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Lehren aus der Krise für die Zukunft des Euroraums

Rede von Benoît Cœuré, Mitglied des Direktoriums der EZB, bei der Semaine des Ambassadeurs, Paris, 27. August 2015

Sehr geehrte Exzellenzen,

ich danke Ihnen herzlich für die Einladung zu dieser Veranstaltung. Hier im Ministerium, dem Ort, wo Robert Schuman am 9. Mai 1950 seine historische Erklärung abgegeben hat, versteht ein jeder, dass das europäische Projekt gleichermaßen ein wirtschaftliches und ein politisches Projekt ist.

Dasselbe gilt für den Euro. Die einheitliche Währung ist Ausdruck des politischen Strebens nach der Einigung Europas und zielt darauf ab, die Vorteile auszuschöpfen, die ein größerer und besser integrierter Wirtschaftsraum für Wachstum und Beschäftigung mit sich bringt.

Die aktuelle Krise stellt einen grundlegenden Prüfstein für die Fähigkeit unserer Währungsunion dar, dieses doppelte Ziel zu erreichen. Und mir scheint, dass es zwei Lehren gibt, die wir aus dieser Krise ziehen sollten.

Die erste ist, dass die Menschen in Europa und ihre Regierungen weitaus mehr an der einheitlichen Währung hängen als manche Beobachter geglaubt haben.

Und die zweite, dass unser institutionelles Rahmenwerk noch nicht ausreicht, um die Wirtschafts- und Währungsunion in wirtschaftspolitischer, haushaltspolitischer und finanzpolitischer Hinsicht zu vollenden. Gegenwärtig hat die EZB in diesen Bereichen keinen starken politischen Gegenpart. Wenn es uns nicht gelingt, unsere wirtschaftlichen und politischen Differenzen beizulegen, wird unsere Währungsunion unvollständig bleiben, in puncto Wohlstand hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben und vermutlich wiederholt mit Krisen konfrontiert werden.

Die Autoren eines kürzlich veröffentlichen Beitrags mit dem Titel „Monnet’s Error?“ konstatieren, dass das europäische Projekt zum Stillstand gekommen ist. Sie schreiben, dass niemand Rückwärtsschritte machen wolle, aber auch kein Interesse bestehe, sich vorwärts zu bewegen, ein Stillstand aus ökonomischer Sicht aber nicht tragbar sei. [1]

Über die große Herausforderung, die sich hieraus ergibt, möchte ich heute sprechen. Und ich möchte aufzeigen, was wir tun können, um sie zu bewältigen.

1. Das Paradoxon des Euro während der Krise

Zunächst einmal ist anzumerken, dass sich der Euro als eine Art Paradoxon erwiesen hat: Das Vertrauen in die gemeinsame Währung ist nach wie vor sehr hoch. Und dies, obwohl das Eurogebiet immer noch mit der Bewältigung der Krise beschäftigt ist und die Anfälligkeiten unserer wirtschaftlichen und politischen Union die Integrität des Euroraums mehrfach bedroht haben.

a) Vertrauen in die einheitliche Währung

Während der Krise haben manche Beobachter unterschätzt, wie groß die Unterstützung der Menschen und der Regierungen in Europa für den Euro ist.

Im Frühjahr 2015 sprach sich eine sehr deutliche Mehrheit der Bevölkerung des Eurogebiets für die gemeinsame Währung aus. [2] Von den Befragten im Euroraum befürworteten 69 % die Wirtschafts- und Währungsunion sowie den Euro, 25 % waren dagegen und 6 % hatten keine Meinung zu diesem Thema. Dieser Wert – 69 % – liegt nahe am höchsten Zuspruchswert (70 %), der seit 2004 bei dieser Frage verzeichnet wurde.

