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Strukturreformen in Europa: von Zielen zu Fakten

Rede von José Manuel González-Páramo, Mitglied des Direktoriums der EZB
4. Deutsch-Spanisches Forum
Dritter Veranstaltungsteil:
Die Strategie von Lissabon – Kann und muss Europa seine Ziele erreichen?
(La estrategia de Lisboa ¿Puede y debe Europa alcanzar sus objetivos?)
Berlin, 5. Februar 2007

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine besondere Ehre, an diesem 4. Deutsch-Spanischen Forum teilnehmen zu dürfen. Zuallererst möchte ich mich jedoch ganz herzlich bei den beiden Vorsitzenden des Forums, Herrn Gerd Schulte-Hillen und Herrn Bernardo Cremades, sowie bei der Gemeinnützigen Stiftung Würth und der Fundación Rafael del Pino, für die Einladung zu dieser Veranstaltung bedanken.

Anlässlich der Eröffnung des 3. Deutsch-Spanischen Forums in Madrid im Dezember 2005 sagte der Präsident der Bundesrepublik Deutschland Horst Köhler im Zusammenhang mit der Strategie von Lissabon, die hier jetzt auch Thema ist: „Mir scheint: Europa hat keine Probleme mit Zielformulierungen – wohl aber bei der Verwirklichung von vereinbarten Zielen.“ Diese Worte sind die Quintessenz dessen, was sich in Europa hinsichtlich der Umsetzung besagter Strukturreformen zugetragen hat. Die Wirtschaftspolitiker der Europäischen Union, und insbesondere der Europäische Rat in seiner Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefs, haben schon vor einiger Zeit anerkannt, dass derartige Reformen dringend erforderlich sind, was zur Verabschiedung der so genannten „Strategie von Lissabon“ im Jahr 2000 führte. Dennoch waren die bei den Reformen erzielten Fortschritte unzureichend und ihre Umsetzung ging sehr langsam vonstatten, insbesondere wenn man die Dringlichkeit der Reformen und die mit der zögerlichen Umsetzung verbundenen Opportunitätskosten bedenkt. Die Überprüfung der Strategie im Jahr 2005 in Form des durch die hochrangige Sachverständigengruppe unter dem Vorsitz von Wim Kok erstellten Berichts stellte einen erneuten Versuch dar, Europa in die Lage zu versetzen, die Ziele nun endlich in die Realität umzusetzen.

Erlauben Sie mir, dass ich meine Gedanken zu diesem Thema anhand der folgenden Fragestellungen aufzeige: Weshalb sind Strukturreformen für Europa dringend erforderlich? Wie sehen die Reformen aus? Ist Europa diesmal in der Lage, die vorgegebenen Ziele zu erreichen?

Weshalb sind in Europa Strukturreformen erforderlich?

Die Notwendigkeit – oder besser gesagt die Verpflichtung, wie der Titel dieser Sitzung besagt –, in Europa Strukturreformen durchzuführen, ergibt sich vor allem aus der Analyse des Wachstumsverlaufs der europäischen Volkswirtschaften in den letzten Jahren, insbesondere im Vergleich zu den anderen entwickelten Volkswirtschaften wie den Vereinigten Staaten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in den Ländern Europas eine Entwicklungsphase ein, in der sich das Wohlstandsniveau der europäischen Bürgerinnen und Bürger allmählich dem der Vereinigten Staaten annäherte. Diese Entwicklung wurde in den darauf folgenden Jahrzehnten unterbrochen und kehrte sich in den letzten Jahren sogar um. Tatsächlich lag die durchschnittliche Jahreswachstumsrate der Volkswirtschaft des Euroraums pro Kopf betrachtet zwischen 1996 und 2006 bei 2,1 % gegenüber 2,4 % in den Vereinigten Staaten, was bedeutet, dass sich der Abstand zwischen den beiden Volkswirtschaften jedes Jahr um 0,3 Prozentpunkte vergrößerte.

Innerhalb des Wachstumsverlaufs des Eurogebiets trat in den letzten Jahren – neben all den anderen Faktoren – der gesunkene Beitrag der Produktivität besonders deutlich zu Tage, der als wichtigste Variable für das langfristige Wirtschaftswachstum gilt. Seit 1996 lag das Wachstum dieser Variable, gemessen am realen BIP je geleistete Arbeitsstunde, im Jahresdurchschnitt bei 1,4 %, was weit unter dem Vergleichswert der Vereinigten Staaten (2,5 %) lag und außerdem einen deutlichen Abstand zu den 2,1 % aufweist, die in den Volkswirtschaften des Euroraums im Zeitraum von 1990 bis 1995 verzeichnet wurden.

