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Christine Lagarde
The President of the European Central Bank
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Laudatio

Laudatio von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, für Angela Merkel bei der Verleihung des Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen am 16. Mai 2023

Köln, 16. Mai 2023

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela,

sehr geehrter Herr Ministerpräsident Wüst,

sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine Ehre, liebe Angela, heute hier anlässlich der Verleihung des Staatspreises des Landes Nordrhein-Westfalen, der höchsten Auszeichnung des Landes, die Laudatio für dich zu halten.

Wir befinden uns an den Ufern des Rheins in der wunderschönen Stadt Köln, dem Geburtsort von Konrad Adenauer, der einst Kölns Oberbürgermeister und später Deutschlands erster Bundeskanzler war. Ich bin mir sicher, dass dir die Symbolik dieses Ortes nicht entgangen ist.

Es gibt wichtige Berührungspunkte zwischen den Lebenswegen von dir und Konrad Adenauer. Rund 40 Jahre nach ihm übernahmst du als erste Frau das Amt der Bundeskanzlerin. Erst kürzlich wurde dir das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland in besonderer Ausführung verliehen. Als Bundeskanzler erhielten zuvor nur Helmut Kohl und Konrad Adenauer diese Auszeichnung.

Im Kanzleramt schmückte ein Porträt Konrad Adenauers von Oskar Kokoschka dein Büro. Dieses Bild hielt die Erinnerung an die deutsche Nachkriegsgeschichte und deine Vorgänger wach.

Adenauer war dir aber auch in viel grundsätzlicherer Weise ein Vorbild.

Ihr beide habt ein tiefes Verständnis und eine große Wertschätzung für die Demokratie. Laut Adenauer ist Demokratie mehr als eine parlamentarische Regierungsform, sie ist eine Weltanschauung, die wurzelt in der Auffassung von der Würde, dem Wert und den unveräußerlichen Rechten eines jeden einzelnen Menschen.[1]

Du bist in einer Diktatur aufgewachsen und weißt besser als viele andere, dass Demokratie und Freiheit keine Selbstverständlichkeit sind. Beides muss hart erkämpft werden und kann schnell verloren gehen. In einer Rede anlässlich der deutschen Wiedervereinigung hast du 2021 gesagt: „Demokratie ist nicht einfach da, sondern wir müssen immer wieder für sie miteinander arbeiten, jeden Tag.“[2]

Und das hast du – genau wie Adenauer – während deiner gesamten politischen Karriere getan. Dieser Grundsatz hat deine Regierungszeit geprägt. Du warst der Gegenpol zum wachsenden Populismus, den der Autor Moisés Naím als neue, bösartige Form von Macht beschreibt, welche die Demokratie imitiert und gleichzeitig untergräbt.[3]

Wie zuvor Adenauer hast du dich unbeirrt für die europäische Einheit eingesetzt und das europäische Projekt durch unglaublich schwierige Zeiten geführt.

Die deutsch-französische Versöhnung nach dem Krieg war maßgeblich von der Freundschaft zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle beeinflusst. Die Beziehung zwischen beiden Ländern lebte wieder auf und vertiefte sich mit der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags im Jahr 1963. Beide Politiker waren Wegbereiter für den Fortschritt der europäischen Integration, der folgen sollte.

Auch du machtest dich dafür stark, Deutschland als zuverlässigen und stabilen Partner in Europa zu positionieren. So verfügte die Union in Krisenzeiten, in denen sie sonst hätte zerbrechen können, über einen Anker. Dir war klar, dass die Zukunft Deutschlands und die Zukunft Europas untrennbar miteinander verbunden sind und ein starkes und vereintes Europa den Wohlstand deines Landes am besten sichern konnte. Dabei warst du trotz der großen Herausforderungen dieser Zeit erfolgreich.

Vor allem aber, Angela, bist du, wie du bist. Einzigartig, unvergleichlich, unnachahmbar. Dein Erfolg und deine bemerkenswerte Karriere gehen meiner Ansicht nach auf drei Eigenschaften zurück.

Erstens deine Neugierde und deine Sorgfalt, die es dir ermöglichen, die komplexesten Probleme zu verstehen und Lösungen zu finden. Das ist für mich Angela, „die Wissenschaftlerin“.

Zweitens deine Bescheidenheit bei der Suche nach einem Konsens, während andere möglicherweise von ihrem Ego zurückgehalten werden, und dein Fingerspitzengefühl beim Zustandebringen einer Einigung. Das ist Angela, „die Pragmatikerin“.

Drittens deine innere Stärke und deine Entschlossenheit, deine zutiefst verankerten Werte zu verteidigen, wenn sie besonders stark gefährdet sind. Das ist Angela, „die moralische Instanz“.