Auch die Länder des Euroraums haben bei verschiedenen Gelegenheiten ihr Bekenntnis zum Euro und ihre Entschlossenheit zum Erhalt unserer Währungsunion bekräftigt. Am 13. Juli 2015 haben sie deutlich gesagt, dass sie wollen, dass Griechenland Teil des Eurogebiets bleibt. Und das Euro-Währungsgebiet ist nicht nur nicht geschrumpft, wie einige vorausgesagt hatten, sondern es ist sogar gewachsen. Die Zahlen sprechen für sich – seit Beginn der Finanzkrise ist die Anzahl der Mitgliedsländer des Euroraums um fast 50 % gestiegen, von 13 auf 19. [3]

Auch das Vertrauen der übrigen Welt in den Euro ist ungebrochen: Er spielt auf internationaler Ebene nach wie vor eine zentrale Rolle und bleibt eine der beiden wichtigsten Währungen. [4] Sein Anteil an den weltweiten Währungsreserven ist seit Ausbruch der Krise im Jahr 2007 weitgehend unverändert geblieben. [5] 2015 wurde der Euro, vor dem Hintergrund der historisch niedrigen Zinsen im Euroraum, verstärkt als internationale Finanzierungswährung verwendet. [6] Und im April 2015 hat Mexiko als erster Staat eine auf Euro lautende Anleihe mit einer Laufzeit von 100 Jahren begeben.

Dieses Vertrauen in den Euro lässt sich durch mehrere unterschiedliche Faktoren erklären. Zunächst einmal ist unsere einheitliche Währung fester Bestandteil der europäischen Identität. [7] Außerdem gilt sie aufgrund der Wahrung der Kaufkraft als Stabilitätsgarant, und sie bietet Schutz gegen das Risiko von Wechselkurskrisen. Dieser Aspekt hängt unmittelbar mit der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik der EZB zusammen. Diese hat ihre Fähigkeit, zur Gewährleistung von Preisstabilität zu handeln, unter Beweis gestellt. Schließlich erwachsen aus einer Gemeinschaftswährung auch gemeinsame Interessen, sowohl in finanzieller als auch in geopolitischer Sicht.

Auf dieses Vertrauen in den Euro können wir zur Stärkung unserer Währungsunion bauen. Das grundlegende Ziel der EZB ist der Schutz des Euro. Dies erklärt, warum wir konsequent an der Erfüllung unseres Mandats festhalten. Letzteres besteht darin, die Inflation unter, aber nahe 2 % zu halten, was all unsere geldpolitischen Entscheidungen erklärt, die wir während der Krise getroffen haben.

b) Die Anfälligkeiten unserer Wirtschaftsunion

Derzeit mangelt es allerdings an Vertrauen in unsere Fähigkeit, die wirtschaftlichen Vorteile unserer Währungsunion voll und ganz nutzen und für Stabilität sowie Wachstum im Eurogebiet sorgen zu können. [8] In der bereits erwähnten Eurobarometer-Umfrage vom Frühjahr 2015 waren 45 % der Befragten im Euroraum der Meinung, dass die schlimmste Phase der Krise noch bevorsteht.

Durch die Krise offenbarte sich, dass in einigen Ländern des Euroraums die Schutzvorkehrungen nicht ausreichten und somit übermäßige Ungleichgewichte und Anfälligkeiten entstehen konnten: Es wurde in den Wohnungsbau investiert anstatt in die produktive Wirtschaft, im Bankensektor wurden übermäßige Risiken eingegangen und die externe Verschuldung nahm massiv zu. Die Mitgliedstaaten des Euroraums haben die Vorteile des Euro als selbstverständlich hingenommen, ohne sich gleichzeitig zur gemeinsamen Verantwortung zu bekennen. [9] Die negativen Folgen dieses Prozesses waren während der Staatsschuldenkrise im Eurogebiet mit voller Wucht zu spüren, und selbst heute, fünf Jahre nach Ausbruch der Krise, dämpfen sie noch immer die Konjunktur und beeinträchtigen die Beschäftigung.

