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Philip R. Lane
Member of the ECB's Executive Board
  • INTERVIEW

Interview with Die Zeit

Interview mit Philip R. Lane, Mitglied des Direktoriums der EZB, geführt von Kolja Rudzio am 22 März

29 March 2023

In den USA und der Schweiz sind in den vergangen Wochen Banken zusammengebrochen. Könnte das auch in der Eurozone passieren?

Lassen Sie mich zuerst ausdrücklich betonen, dass die Spannungen, die wir in der Eurozone sehen, ein Überschwappen aus den USA und der Schweiz sind. Und bitte erinnern Sie sich daran, dass wir vor 15 Jahren eine schwere Bankenkrise in der Europäischen Union hatten. Infolgedessen haben wir jetzt eine sehr strenge Regulierung und eine sehr strenge Überwachung der Banken. Wir gehen in unserem Basiszenario davon aus, dass das europäische Bankensystem über viel Kapital verfügt und dass die Banken bei ihrer Kreditvergabe umsichtig vorgegangen sind.

»Basiszenario« bedeutet, Sie halten das für das wahrscheinlichste Szenario.

Ja. Natürlich beobachten wir die Entwicklungen genau und sind wachsam, aber wir gehen nicht davon aus, dass die gleiche Situation wie in den USA oder in der Schweiz hier in der Eurozone das wahrscheinlichste Szenario sein wird.

Sie erwarten so etwas also nicht, aber ausschließen können Sie es auch nicht, oder?

Die Geschichte des Bankwesens lehrt uns, dass es sehr wichtig ist, das Vertrauen zu bewahren. Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass ein größeres Problem entsteht. Sollte es jedoch dazu kommen, ist die Europäische Zentralbank in der Lage, zu reagieren. Wir haben viele Instrumente, wir können Liquidität zur Verfügung stellen, und wir können dafür sorgen, dass es nicht zu der Art von Sturm auf die Banken kommt, wie es in diesen Beispielen zu beobachten war.

Wenn in der EU Banken gerettet werden müssten, würden dann wieder die Steuerzahler dafür aufkommen müssen?

Hier in der Europäischen Union und im Euroraum war eine der wichtigsten Lehren, dass die Banken mit viel Kapital ausgestattet werden müssen, damit sie sehr gut in der Lage sind, Verluste aufzufangen. Das europäische Bankensystem ist gut kapitalisiert und profitabel. Und die makroökonomischen Aussichten sind positiv. Dies sind nicht die Umstände, unter denen wir als Basiszenario erwarten, dass das Bankensystem unter erheblichen Druck gerät.

Auf einer Konferenz bezeichneten Sie die jüngsten Finanzturbulenzen kürzlich als »Non-event«, als »Nicht-Ereignis«. Wie meinen Sie das?

Wir haben in den USA und in der Schweiz erhebliche Probleme erlebt. Letztlich waren aber nur bestimmte Arten von Banken mit sehr spezifischen Problemen betroffen. Wir sehen das nicht als ein generelles Problem im Bankensystem. Natürlich werden unmittelbar nach einer politischen Intervention wie in den USA oder der Schweiz Fragen gestellt. Aber ich denke, es ist nach wie vor so, dass sich das nicht direkt auf den Euroraum übertragen lässt. Wir gehen in unserem Basiszenario davon aus, dass sich diese Spannungen legen werden.

Das meinen Sie mit »Non-Event«?

Ja, aus makroökonomischer Sicht. Die nächste Stufe nach einem Non-Event wäre, wenn die Banken aufgrund eines Vertrauensverlustes risikoscheu werden. Dann gäbe es Auswirkungen auf die Wirtschaft, die aber noch begrenzt wären.

Beobachten Sie das schon?

Es ist noch zu früh, um das zu sagen, aber wir werden uns das in den nächsten Wochen ansehen. Das dritte Szenario wäre, dass sich die Situation verschärft. Aber in unserem Jargon ist das ein »Tail Event« - es liegt am äußersten Ende der Wahrscheinlichkeitsverteilung und ist sehr unwahrscheinlich. Wir beobachten die Entwicklung also, aber es ist noch zu früh, um aus ihr abzuleiten, dass es ein bedeutendes Problem werden wird.

Haben Sie die Bankturbulenzen überrascht?

Seit vielen Jahren spielen die EZB und andere Institutionen in Projekten durch, was passiert, wenn die Zinsen plötzlich steigen. Ich habe übrigens an einem dieser Projekte um 2015 herum teilgenommen. Wir haben jahrelang untersucht, welchen Druck solche Zinserhöhungen auf das Finanzsystem ausüben könnten. Die genauen Details, welche Bank, welches Szenario, enthalten natürlich immer ein Überraschungsmoment.

