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Interview mit Handelsblatt

Interview mit Isabel Schnabel, geführt von Jan Mallien und Frank Wiebe

3 November 2020

Frau Schnabel, eine neue Corona-Welle, ein neuer Lockdown. Wiederholt sich auf der wirtschaftlichen Ebene, was wir bereits im Frühjahr erlebt haben?

Nein, diesmal dürften die Auswirkungen geringer sein, weil der Lockdown zielgenauer ist. Den Dienstleistungsbereich trifft es hart, aber die Industrie wird nicht heruntergefahren und profitiert davon, dass China sich gut erholt hat. Nach einem überraschend guten dritten Quartal werden wir am Jahresende aber voraussichtlich eine deutliche Abschwächung des Wachstums erleben.

Tun die Regierungen genug, um die Folgen abzumildern?

Der Fiskalpolitik wird erneut eine wichtige Rolle zukommen. In Deutschland sind ja schon neue Maßnahmen beschlossen worden.

Reicht es aus, was von den Regierungen auf europäischer Ebene beschlossen wurde? Brauchen wir da noch zusätzliche Programme?

Zunächst einmal ist jetzt wichtig, dass die bestehenden Programme rasch umgesetzt werden. Das gilt vor allem für den Aufbaufonds der Europäischen Union (EU).

Haben wir hier einen Hamilton-Moment, also die erstmalige Zentralisierung der europäischen Finanzen, ähnlich wie Alexander Hamilton das nach Gründung der USA geschaffen hat?

Das europäische Paket ist ein wichtiger Schritt. Entscheidend ist aber, dass diese Mittel für wachstumsfördernde Investitionen eingesetzt werden, etwa zur Förderung der Klimawende oder der Digitalisierung. Ansonsten könnte es bei der europäischen Integration sogar zu einem Rückschritt kommen, weil die Skeptiker sich dann bestätigt fühlen.

Die einzelnen Euroländer sind sehr unterschiedlich von der Krise betroffen. Ist das eine Gefahr für den Euro?

Die Pandemie hat die Mitgliedstaaten des Euroraums unterschiedlich hart getroffen, was auch mit den Wirtschaftsstrukturen zusammenhängt, zum Beispiel mit der Bedeutung des Tourismus. Und die Regierungen haben unterschiedlich große finanzielle Spielräume, um auf die Krise zu reagieren. Genau deshalb ist das europäische Fiskalpaket so wichtig, das die Mitgliedstaaten entsprechend der Härte des Schocks unterstützt. Die EZB sorgt mit dem Notfallankaufprogramm PEPP dafür, dass unsere Geldpolitik weiterhin in allen Ländern wirkt und zu günstigen Finanzierungsbedingungen beiträgt. Fiskal- und Geldpolitik haben das Vertrauen in den Euro gestärkt.

Die Anleihekäufe sollen unter anderem ein stärkeres Abrutschen der Inflation verhindern. In den vergangenen Jahren ist die Inflation stetig niedriger ausgefallen als die EZB und viele andere Notenbanken auf der Welt prognostiziert haben. Warum lagen die Prognosen so weit daneben?

Viele Schätzmodelle basieren auf der Annahme, dass sich die Inflation immer wieder einem langfristigen Durchschnitt annähert. Strukturelle Trends wie der demografische Wandel oder globale Schocks wie die Finanzkrise und die Corona-Pandemie sind darin schwer abzubilden.

Was meinen Sie genau?

Nach der Finanzkrise hat man unterschätzt, wie langfristig ein solcher Schock die Inflation drückt. Ein ähnliches Problem könnte durch die Pandemie entstehen. Wir haben hierzu wenige Daten aus der Vergangenheit. Zudem werden für die Inflationsprognosen oft nur Punktschätzungen genannt. Tatsächlich sind die Prognosen aber mit großer Unsicherheit behaftet – vor allem in der aktuellen Situation.

Das Notprogramm PEPP war als temporäre Reaktion auf die Corona-Pandemie vorgesehen, unter anderem um ein Abrutschen der Inflation zu verhindern. Wenn die Pandemie nun aber die Inflation sehr langfristig drückt, muss dann nicht auch das PEPP-Programm noch über viele Jahre laufen?

Nein. PEPP wurde ausdrücklich wegen der Pandemie geschaffen. Nach der Krise müssen wir irgendwann auf unser normales Instrumentarium zurückgreifen, um die Inflationsrate auf das Niveau zurückzubringen, das im Einklang mit unserem Mandat der Preisstabilität steht. Aber davon sind wir noch weit entfernt.

