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Interview mit Handelsblatt

Interview mit Luis de Guindos, Vize-Präsident der EZB, geführt von Frank Wiebe und Jan Mallien

29 Juli 2021

Herr De Guindos, am Freitagabend werden die Ergebnisse des Stresstests der europäischen Banken bekanntgegeben. Was erwartet uns da?

Die Details veröffentlichen wir ja erst am Freitagabend, aber so viel kann ich schon jetzt sagen: Europas Banken sind robust, sie sind widerstandsfähig. Unser ungünstigstes Szenario ist diesmal noch anspruchsvoller als beim letzten Test 2018, und die Banken haben ja zudem gerade das schwierige Jahr 2020 verkraftet. Trotz dieser anspruchsvollen Ausgangslage erwarte ich, dass die Banken sich im Test im Großen und Ganzen gut geschlagen haben.

Der Durchschnitt ist das eine, die Verteilung das andere. Gab es große Ausreißer?

Sie haben recht. Die Spannbreite dürfte nicht größer als beim letzten Mal sein. Aber natürlich müssen wir die Banken, die klar unterdurchschnittlich abschneiden, besonders sorgfältig beobachten.

Bleiben wir beim Thema Finanzstabilität. Wir haben jetzt Jahre niedriger Zinsen und immer weiter steigender Kurse hinter uns. Vor allem in den USA werden auch Sorgen laut, dass die Verschuldung des Systems zunimmt. Wie besorgt sind Sie, dass eine weiterhin lockere Geldpolitik zu Blasen führt, die letztlich die Stabilität gefährden?

Wir haben im Euroraum einen geringeren Grad der privaten Verschuldung der Wirtschaft als in den USA. Es mag kleinere Bereiche des Wohnimmobiliensektors geben, wo eine Überhitzung droht, aber die gab es auch schon vor der Corona-Pandemie. Und wichtig ist: Die größte Gefahr für die Banken, nämlich ein starker Anstieg der Insolvenzen und Kreditausfälle, ist bisher nicht eingetreten, trotz der Befürchtungen, die wir zu Beginn der Pandemie hatten.

Aber grundsätzlich bleibt doch die Gefahr, dass eine lockere Geldpolitik auf Dauer Risiken mit sich bringt. Wie verhindern Sie, dass es zu gefährlich wird?

Bei der Formulierung unserer neuen Strategie haben wir eine Neuerung beschlossen, die aus meiner Sicht bisher zu wenig Beachtung findet. Die vorherigen zwei Säulen der Geldpolitik, die ökonomische und die monetäre Analyse, werden jetzt integriert. Unsere geldpolitischen Entscheidungen basieren auf der Einschätzung der ökonomischen Analyse sowie der monetären und finanziellen Analyse, und die letztere schließt ausdrücklich Überlegungen der Finanzstabilität mit ein. Das ist ein wichtiger Schritt. Im Übrigen ist unsere stimulierende Geldpolitik derzeit und bis auf Weiteres notwendig, um günstige Finanzierungsbedingungen aufrecht zu erhalten.

Das heißt, dass Finanzstabilität künftig eine prominentere Rolle spielt als bisher?

Ja, genau das.

Es gibt Befürchtungen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) es nie mehr schafft, ihre Geldpolitik zu normalisieren, weil höhere Zinsen zu gefährlich wären, vor allem für hoch verschuldete Staaten.

Die Normalisierung der Geldpolitik, und genauso der Fiskalpolitik, folgt der Normalisierung der Wirtschaft. Wenn die Erholung durchgreift, wenn die Wirtschaftsleistung wieder zurück auf Vorkrisenniveau ist, wieder entsprechend dem Potential wächst und die Inflation unser Ziel von zwei Prozent erreicht, dann sollten wir beginnen, die Geldpolitik zu normalisieren. Wir haben unser Mandat der Preisstabilität zu erfüllen, unter allen Umständen.

Aber es bleibt ein Berg von Staatsschulden.