Aber war das hohe Tempo der Zinserhöhungsschritte, die Sie in der EZB beschlossen haben, für die Menschen vielleicht eine Überraschung?

Ich glaube nicht, dass es etwas so Plötzliches oder Schwerwiegendes war. Lassen Sie mich hier eine Reihe von Beobachtungen machen. Erstens: Hinter der Erhöhung der Zinssätze steht die Tatsache, dass die Inflation recht schnell gestiegen ist. Bei einem so raschen Anstieg der Inflation wäre es eine Überraschung gewesen, wenn die Zinsen nicht auch relativ schnell gestiegen wären. Zweitens: Diese Erhöhungen erfolgten von sehr niedrigem Niveau aus. Es sollte niemanden überraschen, dass die Zinsen von -0,5 % auf, sagen wir, etwa 2 % stiegen. Das war im Wesentlichen eine Normalisierung der Politik. Das war immer zu erwarten, auch wenn es eine Frage des Zeitpunkts war. Aufgrund der hohen Inflation mussten wir aber noch mehr tun. Deshalb haben wir die Zinssätze über ihren langfristigen Wert von etwa 2 % jetzt auf 3 % angehoben, und wir haben signalisiert, dass sie bei Bedarf noch höher gehen werden. Der dritte Punkt ist, dass wir im Dezember 2021, also bereits vor 16 Monaten, angefangen haben. Zunächst beendeten wir das pandemische Notkaufprogramm, dann beendeten wir die quantitative Lockerung im Juni letzten Jahres, und im Juli haben wir die Zinsen aus dem negativen Bereich herausgeführt. Aber schon ab Januar war dem Markt klar, dass Zinserhöhungen kommen würden. Wir sind immer schrittweise vorgegangen, auch um dem Finanzsystem die Möglichkeit zu geben, sich anzupassen.

Sind diese Spannungen im Finanzsystem die Kehrseite der Nullzinspolitik, die die Zentralbanken jahrelang verfolgt haben?

Ich glaube nicht, dass diese Diagnose richtig ist. Der Grund für die niedrigen Zinssätze war eine zu niedrige Inflation, und der Grund für die steigenden Zinssätze ist eine zu hohe Inflation. Ich denke also, dass das, was Sie beschrieben haben, im Wesentlichen das eigentliche Problem widerspiegelt: dass die Inflation schnell gestiegen ist. Und es ist sonnenklar, dass die hohe Inflation wegen der Pandemie und wegen des Krieges in der Ukraine entstanden ist. Natürlich ist es unsere Aufgabe hier bei der EZB, jetzt dafür zu sorgen, dass die Inflation schnell auf 2 Prozent zurückgeht.

Die Inflation stieg 2021 an und erreichte im Januar 2022 - vor dem Krieg - 5,1 Prozent. Ist diese Entwicklung nicht zumindest teilweise auf die Geldpolitik zurückzuführen?

Nein. Zwischen Sommer 2021 und Februar 2022, als die Invasion begann, hatten wir wegen der Pandemie und der Lieferketten-Probleme eine sehr starke Inflation bei vielen Waren. Zweitens hatte die europäische Wirtschaft nach all den Lockdowns gerade wieder geöffnet. Die Menschen brannten darauf, in den Urlaub zu fahren oder waren entspannter, wenn es darum ging, in ein Restaurant zu gehen und ihr Geld auszugeben. Drittens hatte Russland schon vor der Invasion die Energielieferungen eingeschränkt. Zu Beginn des Jahres 2022 gab es also drei Faktoren, die die Inflation anheizten: Lieferengpässe, der Krieg und die Energiepreise sowie die Wiedereröffnung Europas. Die Inflation, die wir erleben, ist auf diese ungewöhnlichen Faktoren zurückzuführen. Eine Lösung für diese Inflation zu finden, das ist unsere Aufgabe.

Sie sehen keine Fehleinschätzung der Inflation durch die EZB zu diesem Zeitpunkt?

Angesichts der Informationen, die wir damals hatten, denke ich, dass wir vernünftige Entscheidungen getroffen haben. Das Wichtigste ist, dass man reagiert, wenn man sieht, dass sich die Welt verändert. Wir haben die Geldmenge, die wir durch den Kauf von Anleihen in die Wirtschaft gepumpt haben, reduziert - von über einer Billion Euro im Jahr 2021 auf netto null im Juni 2022. Das war ein gewaltiger Umschwung. Und viele hatten vorhergesagt, wir würden zögern, die Zinsen anzuheben.