Dies hat nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Konsequenzen. In den am stärksten betroffenen Ländern hat eine Umkehr der in Pro-Kopf-BIP bemessenen Konvergenz stattgefunden, was Zweifel an einem der grundlegenden Ziele der einheitlichen Währung aufkommen lässt. [10] Die junge Bevölkerung ist stärker von Arbeitslosigkeit betroffen, wodurch eine verlorene Generation entsteht. Zudem zeigen aktuelle Studien, dass steigende Schulden und Arbeitslosenzahlen in einem Land des Euroraums auch in anderen Mitgliedstaaten Auswirkungen auf das Vertrauen in die EU haben. [11] Hierbei handelt es sich um einen zusätzlichen Aspekt der wechselseitigen Verflechtungen, die aufgrund der einheitlichen Währung zwischen den Ländern der Währungsunion entstanden sind.

c) Eine unzureichende politische Reaktion

Aus diesem Grund haben wir alle ein Interesse an der Beseitigung der Ungleichgewichte und der wirtschaftlichen Anfälligkeiten im Euroraum. Allerdings gestaltete sich die politische Reaktion während der Krise aufgrund mehrerer Faktoren schwierig.

Inmitten der Krise mussten dringend neue Instrumente entwickelt werden. Bei einigen von ihnen, insbesondere den Finanzhilfeprogrammen, trägt der Entscheidungsmechanismus nicht zur Entwicklung einer gemeinsamen Verantwortung für Maßnahmen bei, die die Zukunft des Eurogebiets betreffen. Dieser zwischenstaatliche Entscheidungsprozess ist durch endlose Verhandlungen gekennzeichnet, insbesondere wenn es um mögliche Umverteilungen geht. Zudem werden durch ihn die Unterschiede zwischen den Standpunkten der Mitgliedstaaten deutlich. Dadurch läuft er Gefahr, einen Konflikt zwischen dem berechtigten demokratischen Interesse einzelner Länder heraufzubeschwören, ohne im Gegenzug auf europäischer Ebene eine ausreichende Legitimation zu bieten.

Die Raison d'Être dieses Ansatzes ist freilich, dass alle Regierungen die Möglichkeit haben sollen, sich mit gemeinsamen Entscheidungen zu identifizieren. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass dies nicht gewährleistet, dass die Regierungen diese Entscheidungen auf nationaler Ebene vertreten. Hinzu kommt, dass dies eine Polarisierung der Diskussion auf europäischer Ebene nicht verhindert und auch der Versuchung, nationale Standpunkte zu vertreten, nicht entgegenwirkt. Und sie erleichtert auch nicht die Erarbeitung einer auf den gemeinsamen Standpunkt des Euroraums gestützten Wachstumsstrategie, welche die mit nationalen Anfälligkeiten verbundenen systemischen Risiken und die Interaktion zwischen diesen verschiedenen Ebenen berücksichtigt. [12]

Die Beibehaltung dieses Ansatzes würde uns also zu einer Zukunft mit geringem Wachstum und immer wieder aufflammenden Krisen verdammen. In einer Zeit, in der sich das Weltwirtschaftswachstum möglicherweise verlangsamt, ist es unsere gemeinsame Verantwortung, dem entgegenzusteuern.

2. Erneuerung des europäischen Projekts

Wir müssen deutlich machen, dass der Euroraum ein unumkehrbares Projekt ist und nicht nur ein System fester Wechselkurse. Dies ist umso wichtiger, da die jüngsten Griechenland-Verhandlungen sozusagen den Geist aus der Flasche gelassen haben, nämlich, dass ein Land (auch vorübergehend) aus dem Euroraum ausscheiden könnte. Ein Austritt würde Wirtschaftsakteure unweigerlich zu der Frage veranlassen, wer wohl als nächstes an der Reihe ist – mit all den potenziell destabilisierenden Folgen, die derartige Spekulationen nach sich ziehen könnten. Der Geist wird erst dann für immer in seine Flasche zurückkehren, wenn feststeht, dass diese Gefahr endgültig gebannt ist.

Wir müssen das Vertrauen in die einheitliche Währung nutzen, um Institutionen aufzubauen, die den Zusammenhalt unserer wirtschaftlichen und politischen Union stärken.