Auch wenn sich die Krise länger auf die Inflation niederschlägt?

Beim PEPP gibt es eine Nettoaufkaufphase, in der wir zusätzliche Anleihen kaufen, und eine Reinvestitionsphase, in der wir den Anleihebestand konstant halten, indem wir auslaufende Papiere ersetzen. Ich könnte mir vorstellen, dass man die längerfristigen Auswirkungen beispielsweise bei der Länge der Reinvestitionsphase berücksichtigt.

Aber es wäre doch möglich, die Flexibilität von PEPP auf andere Programme zu übertragen.

Darüber haben wir im EZB-Rat nicht gesprochen.

Bis zum Dezember will die EZB den Einsatz aller geldpolitischen Instrumente überprüfen. Kann es da zu einem völlig anderen Mix kommen als im Frühjahr?

Vor jeder geldpolitischen Entscheidung stellen wir uns die Frage, welche Maßnahmen in der gegebenen Situation am geeignetsten sind. Die Situation heute ist anders als im März. Das wird sich vermutlich in der Ausgestaltung der Instrumente widerspiegeln. Damals ging es zunächst darum, die Finanzmärkte zu stabilisieren. Heute sind die Finanzierungsbedingungen hingegen historisch günstig.

Wäre es dann jetzt denkbar, den Einlagensatz für die Banken, der zurzeit bei minus 0,5 Prozent liegt, noch abzusenken?

Unsere Analyen zeigen, dass eine weitere Senkung möglich wäre, ohne an den Punkt zu gelangen, an dem sie nicht mehr wirkt oder sogar schadet. Aber es gibt keinerlei Vorentscheidung in diese Richtung. Wir wägen bei jeder Entscheidung ab, wie sie wirkt, ob sie verhältnismäßig ist und welche Nebenwirkungen sie hat. Diese Abwägung der Verhältnismäßigkeit ist immer Teil unserer Entscheidungsfindung.

Brauchen die Banken möglicherweise noch mehr Unterstützung? Es ist ja absehbar, dass es zu mehr Insolvenzen und damit auch Kreditausfällen kommt.

In dieser Krise sind die Banken bislang ein Teil der Lösung und nicht das Problem. Sie haben geholfen, die Folgen der Pandemie abzumildern. Ein Teil der Risiken wird über staatliche Garantien abgefedert, aber wir müssen zukünftig mit einem Anstieg der notleidenden Kredite rechnen. Es besorgt uns, dass manche Banken laut Umfragen die Kreditstandards verschärfen. Das beobachten wir genau. Der wirtschaftliche Abschwung darf durch den Bankensektor nicht noch verschärft werden.

Viele Sparer ärgern sich über die niedrigen Zinsen. Die EZB argumentiert, dass die nötig sind, um die zurzeit sehr niedrige Inflation in Richtung des gewünschten Ziels von zwei Prozent zu drücken. Warum argumentieren Sie nicht mit einfacher nachvollziehbaren Argumenten? Zum Beispiel damit, dass Sie die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen?

Wir weisen regelmäßig darauf hin, dass unsere Geldpolitik die wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen unterstützt, indem sie die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen und Haushalte verbessert. Aber das primäre Mandat der EZB ist es laut den EU-Verträgen nun einmal, für Preisstabilität zu sorgen. Als sekundäres Mandat haben wir die Aufgabe, die Wirtschaftspolitik der EU zu unterstützen – sofern dadurch die Preisstabilität nicht gefährdet wird.

Damit kommen Ziele der EU wie Vollbeschäftigung und der Kampf gegen den Klimawandel ins Spiel.

Häufig stehen die Ziele der EU im Einklang mit dem Ziel der Preisstabilität. Bei einer akuten Schwäche der Nachfrage etwa hilft eine expansive Geldpolitik, die Preise stabil zu halten und lindert zugleich die Arbeitslosigkeit. Die Frage, wie wir das am besten kommunizieren, spielt sicher eine Rolle bei der gerade laufenden Überprüfung unserer geldpolitischen Strategie.

Und was ist, wenn sich die Ziele widersprechen?

Dann hat die Preisstabilität zwar Vorrang, aber wir haben eine gewisse Flexibilität, weil wir unser primäres Ziel auf mittlere Sicht anstreben. Wir können also etwas behutsamer reagieren, um die Auswirkungen auf die Beschäftigung abzumildern.