Welche Faktoren können zur Erklärung des unterschiedlichen Produktivitätswachstums im Euro-Währungsgebiet und in den Vereinigten Staaten herangezogen werden?

Ein erster Faktor ist möglicherweise eine stärkere Zunahme der Kapitalintensivierung (Steigerung des Kapitaleinsatzes je geleistete Arbeitsstunde) in den Vereinigten Staaten, was höhere Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) insbesondere im Dienstleistungssektor widerspiegeln würde. Konkret zeigt sich bei der Analyse der genauer aufgeschlüsselten Produktivitätsentwicklung, dass diese im Euro-Währungsgebiet im Vergleich zu den Vereinigten Staaten im Dienstleistungssektor besonders gering ausfiel; dieser Sektor umfasst den Groß- und Einzelhandel ebenso wie beispielsweise Finanzdienstleistungen. Auch haben die Produktionssektoren der Informations- und Kommunikationstechnologien in Europa deutlich weniger Gewicht.

Zweitens sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung – eine Variable, die im Allgemeinen in Zusammenhang mit dem Produktivitätswachstum betrachtet wird – in Europa deutlich geringer als in den Vereinigten Staaten.

Schließlich waren auch die Investitionen in das Humankapital in Europa den Anforderungen eines wissensbasierten Wirtschaftsraums offenbar nicht angemessen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass im Euro-Währungsgebiet im Jahr 2004 nur 23 % der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren über eine Hochschulbildung verfügten, wohingegen der Anteil in den Vereinigten Staaten bei 39 % lag.

Andererseits war in den letzten zehn Jahren der Beitrag des Arbeitseinsatzes zum Produktionswachstum im Euroraum höher als in den Vereinigten Staaten, was vor allem eine Folge der deutlicheren Zunahme der Erwerbsbeteiligung – insbesondere bei den Frauen – war. Dennoch ist der Arbeitseinsatz in Europa weiterhin deutlich niedriger, was eine Folge einer geringeren Erwerbsbeteiligung insbesondere von Frauen und älteren Personen, einer höheren Arbeitslosenquote und einer niedrigeren Zahl geleisteter Arbeitsstunden je Beschäftigtem ist.

Diese Betrachtungen sollten meines Erachtens bereits ausreichen, um zu erkennen, dass bestehende Hindernisse für das Wachstum von Produktivität, Erwerbsbeteiligung und wirtschaftlicher Dynamik beseitigt werden müssen. Die Notwendigkeit, dieser Forderung mit entschlossenen Reformen zu entsprechen, erscheint angesichts von zwei weiteren Überlegungen noch dringlicher.

Einerseits müssen wir uns die voraussichtliche Entwicklung des demografischen Faktors vor Augen halten. Den verfügbaren Projektionen zufolge wird sich die Alterslastquote bis 2050 verdoppeln, was nicht nur Probleme in Bezug auf die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme mit sich bringen, sondern sich auch negativ auf das Potenzialwachstum auswirken wird.

Andererseits bewirken der schnelle technologische Wandel und die sich beschleunigende Globalisierung weltweit eine Änderung der Produktions- und Handelsformen. Für eine offene Volkswirtschaft wie die europäische, in der das verarbeitende Gewerbe einen hohen Stellenwert hat, sind diese Entwicklungen von entscheidender Bedeutung. Hierbei sei, in Bezug auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Euro-Währungsgebiets, an erster Stelle darauf hingewiesen, dass der Anteil seiner Exporte an den Weltmärkten und damit letztendlich sein Marktanteil im Lauf der vergangenen zehn Jahre relativ stabil geblieben sind. In den letzten Jahren setzte jedoch ein rascher Rückgang des Marktanteils ein.

Analysiert man die Entwicklung der Marktanteile genauer, zeigt sich eine deutlich positive Beziehung zwischen diesen und den relativen Exportpreisen (preisliche Wettbewerbsfähigkeit). Dieser Zusammenhang ist im Euro-Währungsgebiet viel enger als in anderen Wirtschaftsräumen. Allerdings gibt es neben dem Preis noch andere Faktoren, die die Entwicklung der Marktanteile beeinflussen. Im Falle des Euro-Währungsgebiets kann man beispielsweise beobachten, dass sich die geografische Struktur seiner Exporte negativ auf den Marktanteil auswirkte, da der Euroraum vor allem in Regionen exportierte, in denen das Nachfragewachstum hinter dem weltweiten Durchschnitt zurückblieb. Andererseits wirkte sich die Produktionsstruktur der Exporte in den letzten Jahren nicht besonders negativ auf die Entwicklung des Marktanteils des Euro-Währungsgebiets aus. Allerdings lässt die Tatsache, dass sich Europas Exporte stärker im Bereich von Mitteltechnologie und nicht von Hochtechnologie konzentrieren, zweifellos auf ein höheres Risiko für die Zukunft schließen, da an diesen Märkten aufgrund von neuen Wettbewerbern mit einer steigenden Konkurrenz zu rechnen ist.