Ich möchte nun näher auf diese drei Eigenschaften eingehen.

Die Wissenschaftlerin

Du erzählst manchmal, wie schwierig es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen. Diese Situation weckte aber auch Qualitäten in dir, die – von außen betrachtet – für deinen Erfolg unentbehrlich waren.

Informationen waren nicht frei zugänglich, also hast du deine Neugierde entfaltet. Du hast all das gelernt, was du lernen konntest – und darüber hinaus auch das, was das sozialistische Regime dir nicht beibringen wollte. Offen die eigene Meinung zu vertreten, war gefährlich, das hast du schon früh begriffen. Du musstest lernen, umsichtig zu sein und dich auf dich selbst zu verlassen. Du hast mir einmal erzählt, dass du die wichtigsten Informationen auswendig gelernt hast – um keine Spur für die Stasi zu hinterlassen.

Dann hast du dich für ein Physikstudium entschieden. So konntest du auch in einer Diktatur dir selbst treu bleiben. „Zwei mal zwei mussten auch unter Honecker vier bleiben“, hast du hierzu gesagt.[4] Hätte es die Deutsche Demokratische Republik nicht gegeben, hättest du gerne Sprachen unterrichtet.[5] Stattdessen wurdest du wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften in Ostberlin und promoviertest am Zentralinstitut für Physikalische Chemie.

Und dann passierte etwas, dass du nicht erwartet hattest: es kam zum friedlichen Fall der Mauer. „Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit.“, so hast du es 2005 in deiner Regierungserklärung vor dem Bundestag ausgedrückt. „Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter.“[6]

Plötzlich hattest du die Möglichkeit, zu tun, was du wirklich tun wolltest. Du hast die Physik verlassen und bist in die Politik gegangen, wo du rasch Karriere gemacht hast. Du wurdest 1990 in den Bundestag gewählt und warst schon bald Bundesministerin für Frauen und Jugend im Kabinett von Helmut Kohl.

Du wolltest die Zukunft des wiedervereinten Deutschlands mitgestalten. Auch wenn eine politische Karriere nicht dein Plan gewesen war, so konntest du die analytische Sorgfalt einer wissenschaftlichen Ausbildung, die Neugier der Forscherin – und die unablässige Suche nach der Wahrheit – in deine politische Arbeit einbringen.

Das ist mir sofort aufgefallen, als wir uns im Jahr 2005 kurz nach deiner Vereidigung bei einem deutsch-französischen Regierungstreffen kennenlernten. Ich fand es sehr erfrischend, einer Frau in diesem Amt zu begegnen, vor allem einer so jungen, unerschrockenen und brillanten Frau.

Damals war ich Handelsministerin in der Delegation von Präsident Jacques Chirac. Wir haben über das erste gemeinsame deutsch-französische Geschichtsbuch für Schulkinder gesprochen. Du hast die Initiative gelobt und angemerkt, dass sie die Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich vertiefen würde. „Alles beginnt mit Bildung“, lautete dein Kommentar.

Und dafür bist du, Angela, der lebende Beweis.

Die Pragmatikerin

In der Politik reicht es aber nicht, zu wissen, was zu tun ist. Man muss auch wissen, wie man es tut. Die Politikerinnen und Politiker, die in die Geschichte eingehen, verbinden die sorgfältige Analyse einer Situation mit der Fähigkeit, andere um sich zu versammeln und tatsächliche Veränderungen zu bewirken.

Genau das machst du, Angela.

Du hast in der Politik schnell deinen Weg gefunden, sehr zur Überraschung vieler deiner männlichen Kollegen. Grund dafür war, dass du eine andere Herangehensweise hattest, du warst nicht so sehr auf das Ego fixiert, sondern eher ergebnisorientiert. Du warst eine Pragmatikerin im wahrsten Sinne des Wortes. Du hast dich tief in komplexe Themenbereiche eingearbeitet und nach Verhandlungsspielräumen gesucht, und es dann geschafft, die Beteiligten zusammenzubringen und gemeinsam Lösungen zu finden.

Das ist eine deiner großen Stärken. Dass du daran auch Freude hattest, konnte ich zum Beispiel bei den G-20-Treffen beobachten. Dort bist du auf Vertreterinnen und Vertreter anderer Länder zugegangen und hast das Gespräch gesucht. Du hast zugehört, diskutiert und verhandelt. Du hast mit den Kolleginnen und Kollegen gesprochen, die das Kommuniqué für das Treffen verfassen, hast selbst den Stift gezückt, Passagen gestrichen und dafür gesorgt, dass zentrale Aussagen aufgenommen werden.