Müsste die EZB, wenn sie die allgemeinen wirtschaftlichen Ziele der EU unterstützen soll, nicht enger an die Politik des Europäischen Parlaments anknüpfen?

Wir sind Beobachter der Politik. Innerhalb unseres Mandats haben wir gewisse Spielräume, Abwägungen zu treffen, welche sekundären Ziele wir neben der Preisstabilität wie stark verfolgen können. Wir stehen mit dem Europäischen Parlament in einem regelmäßigen Dialog, wir nehmen aber keine Weisungen entgegen.

Warum begründen Sie dann den Kampf gegen den Klimawandel damit, dass er Einfluss auf die Preise hat? So ließen sich doch alle möglichen anderen Bereiche auch noch als Aufgabe der EZB definieren, zum Beispiel der demografische Wandel, der hat doch sicher auch irgendeinen Einfluss auf die Preise.

Den demografischen Wandel können wir kaum beeinflussen. Beim Umbau der Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität spielen Banken und Kapitalmärkte hingegen eine entscheidende Rolle. Als Bankaufseher und zentraler Akteur im Finanzmarkt kommen wir nicht umhin, uns ernsthaft Gedanken zu machen, welche Rolle wir spielen können.

Aber wie groß ist dieser Einfluss? Wecken Sie nicht viel zu hohe Erwartungen?

Wir haben stets betont, dass in erster Linie die Regierungen für die Klimapolitik verantwortlich sind. Der Schlüssel hierzu ist es, den Ausstoß von CO2 ausreichend zu verteuern, idealerweise global. Wir können keine Klimapolitik betreiben, aber wir können sie unterstützen.

Aber wie genau?

Es gibt viele Bereiche, und manche davon sind unstrittig. Zum Beispiel müssen wir die Risiken des Klimawandels – und der Klimapolitik – und deren Auswirkungen auf die Geldpolitik in unseren Modellen besser berücksichtigen. Diese Risiken haben auch Auswirkungen auf die Bankenaufsicht und die Finanzstabilität.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn zum Beispiel klimaschädliche Energieproduktion verboten oder stark verteuert wird, verlieren die entsprechenden Anlagen an Wert. Das betrifft die Bewertung der Bankkredite, aber auch die Frage, welche Wertpapiere wir als Sicherheiten für EZB-Kredite akzeptieren können und welche Sicherheitsabschläge wir verlangen.

Weitaus umstrittener sind aber die Fragen, ob die EZB bei Anleihekäufen Klimagesichtspunkte beachten sollte. Und nach welchen Kriterien sich das richten soll.

Die EU entwickelt derzeit Kriterien, und bis 2022 soll diese Taxonomie einsatzbereit sein. Aber man sollte nicht vergessen, dass das zunächst lediglich die Unternehmensanleihen betreffen würde, während wir hauptsächlich Staatsanleihen kaufen. Allerdings könnten hier durchaus Klimakriterien stärker berücksichtigt werden.

Wie wird denn am Ende die Klimastrategie der EZB aussehen?

Genau das wird in der Strategieüberprüfung besprochen. Bislang gibt es dazu noch keine Beschlüsse. Aber vielen ist klar, dass wir uns der Verantwortung stellen müssen.

Notenbanker behaupten ja oft, sie seien gar nicht verantwortlich für die niedrigen Zinsen, sondern folgten damit nur einem großen Trend in der Realwirtschaft, der unter anderem durch die zunehmende Alterung der Bevölkerung und damit ein großes Bedürfnis zu sparen bedingt sei. Aber wie sicher sind Sie, dass die Notenbank nicht doch wenigstens zum Teil die realen Zinsen drückt?

Die Frage ist in der Wissenschaft umstritten. Aber nach weit verbreiteter Auffassung ist der Trend zu niedrigen Zinsen jedenfalls zu einem sehr großen Teil nicht von der Geldpolitik verursacht worden. Diese Entwicklung hängt vielmehr davon ab, wie innovativ und wachstumsstark eine Wirtschaft ist. Das sind langfristige Prozesse, die wir kaum beeinflussen können. Unsere Aufgabe als Zentralbank ist es, die Nachfrage in der Wirtschaft so zu stimulieren oder zu bremsen, dass die Menschen sich auf die Preisstabilität verlassen können.

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