Um dies zu erreichen, müssen wir das Gefühl der gemeinsamen Verantwortung wieder mit neuem Leben erfüllen. Dazu ist es notwendig, die Ziele der politischen und wirtschaftlichen Integration mittelfristig besser zu definieren und unverzüglich mit ihrer Umsetzung zu beginnen. Und da dies ohne den Rückhalt der Bürgerinnen und Bürger Europas nicht funktionieren wird, müssen wir zeitnah auf ihre Sorgen reagieren, indem wir die Arbeitslosigkeit senken und den Aufschwung festigen.

a) Unsere gemeinsamen Ziele

Seit 2010 ist die Integration des Eurogebiets unter dem Druck der Krise vorangeschritten, wobei Einigungen häufig in letzter Minute erzielt wurden. Wir alle erinnern uns an Jean Monnets Worte: „Europa wird in Krisen geschmiedet werden und wird das Ergebnis der Lösungen sein, die wir für diese Krisen finden“. [13] Doch manche dieser in Eile improvisierten Lösungen müssen weiterentwickelt werden. So ist etwa der Europäische Stabilitätsmechanismus eine beeindruckende Errungenschaft und könnte der Grundpfeiler eines „Schatzamtes für den Euroraum“ werden – vorausgesetzt, er wird unter das Dach der EU-Verträge und unter die Kontrolle des Europäischen Parlaments gestellt. [14]

Das Modell „Integration durch Krise“ hat sich als effektiv erwiesen, findet in der Bevölkerung jedoch kaum noch Unterstützung (falls es die jemals hatte). Der Euro muss also mit einer positiven „Geschichte“ verknüpft und mit den notwendigen Instrumenten ausgestattet werden, wobei zu gewährleisten ist, dass Letztere demokratisch legitimiert sind.

Welche gemeinsamen Ziele hat Europa? Welche öffentlichen Güter erfordern ein gemeinsames Handeln? Derartige Überlegungen gehen ganz klar über das rein Ökonomische hinaus. Sie tragen auch Schlüsselfaktoren der Stärke wie der Technologie, Energie und sogar Außen- und Sicherheitspolitik Rechnung. In Föderationen sind öffentliche Investitionen in solche gemeinsamen Güter zentralisiert. [15] Hier in der Europäischen Union sind wir noch weit davon entfernt. Dennoch stehen wir vor den gleichen internationalen Herausforderungen.

Wir stellen uns diese Fragen, um herauszufinden, was wir gemeinsam besser machen müssen. Aber auch, um zu ermitteln, in welchen Bereichen politische Maßnahmen auf lokaler oder nationaler Ebene wirksamer und legitimer sind, und so doppelte Zuständigkeiten zu vermeiden. [16]

Welche gemeinsamen Wirtschaftsziele sollten wir verfolgen? Der „Bericht der fünf Präsidenten“ [17] versucht, diese Frage aus Sicht unserer Währungsunion zu beantworten. Sie ist jedoch auch für den Binnenmarkt und somit für die Europäische Union insgesamt von Bedeutung.

In ihrem Bericht betonen die fünf Präsidenten, dass wir die Stabilität unserer Volkswirtschaften stärken müssen, indem wir insbesondere innerhalb der Währungsunion Solidaritätsmechanismen entwickeln und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Staaten und die Wirtschaftsakteure verantwortungsvoll handeln. Genau dies ist im Rahmen der Bankenunion geschehen, und genau dies muss auch für die Kapitalmarktunion unser Ziel sein. [18]

Ebenso setzt eine größere Risikoteilung im Bereich der Staatsfinanzen eine hinreichende wirtschaftliche Konvergenz zwischen den teilnehmenden Ländern voraus. Solidarität darf aber nicht zu einem System dauerhafter Transfers führen, denn dies ist im Gründungsvertrag der Währungsunion nicht vorgesehen. Anders gesagt: Es geht darum, einen neuen europäischen Gesellschaftsvertrag zu schaffen. Dieser kann allein unter John Rawls` „Schleier des Nichtwissens“ ausgestaltet werden. [19]

Wenn also mehr Risiko geteilt wird, setzt dies verantwortungsbewusste Haushaltspolitiken voraus, die sowohl das Interesse der einzelnen Länder als auch das ihrer Nachbarstaaten berücksichtigen. Um es deutlich zu sagen: Wir können nicht für ein Europa der Solidarität eintreten und gleichzeitig meinen, die Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder des Euroraums sei allein Sache der jeweiligen Parlamente. Diesen Widerspruch hat die Krise vollständig aufgedeckt.