Ja, das ist das Erbe der Pandemie. Insgesamt wird die öffentliche Verschuldung etwa 20 Prozentpunkte höher sein als vor der Pandemie. Und da ist ganz klar: Die Staaten, die besonders hoch verschuldet sind, müssen, wenn auch vorsichtig und nicht zu früh, einen glaubhaften Weg zurück zu soliden Finanzen finden. Die Märkte werden das verlangen. Es ist aber auch klar, dass die Staaten in der Krise agieren mussten, um die wirtschaftlichen Schäden der Pandemie einzugrenzen.

Viele Ökonomen glauben, dass die alten Regeln aus dem Maastricht-Vertrag von maximal zwei Prozent Haushaltsdefizit und maximal 60 Prozent Staatsverschuldung, beides in Prozent des Bruttoinlandprodukts, wegen der heute niedrigen Zinsen längst überholt sind.

Wie auch immer die genauen Regeln sind: Wichtiger ist es, dass die Staaten ihren Verschuldungsgrad reduzieren. Das sollte aber erst dann geschehen, wenn die Krise abgeklungen ist.

Braucht es auf europäischer Ebene eine zentrale fiskalische Autorität, auch, damit die EZB für ihre Geldpolitik einen einheitlichen Gegenpart hat, statt 19 verschiedene Regierungen?

Ja, wir brauchen eine zentrale Fiskalkapazität auf europäischer Ebene. Sie würde ein Schlüsselement werden für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Aber die Voraussetzung dafür wäre eben, dass die fiskalischen und finanziellen Profile der einzelnen Euroländer sich annähern.

Wäre es dafür hilfreich, dass die Inflation in Deutschland etwas höher bleibt als in schwächeren Euroländern?

Genau das haben wir im Vergleich etwa zu Spanien seit 2011 gesehen. Und es hat sich in einem Leistungsbilanzüberschuss Spaniens von 2013 bis heute niedergeschlagen.

In der Pandemie, und davor schon in einer langen Phase niedriger Inflation, war eine gewisse Koordination von Geld- und Finanzpolitik wichtig. Außerdem haben in der Situation ja beide Bereiche in dieselbe Richtung gearbeitet. Was aber, wenn es später bei höherer Inflation zwischen beiden Bereichen geben sollte?

Ohne diese gemeinsame Anstrengung von Geld- und Finanzpolitik stünden wir heute weitaus schlechter da in Bezug auf Inflation, Wachstum und Beschäftigung.

Gehen wir mal in die geldpolitischen Details. Die EZB hat in ihrer Juli-Sitzung eine etwas komplizierte Formel zu der Frage beschlossen, wann die Zinsen wieder steigen können. Manche Beobachter übersetzen das einfach mit: Sie bleiben noch länger niedrig. Ist das die korrekte Deutung?

Wir haben mit großer Mehrheit beschlossen, die Zinsen dann anzuheben, wenn wir absehen können, dass die Inflation deutlich vor Ende unseres Projektionszeitraums unseren Zielwert von zwei Prozent erreicht und zudem auch dauerhaft dort bleibt, mindestens bis zum Ende des Projektionszeitraums, der zurzeit bis 2023 reicht. Wir müssen außerdem Fortschritte in der unterliegenden Inflation erkennen können. Derzeit ist das nicht der Fall. Wir sehen zwar im Moment Inflationsraten von knapp zwei Prozent im Euroraum, erwarten aber für das nächste Jahr geringere Werte, die anschließend auf diesem Niveau bleiben.

Aber auf welcher Grundlage ist das für Sie absehbar?

Wir haben eine ganze Reihe von Kennziffern dafür. Aber das Kernelement sind die offiziellen Prognosen der EZB-Ökonomen und vor allem die Einschätzung des EZB-Rates.

Genauso wichtig wie die kurzfristigen Zinsen sind die Anleihekäufe der EZB. Das Pandemie-Programm PEPP mit einem Gesamtvolumen von 1,85 Billionen Euro läuft frühestens Ende März 2022 aus. Wann erfahren wir, ob es dann tatsächlich beendet wird?

Wir haben noch Zeit, über die Zukunft des PEPP zu entscheiden. Im September legen wir die Käufe im vierten Quartal fest, im Dezember geht es dann um das erste Quartal 2022.

Und wovon hängt die Entscheidung ab?

Wenn die Notsituation vorbei ist und deren dämpfender Einfluss auf die Inflationsentwicklung, dann sollte PEPP beendet werden.