Haben Sie nicht gezögert? Sie haben ja erst im Juli mit den Zinserhöhungen begonnen.

Unsere Priorität in der ersten Hälfte des Jahres 2022 war es, dieses umfangreiche Anleihekaufprogramm zu beenden und danach mit den Zinserhöhungen zu beginnen. Und die Märkte haben schon früh verstanden, dass wir die Zinsen anheben würden. So begannen beispielsweise die Hypothekenzinsen hier in Deutschland zu steigen, lange bevor wir die EZB-Leitzinsen angehoben haben. Die Straffung ist also effektiv seit Ende 2021 im Gange.

Lassen Sie uns nach vorne schauen: Sie prognostizieren, dass die Inflation rasch von 10 Prozent Ende 2022 auf 2,8 Prozent zum Ende dieses Jahres und dann weiter in Richtung des Inflationsziels von 2 Prozent sinken wird. Was macht Sie so optimistisch?

Es ist eine Mischung aus mehreren Faktoren. Die Energiepreise sind rückläufig. Die Lebensmittelpreise sind immer noch sehr hoch, und das ist, was die Menschen sehen, wenn sie in den Supermarkt gehen. Aber wenn man sich die früheren Stufen der Produktion anschaut, die Preise der Bauern, die Preise für Lebensmittelzutaten, stellt man fest: Da hat eine Trendwende eingesetzt. Und die Geschichte lehrt uns, dass dies am Ende zu niedrigeren Preisen im Einzelhandel führen wird. Ein weiterer Faktor: Es gibt weniger Engpässe in den Lieferketten. Autohersteller bekommen zum Beispiel wieder die Mikrochips, die sie brauchen. Daher dürften sich die Preise für Waren stabilisieren. Die Löhne werden dagegen steigen, aber insgesamt gehen wir von einem raschen Rückgang der Inflation zum Ende dieses Jahres aus.

Joachim Nagel, der Präsident der Bundesbank, warnte kürzlich: »Der Preisdruck ist stark und breit über die Wirtschaft verteilt«. Wie passt das zu Ihrem rosigen Ausblick?

Ich stimme mit dieser Aussage überein. Unsere Präsidentin, Christine Lagarde, hat sich ähnlich geäußert. Wir befinden uns in der Tat wahrscheinlich in der intensivsten Phase der Inflation. Es dauert einige Zeit, bis die von mir beschriebenen Entwicklungen bei den Verbrauchern ankommen. Nehmen wir an, Sie sind ein Produzent. Sie haben im vergangenen Jahr einen hohen Preis für Ihren heutigen Lagerbestand bezahlt. Wenn Sie diese Waren jetzt verkaufen, werden Sie wahrscheinlich einen entsprechend hohen Preis verlangen, auch wenn Ihre Einkaufspreise für die Vorprodukte bereits rückläufig sind. Im Moment haben wir also noch diesen starken Inflationsdruck. Aber wenn man weiter in die Zukunft blickt, sieht man eine Verbesserung, die im Frühjahr und Sommer allmählich eintritt, im Herbst aber ziemlich stark.

Heißt das, es braucht keine weiteren Zinserhöhungen?

Nach unserem Basisszenario sind weitere Zinserhöhungen erforderlich, um sicherzustellen, dass die Inflation auf 2 Prozent sinkt. Das ist eindeutig unsere Diagnose. Wenn der finanzielle Stress, den wir sehen, zwar nicht gleich Null ist, aber sich als ziemlich begrenzt erweist, müssen die Zinssätze noch weiter nach oben gehen. Wenn der finanzielle Stress, über den wir gesprochen haben, jedoch stärker wird, dann müssen wir sehen, was angemessen ist.

Es gibt also einen Zielkonflikt zwischen Inflationsbekämpfung und Stabilisierung der Banken?

Nein. Wenn dieser finanzielle Stress die Wirtschaft schwächt, würde das automatisch den Inflationsdruck verringern.

Sie haben steigende Löhne erwähnt. Sehen Sie Anzeichen für eine Lohn-Preisspirale, die die Inflation anheizen könnte?