Welche Reformen braucht Europa?

Angesichts dieses Bildes der europäischen Wirtschaft muss man sich fragen, welche konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen ergriffen werden sollten, um den Wachstumsverlauf so zu korrigieren, dass in Europa zugleich ein solides Beschäftigungswachstum und eine Wiederbelebung der Produktivität erreicht werden können.

Die Maßnahmen, die Ökonomen vorschlagen, weil sie eine Änderung des Wachstumsverlaufs in Europa ermöglichen würden, werden unter dem Begriff „Strukturreformen“ zusammengefasst. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und in Anlehnung an die von den Autoren der Strategie von Lissabon verwendete Charakterisierung könnten diese Reformen folgenden vier Hauptzielen zugeordnet werden: eine stärkere Erwerbsbeteiligung, mehr Wettbewerb, Schaffung eines unternehmerfreundlichen Umfeldes und schließlich Förderung von Innovation. Und all dies in einem geld- und finanzpolitischen Umfeld, das gesamtwirtschaftliche Stabilität gewährleistet.

Erstens müssen wir erkennen, dass ein reibungsloses Funktionieren der Arbeitsmärkte für Wirtschaftswachstum unverzichtbar ist. In diesem Zusammenhang haben die unterschiedlichen Entwicklungen, die an den Arbeitsmärkten in den Vereinigten Staaten und in Europa beobachtet wurden, einige Analysten dazu veranlasst, angesichts der unterschiedlichen Arbeits- und Freizeitpräferenzen in beiden Gesellschaften von einem „europäischen Modell“ und einem „angelsächsischen Modell“ zu sprechen. Allerdings darf man nicht übersehen, dass die von mir zuvor erwähnte geringere Erwerbsbeteiligung in Europa nicht notwendigerweise nur mit persönlichen Präferenzen zu erklären ist, sondern auch durch das rechtliche Umfeld sowie bestehende Steuer- und Sozialversicherungssysteme bedingt sein kann. So lässt sich belegen, dass zu großzügige Sozialversicherungssysteme die Menschen von der Arbeitsplatzsuche abhalten, dass die Existenz von Vorruhestandsregelungen ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt begünstigt und dass sehr hohe Grenzsteuersätze wiederum die Anreize zur Beteiligung am Erwerbsleben verringern und zu einer geringeren Zahl geleisteter Arbeitsstunden führen.

Deshalb müssen die zur Erhöhung des Arbeitseinsatzes in Europa erforderlichen Maßnahmen eine Reform der Steuer- sowie Sozialsysteme einschließen. Außerdem dürften auch die Maßnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie das Angebot von Kinderbetreuung oder die Einführung flexibler Arbeitsmodelle, wie Teilzeitarbeit oder befristete Arbeitsverhältnisse, zu einer höheren Erwerbsbeteiligung führen.

Andererseits weist die Tatsache, dass die Arbeitslosenquote im Euro-Währungsgebiet höher ist als in den Vereinigten Staaten und dass vor allem die Arbeitslosenquote bei den Jugendlichen in Europa besonders hoch ist, darauf hin, dass es nicht nur ein Problem beim Arbeitsangebot, sondern auch bei der Nachfrage nach Arbeit gibt. In diesem Zusammenhang zeigt sich, wie vordringlich es ist, Lohnflexibilität zu begünstigen und Arbeitsmarktrigiditäten zu minimieren. Tarifverhandlungen müssten zu einer den wirtschaftlichen Bedingungen entsprechenden Lohnentwicklung und außerdem zu einer Differenzierung der Löhne führen, die in angemessener Weise regionale und sektorale Produktivitätsunterschiede widerspiegelt. Es müssten auch die arbeitsrechtlichen Vorschriften angepasst werden, insbesondere jene Bestimmungen, die die Beschäftigung von Jugendlichen und älteren Arbeitnehmern behindern. Ebenso müssten Politiken verfolgt werden, die dazu beitragen sollen, die Qualifikation der Arbeitnehmer für die Arbeitsstellen zu verbessern, was gleichbedeutend ist mit höheren Investitionen in Aus- und Fortbildung sowie lebenslanges Lernen.