Und wie definieren Sie, dass die Notsituation vorbei ist?

Das ist in erster Linie eine medizinische Frage. Es hängt davon ab, ob die Impfungen die Delta-Variante erfolgreich eindämmen, oder ob sich etwa weitere, resistentere Varianten bilden.

Und wann ist wirtschaftlich Normalität erreicht?

Manche sagen, wenn wir dasselbe Level haben wie vor der Pandemie. Ich würde eher sagen, wenn wir den Wachstumspfad von vorher wieder erreicht haben.

Kann es sein, dass das laufende Programm APP, zurzeit mit 20 Milliarden Euro Nettozukäufen pro Monat, nach dem März aufstockt wird, wenn PEPP gestoppt wird?

Es gibt mehrere Optionen. Wichtig ist aus meiner persönlichen Sicht: Es darf keinen Klippeneffekt geben, wenn PEPP ausläuft. Wir brauchen noch für längere Zeit eine spürbare geldpolitische Unterstützung der Wirtschaft. Selbst wenn die Erholung gut läuft, bleibt vieles unsicher.

PEPP ist ja flexibler als APP. Unter PEPP können auch abweichend vom Kapitalschlüssel, also der Gewichtung nach wirtschaftlicher Größe und Bevölkerung gezielt Papiere einzelne Länder gekauft werden. Wäre es sinnvoll, diese Flexibilität auf APP zu übertragen?

Wir sind zu Beginn der Pandemie etwas vom Kapitalschlüssel abgewichen, und das war durchaus hilfreich. Aber danach entsprachen die Anleihenkäufe im Wesentlichen den Gewichtungen des Kapitalschlüssels.

Glauben Sie, dass im EZB-Rat im Herbst, wenn diese Fragen diskutiert werden, zunehmende Spannungen gibt?

Wir sind im Rat der EZB 25 sachkundige Leute. Ich respektiere, dass es da verschiedene Meinungen geben kann.

Kommen wir zum Kern der Geldpolitik: der Inflation. Vor allem in den USA gibt es eine lebhafte Debatte darüber, ob sie nur zeitweise ansteigt, oder ob es zu einer dauerhaft höheren Preissteigerung kommt. Wie sehen Sie das?

Unsere Situation ist völlig anders als in den USA. Dort liegt die Inflation deutlich über 5 Prozent. Für den Euroraum erwarten wir den Höhepunkt im November mit etwa 3 Prozent. Im kommenden Jahr wird das Tempo wieder abnehmen, weil dann einige Sondereffekte, etwa die vorübergehende Senkung der deutschen Mehrwertsteuer im Jahr 2020, nicht mehr in die Rechnung eingehen.

Aber was ist, wenn die Menschen sich an höhere Preissteigerungen gewöhnen und entsprechend reagieren?

Wir müssen mögliche Zweitrundeneffekte, etwa mehr Druck bei Lohnverhandlungen oder die Indexierung von Renten und Löhnen im öffentlichen Dienst, sehr sorgfältig im Blick behalten. Denn natürlich darf aus einer vorübergehenden keine strukturelle Inflation werden. Bisher gibt es dafür keine Anzeichen, aber wir sollten wachsam bleiben.

Kommen wir noch einmal zurück zur Finanzstabilität. Wie besorgt sind Sie mit Blick auf Kryptowährungen wie zum Beispiel Bitcoin?

Ich würde nicht von Währungen sprechen, sondern Krypto-Assets. Bisher sehen wir nicht, dass sie die Stabilität des Systems gefährden, aber das kann sich in Zukunft natürlich ändern. Wir sollten den Bürgern immer wieder sagen, dass sie sich damit auf eine hochspekulative Anlage einlassen, für deren Bewertung es allenfalls eine sehr schwache fundamentale Begründung gibt.

Ist der Bitcoin der Anstoß, einen digitalen Euro zu schaffen?

Das ist ein völlig anderes Thema, es geht um eine digitale Ergänzung zum Bargeld. Aber auch hier müssen wir natürlich Überlegungen der Finanzstabilität einbeziehen. Der digitale Euro ist eine Ergänzung zu Bargeld und den Dienstleistungen der Banken. Er wird den Bürgern neue Möglichkeiten in der digitalen Welt eröffnen.

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