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Interview mit Handelsblatt

Interview mit Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der EZB, geführt von Jan Mallien und Frank Wiebe am 29. April 2022

3. Mai 2022

Frau Schnabel, die EZB steht zurzeit sehr in der Kritik, von einigen Medien werden Sie sogar persönlich angegriffen. Wie gehen Sie damit um?

Für mich heißt das in erster Linie, dass wir noch besser kommunizieren müssen. Die Bürgerinnen und Bürger machen sich ja verständlicherweise Sorgen. Die Inflation ist enorm hoch, und das trifft Menschen mit geringen Einkommen besonders hart. Ich versuche deswegen, auch auf neuen Kanälen wie Twitter und Youtube unsere Geldpolitik zu erklären. Wir haben da eine Bringschuld.

Hat es Sie überrascht, welche Emotionen das Thema hervorruft?

Nein. Vor der Corona-Pandemie war die Inflation lange Zeit niedrig und daher für die meisten Leute kein Thema. Aber wenn eine bestimmte Schwelle überschritten wird, wird die Inflation in der Öffentlichkeit plötzlich intensiv diskutiert. Und dann steigt die Erwartung an uns zu reagieren.

Aber was kann die EZB überhaupt ausrichten? Der wichtigste Preistreiber ist doch die teure Energie, auf die haben sie doch gar keinen Einfluss.

Es stimmt, dass die derzeit hohe Inflation vor allem von den Energiepreisen getrieben ist. Aber es ist nicht die Energie allein. Wir hatten im April nach erster Schätzung eine Inflation von 7,5 Prozent im Euroraum, das war etwas mehr als im Vormonat, obwohl die Energiepreisinflation leicht zurückgegangen ist. Die Kerninflation, bei der Energie und Lebensmittel nicht eingerechnet werden, hat deutlich angezogen auf 3,5 Prozent. Wir sehen also eine Verbreiterung des Inflationsdrucks.

Die Politik versucht ja zum Teil, die Folgen abzufedern, durch Subventionen oder Steuererleichterungen. Aber ist das nicht kontraproduktiv? Dadurch wird ja letztlich die Nachfrage gestärkt und damit auch die Inflation.

Es kommt vor allem darauf an, Menschen mit niedrigen Einkommen gezielt zu helfen, damit sie finanziell zurechtkommen. Außerdem ist es wichtig, keine falschen Anreize zu setzen. Es ergibt zum Beispiel wenig Sinn, den Energieverbrauch durch Preissubventionen zu fördern.

Ein Faktor, der die Inflation verstärken könnte, ist der relativ schwache Wechselkurs des Euro. Wie wichtig ist das?

Der Euro hat vor allem gegenüber dem Dollar an Wert verloren. Das hat über die erhöhten Importkosten Auswirkungen auf die Inflation, die wir genau beobachten. Aber wir verfolgen kein Wechselkursziel.

Wir groß ist Ihre Sorge, dass es zu einer Lohn-Preis-Spirale kommt? Die IG Metall fordert für die Stahlbranche eine Lohnerhöhung um 8,2 Prozent. In Frankreich steigt der Mindestlohn relativ deutlich.

Derzeit sehe ich so eine Spirale nicht, bei der Preise und Löhne sich gegenseitig hochschaukeln. Die Daten sind allerdings rückwärtsgewandt, und wir müssen vorausschauend Geldpolitik betreiben. Wir dürfen also nicht erst reagieren, wenn eine Lohn-Preis-Spirale bereits in Gang gekommen ist.

Welche Lohnentwicklung erwarten Sie denn für die Zukunft?

Es steht außer Zweifel, dass höhere Lohnforderungen kommen werden, wenn die Inflation längere Zeit so hoch bleibt. Wir müssen verhindern, dass sich die hohe Inflation in den Erwartungen festsetzt. Jetzt reicht es nicht mehr zu reden, wir müssen handeln.

Was heißt das genau?

Die Nettozukäufe von Anleihen unter dem Notfallprogramm PEPP haben wir bereits im März eingestellt. Nach heutiger Datenlage – und auf die Daten kommt es an – gehe ich davon aus, dass wir Ende Juni die Zukäufe unter unserem regulären Anleihekaufprogramm, kurz APP, beenden können.