Das zweite Element, das meines Erachtens notwendig ist, um mittel- bis langfristig ein höheres Wachstum zu erreichen, ist eine Stärkung des Wettbewerbs. Vorliegende volkswirtschaftliche Studien weisen darauf hin, dass sich ein höheres Wettbewerbsniveau zumindest langfristig tendenziell beschäftigungsfördernd auswirkt, die Produktivität steigert, die Produktivitätseffizienz verbessert und außerdem Investitions- und Innovationsanreize schafft. Ebenso zeigt sich, dass ein verstärkter Wettbewerb zu einer effizienten Nutzung und Allokation der Ressourcen beiträgt, einen Abwärtsdruck auf Kosten ausübt und zu Preissenkungen führt.

In der Europäischen Union wurden in diesem Bereich zwar bereits einige Fortschritte erzielt, doch es bleibt noch vieles zu tun: die Ausdehnung und Vertiefung des europäischen Binnenmarktes ist weiterhin eine Priorität. Insbesondere müsste an den Dienstleistungsmärkten mehr Wettbewerb erreicht werden, da diese rund 70 % der Gesamtbeschäftigung und der Wertschöpfung der Volkswirtschaft ausmachen. In diesem Zusammenhang war die Verabschiedung der Dienstleistungsrichtlinie durch das Europäische Parlament im Februar 2006 ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn die endgültige Fassung nicht so weitreichend ist wie ursprünglich geplant. Nun gilt es natürlich, diese Richtlinie in nationales Recht umzuwandeln, damit sich die erhofften positiven Auswirkungen einstellen können.

Der dritte wachstumsfördernde Faktor, auf den ich eingehen möchte, ist die Schaffung eines wirtschaftlichen Umfeldes, das die unternehmerische Initiative begünstigt. Europa braucht mehr Unternehmen, die von den Vorzügen eines offeneren Marktes profitieren wollen und bereit sind, sich auf kreative und innovative Projekte einzulassen, um in großem Maßstab wirtschaftlichen Nutzen daraus zu ziehen. Der Beitrag, den ein dynamisches Unternehmertum zu Produktivität und Innovation leistet, ist insbesondere in den Hochtechnologie-Sektoren von entscheidender Bedeutung.

Für ein unternehmerfreundliches Umfeld müssen bürokratische Hemmnisse und der Verwaltungsaufwand für die Gründung kleiner und mittlerer Unternehmen abgebaut werden, beispielsweise Maßnahmen, die den Finanzierungsbedürfnissen dieser Unternehmen entgegenkommen. Die Probleme, mit denen Europa in diesem Zusammenhang konfrontiert ist, lassen sich anhand einer einzigen Zahl darstellen. Angaben der Weltbank zufolge waren die durchschnittlichen Kosten, um ein Unternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitern zu gründen, im Euro-Währungsgebiet (außer Luxemburg) im Jahr 2004 zehnmal höher als in den Vereinigten Staaten.

Was die Kapitalmärkte anbelangt, so ist die Risikokapitalfinanzierung von besonderer Bedeutung, da ohne diese Geldmittel viele Unternehmensvorhaben ganz einfach nicht realisierbar wären. Europa weist auch in diesem Bereich einen deutlichen Rückstand auf, da hier die Risikokapitalfinanzierung nur einen Bruchteil der in den Vereinigten Staaten bereitgestellten Beträge ausmacht.

Viertens müssen die bereits erwähnten Reformen der Arbeits- und Gütermärkte mit Maßnahmen einhergehen, die eine Verbreitung von technologischem Wandel und Innovation unterstützen. Zu diesen Maßnahmen gehören auch höhere Investitionen in Forschung und Entwicklung. Außerdem müssen diese Investitionen, damit sie effektiver werden, mit Bemühungen einhergehen, das Ausbildungsniveau der Arbeitskräfte zu verbessern. Ein höheres Bildungsniveau ist, wie ich bereits erwähnt habe, auch notwendig, um am Arbeitsmarkt bestehende Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage zu verringern und die Mobilität der Arbeitnehmer zwischen Unternehmen und Branchen zu verbessern und zu erleichtern. Angesichts der Herausforderungen des technologischen Fortschritts und um eine bessere Vermittelbarkeit und Flexibilität der Arbeitskräfte zu gewährleisten, muss letztendlich das Humankapital besser den Markterfordernissen angepasst sein, was wiederum eine fortwährende Verbesserung des Ausbildungsniveaus und lebenslanges Lernen erfordert.

