die aus prekären Haushaltslagen in einem integrierten Finanzmarkt resultieren, und zum anderen auch für die einzelnen Mitgliedstaaten.
Die Fähigkeit zur Stabilisierung der Haushaltslage durch automatische Stabilisatoren ist gemindert, wenn Regierungen in der Talsohle des Konjunkturzyklus nicht in der Lage sind, ein Defizit aufzuweisen – oder anders gesagt, wenn sich die Bonität eines Landes so sehr verschlechtert, dass seine Schuldtitel nicht mehr als sichere Anlagen gelten. Falls die Kreditwürdigkeit des Staates Schaden genommen hat und sich ähnlich wie jene des privaten Sektors verhält, steigen die relativen Kosten der Kreditaufnahme der betreffenden Regierung genau dann, wenn diese finanzielle Mittel aufnehmen muss.
Dies kann man als den eigentlichen Souveränitätsverlust betrachten. Dadurch sind Regierungen dann nicht mehr in der Lage, sich der üblichen fiskalischen Maßnahmen zu bedienen, um die Gesamtwirtschaft zu stabilisieren. Schritte, die das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit des Staates wiederherstellen – wie beispielsweise glaubwürdigere Haushaltsregeln –, versetzen somit Regierungen wieder in die Lage, jene Aufgaben zu erfüllen, die ihnen nach Auffassung der Bürgerinnen und Bürger obliegen.
In einer Währungsunion, in der die Last der makroökonomischen Stabilisierung nicht gänzlich auf die Zentralbank übertragen werden kann, ist dies von besonderer Bedeutung. Unser geldpolitisches Mandat besteht in der Gewährleistung von Preisstabilität auf mittlere Sicht für das gesamte Euro-Währungsgebiet. Die Fiskalpolitik muss idiosynkratische oder asymmetrische Schocks auf Länderebene abfedern.
Da die Fiskalpolitik im Euroraum – anders als in den Vereinigten Staaten – dezentralisiert ist, erfolgt bei uns eine solche Stabilisierung vollständig auf subföderaler (d. h. nationaler) Ebene. Bei glaubwürdigen Fiskalregeln und Institutionen besteht aber auf nationaler Ebene ein großer Spielraum für die Erfüllung dieser Aufgabe.
Ausblick
Insgesamt stärken die derzeit im Eurogebiet stattfindenden Veränderungen die Robustheit unserer Währungsunion. Auf nationaler Ebene tragen die Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen dazu bei, dass die meisten Länder eine tragfähigere Auslandsposition erreichen.
Auf europäischer Ebene nähern wir uns einem Gleichgewicht der Kompetenzen. Zusammen genommen dürfte dies eine wirksamere Stabilisierung herbeiführen.
Allerdings wäre es unangebracht, auszuschließen, dass das Eurogebiet sich im Laufe der Zeit in Richtung eines neuen Gleichgewichts bewegen wird. Die Integration ist ein dynamischer Prozess, und wir müssen uns in Bezug auf das letztliche Ziel eine gewisse Bescheidenheit bewahren. Wenn wir das Beispiel der Vereinigten Staaten betrachten, so stellen wir fest, dass dort die Union in mehreren Schritten gestärkt wurde, wobei jeder der Schritte schließlich zum nächsten führte. Auf die Errichtung des Federal Reserve System im Jahr 1913 folgte beispielsweise 20 Jahre später die Gründung der Federal Deposit Insurance Corporation, einer tragenden Säule der US-amerikanischen Bankenunion. Auch der Bundeshaushalt entwickelte sich in dieser Zeit bedeutend weiter.
In Europa durchlaufen wir heute in vielfacher Hinsicht einen analogen Prozess. Nicht in dem Sinne analog, dass das Ziel dasselbe wäre. Das wissen wir nicht. Analog ist jedoch der Leitgedanke. Wie die Vereinigten Staaten verfolgen wir einen pragmatischen Ansatz, bei dem uns einerseits der Wunsch nach politischer Effektivität und andererseits der Wunsch nach der Erfüllung jener Aufgaben, die einer Regierung nach Ansicht der Bevölkerung obliegen, leitet. Zu gegebener Zeit ziehen wir dann die daraus resultierenden politischen Schlussfolgerungen.
In der schweren Zeit der Krise blickten viele Kommentatoren auf dieser Seite des Atlantiks auf das Eurogebiet und waren der Überzeugung, dass es scheitern würde. Sie lagen mit ihrer mittelfristigen gesamtwirtschaftlichen Sicht falsch. Seit 1999 wurden im Eurogebiet 600 000 Arbeitsplätze mehr geschaffen als in den Vereinigten Staaten. Während der Krise stieg die Arbeitslosenquote im Euroraum stärker als in den Vereinigten Staaten, die Beschäftigungsquote in den USA ging hingegen stärker zurück als im Eurogebiet, was einen Vergleich der Zahlen erschwert.
In einem ganz entscheidenden Punkt irrten sich die Kommentatoren allerdings, denn sie unterschätzten, wie stark die Europäer mit ihrer Währung verbunden sind. So betrachteten sie den Euro fälschlicherweise als festes Wechselkursregime, wenngleich er in Wirklichkeit eine irreversible Gemeinschaftswährung ist. Der Euro ist irreversibel, weil er aus der Verpflichtung der europäischen Staaten zu einer stärkeren Integration entstand – einer Verpflichtung, die – wie das Nobelpreiskomitee letztes Jahr anerkannte – ihre Wurzeln in unserem Wunsch nach Frieden, Sicherheit und Überwindung nationaler Unterschiede hat.
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[1]Es gibt umfangreiche Fachliteratur über die Entwicklung von Märkten und den Schutz des Eigentumsrechts und die Rechtsstaatlichkeit. In einem Umfeld mit klar definierten und geschützten Eigentumsrechten konzentrieren sich die Aktivitäten von Unternehmern eher auf Innovationen statt auf Verdrängung. Siehe z. B. den bereits vor einiger Zeit erschienenen Beitrag von W. J. Baumol (1990): Entrepreneurship: Productive, unproductive, and destructive, Journal of Political Economy, 98, 5, S. 893-921.
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[2]R. Nurkse (1944). International Currency Experience. Genf: Völkerbund.
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[3]R. Mundell, Optimum Currency Areas, Columbia University (Langfassung einer Rede an der Universität Tel Aviv, 5. Dezember 1997).
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[4]Siehe unter anderem P. Lane (2006): The real effects of EMU, Diskussionspapier des CEPR Nr. 5536. Dem Papier zufolge hat die WWU zu einer größeren Wirtschaftsintegration beigetragen, allerdings sind auch die internationalen Wirtschaftsbeziehungen erheblich enger geworden, sodass die relative Bedeutung des Handels innerhalb der WWU nicht drastisch zugenommen hat.
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[5]Hierzu möchte ich aus dem Delors-Bericht zitieren: „Marktkräfte können bis zu einem gewissen Grad disziplinierend wirken. […] Die von ihnen ausgehenden Beschränkungen fallen jedoch möglicherweise zu langsam und schwach oder zu unvermittelt und störend aus.“ Doch Bayoumi et al. (1995) liefern auf Grundlage von US-Daten einige Belege für die Wirksamkeit der Marktdisziplin; siehe T. Bayoumi, M. Goldstein und G. Woglom (1995): „Do credit markets discipline sovereign borrowers? Evidence from U.S. States“, Journal of Money, Credit and Banking, 27, 4, S. 1046-1059.