Außerdem wären Effizienzgewinne möglich, wenn wir bestimmte Ressourcen im Rahmen des Binnenmarktes sukzessive bündeln würden, soweit dies durch Größen- und Verbundvorteile, Netzwerkeffekte und Externalitäten gerechtfertigt ist. Aus diesen Gründen wurde 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl errichtet, und heute steht diese Logik hinter dem Juncker-Plan sowie den Bemühungen zur Schaffung einer Energieunion und eines digitalen Binnenmarktes.

Die gemeinsame Durchführung eines politischen Projekts und einer Wirtschaftsstrategie setzt auch die Stärkung unserer politischen Union voraus.

Um das im Hinblick auf die Exekutive bestehende Defizit [20] zu beseitigen – oder anders ausgedrückt, um die bereits angesprochenen Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung zu vermindern –, sollten wir uns dafür einsetzen, dass für die Zukunft des Euroraums relevante Entscheidungen in auf europäischer Ebene demokratisch beaufsichtigten Institutionen mit europäischem Mandat gemeinsam getroffen werden. Wie wäre der EZB-Rat mit der Krise umgegangen, wenn er lediglich eine lose, aus 19 Zentralbankpräsidenten bestehende, Gruppe wäre, die Beschlüsse im Konsens fasst?

Wie bereits Jean-Claude Trichet [21] habe auch ich mich für die Schaffung eines Finanzministeriums für den Euroraum unter der Aufsicht des Europäischen Parlaments ausgesprochen. Dieses Ministerium könnte dafür zuständig sein, wirtschaftliche Ungleichgewichte und Haushaltsungleichgewichte zu verhindern, Krisen im Eurogebiet zu bewältigen und die im Bericht der fünf Präsidenten anvisierte haushaltspolitische Kapazität zu steuern sowie die Regierungen des Euroraums in internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen zu vertreten.

b) Kurzfristige Handlungsmöglichkeiten

Keiner meiner bisherigen Vorschläge lässt sich ohne die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger Europas umsetzen. Was erwarten diese? Dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht und sich das Wachstum festigt. Es ist verlockend, dies dem niedrigen Ölpreis und der akkommodierenden Geldpolitik der EZB zu überlassen. Geldpolitik kann wachstumsfördernd sein, aber kein dauerhaftes Wachstum schaffen. Und die Governance im Euroraum wird durch überzogene Forderungen an die Zentralbank nicht wirksamer und legitimer – ganz im Gegenteil.

Auf kurze Sicht halte ich es für wesentlich, die Bankenunion zu vollenden und insbesondere frühzeitig einen gemeinsamen Sicherungsmechanismus für den einheitlichen Abwicklungsfonds sowie die schrittweise Einführung eines europäischen Einlagensicherungssystems zu vereinbaren. Gleichzeitig muss durch Reformen gewährleistet werden, dass die Wechselbeziehung zwischen der Solvenz von Banken und Staaten ein für alle Mal beseitigt wird. Zudem brauchen wir, wenn der Euroraum eine einzige Volkswirtschaft ist und nicht die Summe von 19 Volkswirtschaften, eine an unseren festgestellten strukturellen Schwächen orientierte gemeinsame Wachstumsstrategie. Und es muss eine kollektive Debatte über die notwendigen Reformen stattfinden. Dabei muss es um die Schlüsselbegriffe „Produktivität“ und „Beschäftigungsquote“ (Positivsummenspiele) und nicht um „Wettbewerbsfähigkeit“ (Nullsummenspiel) gehen. Die teilnehmenden Länder werden das Wachstum im Euroraum nicht dadurch stützen, dass sie um die Marktanteile der übrigen Länder wetteifern.