Im Lauf der letzten Jahrzehnte hat sich das Ausbildungsniveau in der Tat erheblich verbessert. Laut Angaben der OECD haben im Euro-Währungsgebiet in der Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren durchschnittlich 73 % ein der Sekundarstufe II entsprechendes Bildungsniveau gegenüber nur 46 % in der Altersgruppe zwischen 55 und 64 Jahren. Allerdings sind bislang in Europa die Investitionen in das Humankapital einer wissensbasierten Gesellschaft nicht angemessen. Beispielsweise lagen in den Vereinigten Staaten die jährlichen Ausgaben für Hochschulen je Student im Jahr 2005 bei 17 890 EUR, im Euroraum hingegen nur bei 7 402 EUR. Des Weiteren brauchen wir in Europa mehr Wissenschaftler und Forscher. Auch hier sind die Zahlen sehr aufschlussreich: in der Europäischen Union entfallen auf 1 000 Arbeitnehmer rund 5,3 Wissenschaftler und Forscher gegenüber 9 in den Vereinigten Staaten.

Diese vier von mir beschriebenen Reformansätze müssen in einen Rahmen makroökonomischer Maßnahmen eingebettet sein, die auf Stabilität ausgerichtet sind – wie Ricardo Martínez Rico in seinem Arbeitspapier, das dieser Diskussion zugrunde liegt, aufzeigt. Erlauben Sie mir daher noch einige kurze Worte zur Finanzpolitik und – wie könnte es bei einem Zentralbanker auch anders sein – zur Geldpolitik im Euroraum.

Solide öffentliche Finanzen sind eine Voraussetzung für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum. Die Finanzpolitik wirkt sich auf unterschiedliche Weise positiv auf das Wachstum aus. Erstens senkt eine umsichtige Finanzpolitik die Risikoprämien bei langfristigen Zinssätzen und ermöglicht dadurch günstigere Finanzierungsbedingungen, was wiederum Investitionen und langfristiges Wachstum begünstigt. Zweitens sind gesunde öffentliche Finanzen wesentlich, damit in den einzelnen Ländern automatische Stabilisatoren voll zum Tragen kommen können und die Finanzpolitik folglich einen wichtigen Mechanismus innerhalb des gesamtwirtschaftlichen Stabilisierungsprozesses darstellt. Schließlich ist die Qualität der öffentlichen Finanzen auch für das Wachstum relevant. Höhe und Zusammensetzung der Staatseinnahmen und -ausgaben wirken sich auf die Funktionsweise der Märkte aus und können somit die wirtschaftliche Entwicklung begünstigen oder einschränken. In diesem Zusammenhang könnte die Verringerung ineffizienter Ausgaben Steuersenkungen als Anreiz zum Sparen, Investitionen, eine höhere Erwerbsbeteiligung und das Ergreifen risikoreicher Initiativen bewirken; öffentliche Ausgaben hingegen, die stärker auf die Akkumulation von Sach- und Humankapital als beispielsweise darauf ausgerichtet sind, im Niedergang befindliche Unternehmen zu unterstützen, sind ebenfalls positiv für das Wirtschaftswachstum.

In Kombination mit deutlichen Hinweisen auf bestehende Defizitneigungen in den inländischen Finanzpolitiken und der Notwendigkeit von Instrumenten zur Koordinierung und zum Schutz gegen Finanzeffekte zwischen Ländern innerhalb der Währungsunion bewogen diese Überlegungen die europäischen Regierungen zur Unterzeichnung des Stabilitäts- und Wachstumspakts.

In der Realität zeigte sich allerdings in den letzten Jahren, dass es einigen Ländern zwar gelungen ist, gesunde Haushaltspositionen aufrechtzuerhalten, dass sich die Situation in anderen Ländern jedoch verschlechtert hat und dass die im Stabilitäts- und Wachstumspakt vorgesehenen Verfahrensweisen mit dem Ziel, übermäßige Haushaltsdefizite zu vermeiden oder zu korrigieren, nicht immer eingehalten wurden. Die Verstöße gegen den Pakt führten zu einer intensiven Debatte über die Effizienz der Finanzvorschriften der Wirtschafts- und Währungsunion, die politisch mit der am 23. März 2005 vom Europäischen Rat verabschiedeten Reform des Paktes endete.