Das heißt also, die EZB würde danach nur noch auslaufende Papiere ersetzen. Und wann kommt es zur ersten Zinserhöhung?

Aus heutiger Sicht halte ich eine Zinserhöhung im Juli für möglich. Wir müssen natürlich abwarten, wie sich die Daten bis zum Zeitpunkt der Entscheidung entwickeln. Der erste Zinsschritt kommt auf jeden Fall erst nach dem Ende der Nettozukäufe, darauf haben wir uns festgelegt.

Und wie viele Zinsschritte sollen es dann noch werden? Viele Ökonomen erwarten in diesem Jahr drei und im kommenden Jahr vier Schritte von jeweils einem Viertel Prozentpunkt.

Das entscheiden wir von Sitzung zu Sitzung auf Basis der dann vorliegenden Daten. Wir kommen von einem extrem niedrigen Ausgangsniveau. Die Realzinsen sind weiterhin deutlich negativ und in der Nähe ihrer historischen Tiefststände. Daher wird auch nach ersten Erhöhungen das Zinsniveau so niedrig bleiben, dass es die Wirtschaft weiterhin stützt. Wir sind noch ein ganzes Stück vom neutralen Zins entfernt, also dem Punkt, ab dem die Wirtschaft gebremst wird.

Zurzeit liegt der entscheidende Einlagenzins der EZB bei minus 0,5 Prozent. Wo liegt dieser neutrale Zins?

Dieser Zins ist nicht direkt beobachtbar und kann nur geschätzt werden. Wir haben ihn im EZB-Rat noch nicht im Detail diskutiert. Einige Schätzungen zeigen aber, dass er deutlich im positiven Bereich liegt.

In der Vergangenheit war es so, dass die EZB bei Zinsschritten unterhalb von null sehr langsam vorgegangen ist. Wäre das auch bei Erhöhungen so oder sind dann Schritte um 0,25 Prozentpunkte wahrscheinlicher?

Die Senkung der Zinsen unter null war Neuland, daher war es nötig, sich allmählich vorzutasten. Dieses Argument fällt weg, wenn man sich in die andere Richtung bewegt.

Warum hat die EZB so spät auf die steigende Inflation reagiert?

Die Inflation hat sich als hartnäckiger erwiesen als anfangs angenommen. Aber erinnern wir uns, wie sich das gesamtwirtschaftliche Umfeld seit vergangenem September immer wieder geändert hat. Zunächst dachten viele, dass wir mit der Impfung die Pandemie weitgehend überstanden hätten. Dann gab die neue Omikron-Variante Anlass zur Sorge. Als man erkannte, dass diese Variante milder ist, entspannte sich die Lage wieder. Und dann kam der furchtbare Krieg in der Ukraine.

Wie ist denn jetzt die Stimmung im Rat?

Der Rat hat insgesamt eine große Einigkeit. Es gibt natürlich unterschiedliche Meinungen, und Sie können davon ausgehen, dass bei unseren Sitzungen die gesamte Bandbreite an sinnvollen geldpolitischen Argumenten vorgebracht und diskutiert wird. Es ist das große Verdienst unserer Präsidentin Christine Lagarde, dass wir immer wieder zu einer gemeinsamen Linie finden.

Viele fürchten, dass es jetzt zu einer Stagflation kommt. Das heißt: Die Inflation steigt weiter, aber gleichzeitig fällt die Eurozone in eine Rezession – zum Beispiel, weil der Krieg eskaliert.

Natürlich dämpft der Krieg die wirtschaftliche Entwicklung. Aus heutiger Sicht gehe ich aber nicht davon aus, dass wir eine Stagflation bekommen, sondern sehe weiterhin ein Wachstum im positiven Bereich.

Wenn die Entwicklung schwieriger wird, kommt die EZB doch in ein Dilemma. Sie muss dann entscheiden, entweder die Inflation zu bekämpfen und eine mögliche Rezession noch zu vertiefen, oder die Preise laufen zu lassen.