Bislang waren steigende Löhne keine wichtige Quelle für Inflation. Im vergangenen Jahr ließ sich ein Großteil der Preissteigerungen auf gestiegene Gewinne und steigende Energiekosten zurückführen. In diesem Jahr glauben wir, dass es einen Wechsel gibt. Wir erwarten, dass die Löhne schneller steigen, da die Gewerkschaften auf die hohe Inflation des letzten Jahres reagieren. Aber es ist sehr wichtig, dass alle - Arbeitnehmer und Unternehmen - erkennen, dass die Inflation im nächsten Jahr und im Jahr 2025 viel näher bei zwei Prozent liegen wird. Die Lohn-Preis-Spirale ist ein Szenario, das in den 1970er Jahren eintrat, als sich die Erwartung verfestigte, die Inflation werde jedes Jahr hoch sein. Dies ist nicht der Fall. Die Lohnerhöhungen sind zwar höher als normal, aber im Großen und Ganzen erscheinen sie recht fair. Aber wir müssen das im Auge behalten.

In Deutschland fordern die Gewerkschaften eine Lohnerhöhung von 10,5 Prozent für den öffentlichen Dienst. Könnte das die Inflation verstärken?

Ich werde mich nicht zu einzelnen Verhandlungen äußern. Was ich sagen möchte, ist: Manchmal lese ich Schlagzeilen über sehr hohe Lohnerhöhungen. Aber wenn man sich die Details ansieht, gehört dazu oft eine Einmalzahlung, die die Arbeitskosten nicht dauerhaft erhöht. Oder die Lohnerhöhung wird über 18 oder 24 Monate verteilt. Der tatsächliche Anstieg pro Jahr ist also geringer.

Ab welchem Prozentsatz wird eine Lohnerhöhung in Bezug auf die Inflation gefährlich?

Lassen Sie mich unsere Prognose zitieren. Denken Sie daran, dass die Inflation nach dieser Prognose bis Ende dieses Jahres auf 2,8 Prozent zurückgeht und sich dann weiter in Richtung unseres Ziels von 2 Prozent verbessert. Wir unterstellen dabei ein Lohnwachstum von 5,3 % in diesem Jahr und 4,4 % im nächsten Jahr. Wir beobachten die Lohnabschlüsse Woche für Woche sehr genau, und wenn wir sehen, dass sie darüber hinausgehen, dann würden wir anfangen, uns mehr Sorgen zu machen.

EZB-Präsidentin Christine Lagarde sagte, in dieser Zeit hoher Inflation müsse es eine faire Lastenverteilung zwischen Arbeitnehmern und Unternehmen geben. Was ist damit gemeint?

Der spektakuläre Anstieg der Energieimportpreise war der Auslöser für die hohe Inflation. Wir zahlen jetzt mehr für die Einfuhr von Öl und Gas aus anderen Ländern. Das bedeutet, dass in unserer Wirtschaft weniger Einkommen zu verteilen ist. Es gibt einen kollektiven Verlust. Und die Frage ist: Wie stark sollen die Einkommen der Arbeitnehmer sinken und wie stark die Gewinne der Unternehmen? Der Verlust muss irgendwie aufgefangen werden, wenn wir wollen, dass die EU wettbewerbsfähig bleibt und im globalen Geschäft erfolgreich bleibt.

Ist die Lastenteilung derzeit fair?

Nun, die Gewinne haben sich im vergangenen Jahr aus mehreren Gründen besser entwickelt als die Löhne. Ein Grund ist zum Beispiel, dass Lohnverhandlungen Zeit brauchen. In diesem Jahr erwarten wir, dass die Löhne stärker steigen werden. Und wir glauben, dass die Unternehmen weniger Spielraum haben werden, ihre Gewinne durch höhere Preise zu steigern. Dafür gibt es viele Gründe: Die Nachfrage dürfte sich abkühlen und die Lieferengpässe sollten sich auflösen. Die Lastenverteilung ändert sich also mit der Zeit.

Im Großen und Ganzen scheint Ihr Ausblick aber recht optimistisch zu sein: Die Inflation geht schnell zurück, während die Wirtschaft wächst. Heißt das, uns gelingt die so genannte »soft-landing«, eine »weiche Landung«?

Es ist möglich. Manche mögen einwenden, dass es eine Rezession braucht, um die Inflation zu senken. Aber wir befinden uns in einer sehr ungewöhnlichen Situation. Wir kommen gerade aus einer Pandemie und aus einer sehr schweren Energiekrise heraus. Wir haben durch die Pandemie so viel Wachstumsdynamik verloren, dass es möglich ist, dass sich die Erholung von der Pandemie fortsetzt und die Inflation gleichzeitig zurückgeht.

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