Der neue Pakt enthält einen differenzierteren Ansatz bei der Haushaltsüberwachung, der den Pakt zwar stärken kann, da er ihn dem wirtschaftlichen Umfeld besser anpasst und deshalb für die Mitgliedstaaten auch akzeptabler wird; dies wendet jedoch nicht die Gefahr ab, dass diese erhöhte Komplexität als Vorwand für eine Verzögerung der finanzpolitischen Anstrengungen dient. Deshalb ist eine Verbesserung sowohl der Einhaltung der neuen Vorschriften als auch der Anforderungen hinsichtlich ihrer rigorosen Umsetzung absolut unerlässlich.

Vorliegende Daten zu den öffentlichen Haushaltspositionen seit der Verabschiedung des neuen Pakts deuten auf eine – wenn auch langsame – Verbesserung der Haushaltssalden hin. Es besteht allerdings kein Anlass zur Selbstzufriedenheit. Auch wenn die vorgesehenen Senkungen der Haushaltsungleichgewichte zufrieden stellend sind, können sie doch nur zum Teil auf Fortschritte bei der strukturellen Konsolidierung zurückgeführt werden, denn eine wichtige Rolle spielen auch das sich verstärkende Wirtschaftswachstum und die hohen Sondereinnahmen. Die letzten, aktualisierten Stabilitätsprogramme, die die Länder des Euroraums vorgelegt haben, zeugen auch davon, dass die Regierungen zusätzliche Maßnahmen planen, um solide Haushaltspositionen zu erreichen. Allerdings gibt es auch Anzeichen dafür, dass die Haushaltsziele nicht konsequent ein ausreichendes Maß an Konsolidierung beinhalten und dass auch noch nicht alle Programme diesbezüglich konkrete und glaubwürdige Maßnahmen enthalten. Diese Anzeichen geben Anlass zur Besorgnis und stellen Risiken für die Zukunft dar. Besonders im gegenwärtigen, konjunkturell günstigen Umfeld ist es entscheidend, dass die Länder mit Haushaltsungleichgewichten solide Haushaltspositionen erreichen und dass alle Länder des Euro-Währungsgebiets von einer prozyklischen Lockerung der Finanzpolitik absehen. Ebenso müssen, wie ich bereits erwähnte, alle Länder als Teil einer mittelfristigen Gesamtstrategie die Qualität ihrer Steuer- und Ausgabenpolitiken verbessern, um das Vertrauen in ein nachhaltiges wachstums- sowie beschäftigungsförderndes finanzpolitisches Umfeld zu stärken.

Was die Geldpolitik und die Frage nach ihrer Rolle betrifft, so besteht allgemein Übereinstimmung dahingehend, dass das vorrangige Ziel der Geldpolitik zur Gewährleistung eines nachhaltigen Wachstums darin bestehen muss, Preisstabilität aufrechtzuerhalten. Die Geldpolitik des Euro-Währungsgebiets konnte in den acht Jahren seines Bestehens dieses Ziel erfüllen, das darin besteht, mittelfristig eine Preissteigerungsrate unter, aber nahe 2 % beizubehalten, und dadurch bestmöglich zum Wirtschaftswachstum beigetragen. Zeitweise überschritt die Preissteigerungsrate die 2 %-Marke, was auf vorübergehende Störungen zurückzuführen war, wie z. B. den deutlichen Anstieg des Ölpreises. Angesichts derartiger Schocks ist es jedoch, aus der Perspektive der Geldpolitik betrachtet, wichtig, dass Preisstabilität auf mittlere Sicht gewährleistet wird, das heißt in der Zeit nach dem Schock.

Ein weiteres Anzeichen für den Erfolg der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ergibt sich aus der Entwicklung der Indikatoren für die Inflationserwartungen. Aus der Betrachtung verschiedener verfügbarer Messgrößen für die langfristigen Inflationserwartungen im Euroraum, wie des Survey of Professional Forecasters der EZB oder den Prognosen von Consensus Economics, oder aber der in einigen Finanzinstrumenten impliziten Raten kann man schlussfolgern, dass die langfristigen Inflationserwartungen seit der Einführung des Euro fest auf dem Niveau unserer Definition von Preisstabilität verankert sind. Dies ist der beste Beitrag, den die Geldpolitik zu Stabilität und Wirtschaftswachstum leisten kann.

Auch wenn sie noch verhältnismäßig jung ist, so bietet die gemeinsame Geldpolitik heute doch eine der verlässlichsten Stützen für Fortschritt und Wohlstand. Die Märkte und die Wirtschaftsakteure sind mit unserer Strategie vertraut, haben Kenntnis von unserer ständigen und glaubhaften Wachsamkeit und wissen, dass die Geldpolitik zu jedem Zeitpunkt immer das tun wird, was erforderlich ist, um das Eintreten der Risiken für die Preisstabilität zu verhindern.