Schlussbemerkungen

Nichts am Status quo ist unvermeidlich, doch um ihn zu überwinden, müssen wir den Geist von Robert Schuman wiederentdecken. 1950 hatte dieser französische Außenminister die politische Courage, Deutschland vorzuschlagen, die wirtschaftlichen Ressourcen beider Länder [22] zusammenzulegen und die Hoheit darüber in einer gemeinsamen Institution zu bündeln. [23] Dies war die Geburtsstunde der europäischen Integration.

Wir dürfen nicht vergessen, was für eine kraftvolle Triebfeder ein gemeinsames Anliegen ist. Herbert Blankenhorn, der damalige diplomatische Berater Konrad Adenauers, hat in seinem Tagebuch eine Äußerung des Kanzlers vom 24. Mai 1950 notiert und den Optimismus festgehalten, den der Schuman-Plan in diesem entfacht hatte: „Wenn Furcht beseitigt werde, werde Europa wie ein genesender Kranker seine Kräfte wiederfinden.“ [24]

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

  1. [1]Guiso, L., Sapienza, P. und Zingales, L., „Monnet’s Error?“, Vortrag im Rahmen des Brookings Panel on Economic Activity, Herbst 2014.

  2. [2]Siehe Standard-Eurobarometer 83, Frage QA18.1.

  3. [3]Malta und Zypern führten 2008 den Euro ein, die Slowakei folgte ein Jahr darauf. Der Beitritt Estlands erfolgte 2011, 2014 stieß Lettland hinzu, und seit 2015 wird in Litauen, dem somit jüngsten Mitgliedstaat, mit dem Euro bezahlt.

  4. [4]Siehe EZB, The international role of the euro, Juli 2015.

  5. [5]Bei Zugrundelegung konstanter Wechselkurse ist der Anteil des Euro an den globalen Währungsreserven seit Ende 2007 um 1 Prozentpunkt auf 22 % gesunken, während beim US-Dollar ein Rückgang um 5 Prozentpunkte auf 63 % verzeichnet wurde. Somit ist die Abnahme des Anteils des Euro unter Zugrundelegung der aktuellen Wechselkurse im Grunde auf die Abwertung der einheitlichen Währung in diesem Zeitraum zurückzuführen. Im Jahr 1998 betrug der Anteil aller nationalen Vorgängerwährungen des Euro zusammen 15 %.

  6. [6]Fast 30 % der Neuemissionen lauten auf Euro.

  7. [7]In einer Ende 2014 im Auftrag des Europäischen Parlaments durchgeführten Eurobarometer-Umfrage gaben 50 % der Befragten im Eurogebiet an, dass der Euro das wichtigste Element der europäischen Identität sei – noch vor Demokratie und Freiheit (49 %) sowie Kultur und Geschichte. Siehe Eurobarometer des Europäischen Parlaments, 82.4, Frage QP11, Januar 2015.

  8. [8]Bei der Eurobarometer-Umfrage des Europäischen Parlaments waren 51 % der Umfrageteilnehmer der Ansicht, der Euro habe die Negativauswirkungen der Krise nicht abgemildert. Und in einer von Opinium Research im Zeitraum vom 29. Juni bis zum 10. Juli 2015 durchgeführten Befragung attestierten 63 % der Teilnehmer (befragt wurden über 6 000 Menschen aus Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Italien, Spanien und Portugal) Brüssel einen schlechten Umgang mit der griechischen Schuldenkrise.

  9. [9]Die übermäßige Inanspruchnahme der Vorzüge einer Währungsunion ist, wie jene natürlicher Ressourcen, ein Beispiel für die „Tragik der Allmende“. Siehe Hardin, G., „The Tragedy of Commons“, Science, 13. Dezember 1968.