Unser Mandat ist eindeutig: Wir müssen die Preisstabilität wahren, also die Preise mittelfristig stabil halten.

Es gibt noch ein anderes Dilemma, das häufig diskutiert wird. Wenn die EZB die Zinsen zu stark erhöht, dürfte das einzelne Länder mit hohen Staatschulden, etwa Italien, in Schwierigkeiten bringen. Daher rührt die Befürchtung, dass die EZB die Zinsen gar nicht so anheben kann, wie es aus geldpolitischen Gründen nötig wäre.

Auch hier gilt: Unser Mandat ist die Preisstabilität, und das allein bestimmt unsere Politik. Außerdem haben viele Länder in den letzten Jahren zu sehr niedrigen Zinsen Schulden aufgenommen und gleichzeitig die durchschnittlichen Laufzeiten verlängert. Eine Erhöhung der Zinsen wirkt sich daher nur allmählich auf die Finanzierungskosten der Staaten aus.

Aber auf Dauer kommt die Zinserhöhung dann doch im Staathaushalt an.

Entscheidend ist die wirtschaftliche Entwicklung. Daher ist es jetzt für die Euroländer so wichtig, die finanziellen Mittel des europäischen Corona-Aufbaufonds zu nutzen, um auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu kommen.

Aber was ist, wenn es doch zu einer spekulativen Attacke auf ein Land kommt, die die Renditen der Staatsanleihen dort unerträglich hochtreibt?

Bei abrupten Renditesprüngen, die keine fundamentale Rechtfertigung haben, werden wir entschieden gegensteuern. Wir werden eine spekulationsgetriebene Fragmentierung der Eurozone verhindern. Hierfür steht uns bereits ein Programm zur Verfügung, da wir die Ersatzkäufe für auslaufende Papiere unter dem PEPP nutzen können.

Die Rede war auch davon, dass es möglicherweise ein neues Instrument geben soll, das gezielte Hilfe für einzelne Euroländer ermöglicht. Wie könnte das aussehen?

Wir haben in der Vergangenheit, etwa in der Eurokrise und der Corona-Pandemie, gezeigt, dass wir sehr schnell maßgeschneiderte Instrumente schaffen können. Wir werden tun, was nötig ist, und die Programme so ausgestalten und gegebenenfalls an Bedingungen knüpfen, wie es zu der jeweiligen Lage passt.

Die Fed in den USA hat schon angekündigt, dass sie auslaufende Zinspapiere nicht mehr in vollem Umfang ersetzt, also ihre Bilanzsumme schrumpfen lässt. Was plant die EZB?

Es ist verfrüht, dies zu diskutieren. Wir werden die Wiederanlage auslaufender Anleihen erst eine längere Zeit nach der ersten Zinserhöhung beenden. Aber grundsätzlich ist es sinnvoll, die Anleihebestände ab einem späteren Zeitpunkt schrittweise abzubauen. Denn wir wissen, dass sie einen starken Einfluss auf die Hauspreise haben, die bereits erhöht sind. Und sie haben Einfluss auf die Zinsstruktur. Ein Finanzsystem, das auf Banken beruht, kann besser mit einer Situation leben, in der kurz- und langfristige Zinsen nicht zu eng beieinander liegen.

Vor der Pandemie war die Inflation im Euro-Raum und weltweit lange Zeit sehr niedrig. Wenn wir mal weit nach vorn schauen, in eine Zeit, in der hoffentlich Pandemie und Krieg überwunden sind und keine neue Krise auftaucht. Wie sieht die Finanzwelt dann aus?

Wahrscheinlich anders als vor der Pandemie. Einige Faktoren, etwa die Digitalisierung, könnten zwar weiterhin die Inflation dämpfen. Dem stehen aber andere Entwicklungen gegenüber, etwa ein möglicher Rückgang der Globalisierung und die grüne Wende. Diese dürften die Inflation mittelfristig eher erhöhen. Der zukünftig hohe Investitionsbedarf im privaten wie im öffentlichen Bereich dürfte zudem für höhere Zinsen sorgen. Wenn der Umstieg auf erneuerbare Energien gelingt, werden wir langfristig aber von niedrigeren Energiepreisen profitieren.

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