Kann Europa seine Ziele erreichen?

Wie ich bereits in meiner Einleitung erwähnte, haben die Wirtschaftspolitiker in der Europäischen Union bereits vor einiger Zeit die Notwendigkeit von Strukturreformen anerkannt. Die im Jahr 2005 vom Europäischen Rat vorgenommene Halbzeitüberprüfung der Strategie von Lissabon kam zu dem Ergebnis, dass die Bilanz keineswegs zufriedenstellend war. Die Ursachen, mit denen sich dieser Rückstand erklären lässt, hängen unter anderem mit der Definition dieser Ziele an sich zusammen; diese wurden im Umfeld eines starken Wirtschaftswachstums angenommen, falsch auf die Zukunft extrapoliert und für die gesamte Union festgelegt, obwohl die Ausgangslage in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich war. Die Instrumente, die eingesetzt wurden, um die Ziele zu erreichen, waren auch nicht sehr wirkungsvoll, weil dem politischen Willen der Mitgliedstaaten zu viel Gewicht beigemessen wurde, was zu einer abgeschwächten Verpflichtung in Hinblick auf die Reformen führte.

In diesem Zusammenhang brachten die europäischen Politiker zum Ausdruck, dass es dringend erforderlich sei, neue Impulse zu geben und die Ziele der Strategie von Lissabon neu zu definieren, und boten seitens der Regierungen an, eine größere Verpflichtung einzugehen, um die Reformen zu beschleunigen. Konkret wurden Änderungen an der Ausgestaltung der Strategie vorgenommen mit dem Ziel, die Umsetzung der Strukturreformen zu verbessern. Ein Ergebnis dieses Prozesses war, dass alle Länder so genannte nationale Reformprogramme erstellen mussten, in denen die Schritte der Strukturreformen für den Zeitraum von 2005 bis 2008 dargelegt wurden. Insgesamt scheinen die Programme und ihre bislang vorgelegten Aktualisierungen eine stärkere Verpflichtung hinsichtlich des Prozesses seitens der Regierungen widerzuspiegeln. In der Tat begrüßte der EZB-Rat die Fortschrittsberichte, die von den EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2006 zu ihren nationalen Reformprogrammen für 2005 bis 2008 vorgelegt wurden.

Meines Erachtens besteht derzeit eines der Hauptprobleme der Regierungen beim Erreichen der Ziele der Agenda in den zeitlichen Auswirkungen der Reformen. Während eventuell anfallende Kosten kurzfristiger Natur sind, machen sich die Vorteile mittel- bis langfristig, und häufig sogar erst nach der Legislaturperiode bemerkbar, in der die Reformen umgesetzt werden, was aus wirtschaftspolitischer Sicht die Reform und ihre Annahme erschwert. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die Politiker den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber immer wieder betonen, dass die Reformen sich positiv auswirken und dass ihre mittel- und langfristigen Vorteile eventuell entstehende kurzfristige Kosten ausgleichen. Dies lässt sich anhand einiger Beispiele belegen.

Was die Arbeitsmärkte anbelangt, so haben einige europäische Länder bereits einen Teil der erforderlichen Reformen umgesetzt. Dies ist beispielsweise in Dänemark, Irland und Holland der Fall, wo in Bezug auf die Senkung der Arbeitslosigkeit und die Schaffung neuer Arbeitsplätze in allen Ländern äußerst positive Ergebnisse erzielt wurden, und dies obwohl die Ausgangslage sehr unterschiedlich war. Im Jahr 2005 lag die Arbeitslosenquote in diesen Ländern unter 5 %, und die Beschäftigungsquote lag nahe oder sogar über der US-amerikanischen. Um dieses Ergebnis zu erzielen, reformierten sie ihre Steuer- und Sozialsysteme, verringerten die Steuerunterschiede des Faktors Arbeit und führten strengere Vorschriften für die Arbeitssuche sowie eine striktere Überwachung der Anspruchsberechtigung für Arbeitslosenunterstützung ein. Gleichzeitig erhöhten sie bei Bedarf auch die Flexibilität ihrer Arbeitsmärkte und änderten die Kündigungsschutzbestimmungen insbesondere betreffend Zeitarbeitskräfte.