  10. [10]Reale Konvergenz im Euro-Währungsgebiet: Empirische Evidenz, Theorie und politische Implikationen, Wirtschaftsbericht, Ausgabe 5, EZB, Mai 2015.

  11. [11]Ioannou, D., Jamet, J.-F. und Kleibl, J., Spillovers and Euroscepticism, Working Paper Series, Nr 1815, EZB, Juni 2015.

  12. [12]Diese Punkte wurden im Rahmen eines unlängst mit Le Monde gehaltenen Interviews angesprochen, das am 27. Juli 2015 veröffentlicht wurde.

  13. [13]Monnet, J., Mémoires, Fayard, 1976.

  14. [14]Der „Bericht der fünf Präsidenten“ („Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“, ein von Jean-Claude Juncker in enger Zusammenarbeit mit Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz erarbeiteter Bericht, 22. Juni 2015) empfiehlt, die zwischenstaatlichen Lösungen (den Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, den Euro-Plus-Pakt, die zwischenstaatliche Vereinbarung über den einheitlichen Abwicklungsfonds und den Europäischen Stabilitätsmechanismus) in den Rechtsrahmen der EU zu integrieren.

  15. [15]Cottarelli, C. und Guerguil, M. (Hrsg.), Designing a European Fiscal Union: Lessons from the Experience of Fiscal Federations, Routledge, 2014.

  16. [16]Vor allem in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird der Vergleich zwischen der Heterogenität von Präferenzen und Situationen einerseits und den mit verschiedenen Politiken verbundenen Externalitäten andererseits als Kriterium gebraucht. Außerdem wird ein dynamischer Ansatz unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und politischen Faktoren von Konvergenz und Divergenz gefordert. Siehe insbesondere Alesina, A. und Wacziarg, R., „Is Europe Going Too Far?“, Journal of Monetary Economics, Carnegie-Rochester Conference Volume, 1999, S. 1–42, Cœuré, B. und Pisani-Ferry, J., „The governance of the European Union’s international relations: how many voices?“, in Sapir, A. (Hrsg.), Fragmented Power: Europe and the Global Economy, Bruegel, 2007, und Jamet, J.-F., „The Optimal Assignment of Prerogatives to Different Levels of Government in the EU“, Journal of Common Market Studies, 49, 2011, S. 563–584.

  17. [17]„Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden“, ein von Jean-Claude Juncker in enger Zusammenarbeit mit Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz erarbeiteter Bericht, 22. Juni 2015.

  18. [18] Schaffung einer Kapitalmarktunion, Beitrag des Eurosystems zum Grünbuch der Europäischen Kommission, 21. Mai 2015.

  19. [19]Rawls, J., A Theory of Justice, Harvard University Press, 1971. Siehe auch Cœuré, B., „Revisiting the European social contract“, Vortrag bei der Europa-Konferenz in Harvard: Europe 2.0 – Taking The Next Step, Cambridge, 2. März 2013.

  20. [20]Chopin, T., „Vers un véritable pouvoir exécutif européen: de la gouvernance au gouvernement“, Question d’Europe Nr. 274, Robert Schuman Foundation, 15. April 2013, und Véron, N., „The Political Redefinition of Europe“, Eröffnungsrede zur Konferenz des schwedischen Finanzmarktausschusses FMK zum Thema „The European Parliament and the Financial Markets“, Stockholm, 8. Juni 2012.

  21. [21]„Europa voranbringen – Institutionen stärken“, Rede von Jean-Claude Trichet, Präsident der EZB, anlässlich der Entgegennahme des Internationalen Karlspreises 2011 in Aachen am 2. Juni 2011.

  22. [22]Kohle- und Stahlerzeugung.

  23. [23]„Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen; in einer Gestaltung, die für die Teilnahme anderer europäischer Länder offen ist.“ Erklärung des ehemaligen französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950.

  24. [24]Zitiert von Rieben, H., Nathusius, M., Nicod, F. und Camperio-Tixier, C., Un changement d’espérance: La Déclaration du 9 mai 1950, Stiftung Jean Monnet für Europa, European Research Centre, 2000, S. 251–253.

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