Auch bei der Gütermarktregulierung wurden beträchtliche Fortschritte mit sehr positiven Ergebnissen erzielt. Beispielsweise haben sich mittlerweile einige netzgebundene Sektoren, wie zum Beispiel die Telekommunikationsbranche, in hohem Maße oder vollständig der Konkurrenz geöffnet. Als Ergebnis konnte in Europa in einigen der netzgebundenen Sektoren im Lauf der letzten zehn Jahre ein deutlicher Produktivitätszuwachs beobachtet werden. Im Telekommunikationssektor, der während der Neunzigerjahre stark liberalisiert wurde, wurde im Zeitraum von 1996 bis 2003 ein durchschnittlicher Anstieg der Produktivität je geleistete Arbeitsstunde von 8,5 % verzeichnet, wohingegen in den Vereinigten Staaten im Vergleichszeitraum nur eine Zunahme um 6,9 % zu beobachten war. Gleichzeitig ging der harmonisierte Verbraucherpreisindex für die Telekommunikationsbranche im Vergleich zum Gesamtindex für das Euro-Währungsgebiet im Zeitraum 1998-2005 um 35 % zurück.

Die zentrale Bedeutung eines unternehmerfreundlichen Umfeldes wird zunehmend auch von den europäischen Regierungen gesehen, und auf nationaler sowie gemeinschaftlicher Ebene wurden mehrere Initiativen zur Umsetzung von Reformen ergriffen, die die Regulierung verbessern sollen. Beispielsweise stimmte der Europäische Rat im März 2006 der Schaffung der so genannten „One-Stop-Shops“ in allen Mitgliedstaaten bis Ende 2007 zu, wodurch Unternehmensgründungen innerhalb von einer Woche ermöglicht werden. Gegenwärtig variiert die für eine Unternehmensgründung erforderliche Zeitspanne im Euroraum zwischen 8 Tagen in Frankreich und Portugal und 47 bzw. 38 Tagen in Spanien und Griechenland, wohingegen in den Vereinigten Staaten nur 5 Tage erforderlich sind.

Auch die europäischen Unternehmen und Regierungen haben die Bedeutung von Forschung und Entwicklung erkannt. Europa hat es sich zum Ziel gesetzt, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis zum Jahr 2010 auf 3 % des BIP zu erhöhen, und diesbezüglich wurden bereits einige Fortschritte erzielt. Gemäß einer in jüngster Zeit erfolgten europaweiten Piloterhebung zu den Investitionen in Forschung und Entwicklung hoffen die europäischen Firmen, dass ihre gesamten Investitionsausgaben für FuE im Lauf der nächsten drei Geschäftsjahre um 5 % pro Jahr steigen werden, was, sofern dies eintritt, eine deutliche Verbesserung gegenüber der jüngsten Vergangenheit bedeuten würde. Mit dieser Wachstumsquote hätten die europäischen Firmen in Bezug auf die FuE-Ausgaben erstmals seit mehreren Jahren ein mit den Vereinigten Staaten vergleichbares Niveau erreicht.

Schlussfolgerungen

Ich komme nun zu den Schlussfolgerungen. In meinem Beitrag bin ich näher auf einige Elemente des Wachstumsverlaufs der europäischen Volkswirtschaften eingegangen, die das gegenwärtige Wachstumspotenzial beschränken und das zukünftige Wachstum gefährden. In diesem Zusammenhang ist ganz allgemein der geringere Beitrag der Produktivität zur Dynamik der europäischen Volkswirtschaften in den letzten Jahren hervorzuheben.

Um den Wachstumsverlauf der Volkswirtschaften des Euroraums zu verbessern, ist es meines Erachtens erforderlich, Wirtschaftspolitiken, die Vertrauen in die Wirtschaftsakteure schaffen, zu gestalten und konsequent umzusetzen. Diese Strategie muss sich auf drei Pfeiler stützen. Erstens müssen Strukturreformen durchgeführt werden, die darauf abzielen, die Erwerbsbeteiligung zu erhöhen, den Wettbewerb zu steigern, ein günstiges Umfeld für die unternehmerische Initiative zu schaffen und Innovation zu fördern. Der wirtschaftspolitische Erfolg der Reformen hängt weitgehend davon ab, wie klar den Bürgerinnen und Bürgern die Inhalte und der erhoffte Nutzen dieser Reformen erläutert werden. Zweitens benötigt man Finanzpolitiken, mit denen sich der Erhalt solider und dauerhafter Haushaltspositionen garantieren lässt. Und schließlich muss die Geldpolitik auch weiterhin dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität entsprechen. Dies ist zweifelsohne der beste Beitrag, den sie zu einem anhaltenden Wachstum leisten kann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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