Das habe ich bei anderen Staats- und Regierungschefs noch nie erlebt – und in vielen Schlüsselmomenten hat es den entscheidenden Unterschied gemacht.

Dein inklusiver und konsensorientierter Führungsstil hat entscheidend dazu beigetragen, dass ein Kompromiss gefunden werden konnte, als die Zukunft Griechenlands im Euroraum auf dem Spiel stand. An einem Wochenende im Juli 2015 hatten wir eine Krisensitzung, die bis in die frühen Morgenstunden andauerte. Viele waren bereits gegangen, aber du bist zusammen mit mir und einigen anderen geblieben, bis eine Lösung gefunden war. Damals war ich geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds. Wir konnten Griechenland im Euroraum halten, und dabei hast du eine entscheidende Rolle gespielt. Bei einem Austritt Griechenlands wären die Auswirkungen viel schwerwiegender gewesen, als es die Risiken eines weiteren Rettungspakets hätten sein können. Wie wir heute wissen, war es die richtige Entscheidung, auch wenn damals nicht alle davon überzeugt waren und einige ihre Zweifel hatten.

Dein großes Interesse daran, komplexe Themen zu durchdringen und dich tief in die Materie einzuarbeiten, kam dir bei diesen intensiven Sitzungen zugute. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ausführlich du dich mit den IWF-Modellannahmen zur Tragfähigkeit der griechischen Staatsverschuldung befasst hast. Glücklicherweise hielten unsere Berechnungen deiner Prüfung weitgehend stand, aber dir war es wichtig, sie zu prüfen und in ihrer Gänze zu verstehen. Nur selten zeigt jemand in deiner Position so viel Liebe zum Detail. Das hat mich beeindruckt.

Dass du immer am besten vorbereitet warst, war aber kein Zufall. Schon in der Schule warst du Klassenbeste, und diese Arbeitsmoral ist dir erhalten geblieben. Die Materie bis ins Detail zu verstehen, hatte einen weiteren Vorteil: du warst nicht auf andere angewiesen. Du konntest die Dinge selbst in die Hand nehmen und Ergebnisse liefern, die niemand sonst hätte erzielen können.

Die moralische Instanz

Dein Pragmatismus wurde jedoch nie zu Opportunismus. Dafür sorgte dein klarer moralischer Kompass. Und dass ist die dritte Eigenschaft, Angela, die dich auszeichnet: deine moralische Stärke.

Du hast Deutschland vier Amtszeiten lang, für insgesamt 16 Jahre, als Kanzlerin gedient. Allem, was du in diesen 5 860 Tagen als Kanzlerin getan hast, lagen deine Werte zugrunde. Du bist deinem moralischen Kompass auch in Zeiten gefolgt, als es (noch) keine Mehrheit für deine Entscheidungen gab. Deine Fixpunkte waren Freiheit und Demokratie, das Wohl der Menschen in Deutschland und die Stärke der Europäischen Union. Für überzogene Ideologie war kein Platz.

Du bist in einer Diktatur aufgewachsen, umgeben von Mauern und Zäunen, und auch deshalb hast du die Augen nicht vor dem Leid und der Not anderer verschlossen. Dies zeigte sich besonders deutlich, als Hunderttausende von Menschen im Sommer 2015 vor Krieg und Armut flüchteten. Andere bauten Zäune und schlossen ihre Grenzen, du aber hast die Grenzen deines Landes offen gehalten. Du hast diejenigen, die Zuflucht suchten, willkommen geheißen.

Für diese Entscheidung wurde dir weltweit Anerkennung gezollt, im eigenen Land wurdest du aber scharf kritisiert. Du hast dich nicht beirren lassen. Du hast zu deiner Entscheidung gestanden – weil du das Richtige tun wolltest.

Der Nobelpreisträger Heinrich Böll – ebenfalls ein Sohn der Stadt Köln – hat gesagt: „Freiheit wird nie geschenkt, immer nur gewonnen.“ Mit deinem Handeln hast du diesen Menschen die Möglichkeit geben die Freiheit zu finden, dort wo du sie Jahre zuvor gefunden hast.

Du wurdest oft unterschätzt, weil du eine Frau bist und auch, weil du aus Ostdeutschland stammst. Häufig warst du die Außenseiterin, die niemand so recht einzuordnen wusste. Aber du hast dich darüber nicht aufgeregt oder geärgert, sondern du hast es zu nutzen gewusst – gegen deine Widersacher und zum Vorteil von vielen Millionen Menschen, denen dein Mitgefühl und deine Überzeugungen zugute gekommen sind.

Schlussbemerkungen

Ich möchte nun zum Schluss kommen.

Als erste Frau in diesem Amt hast du als Bundeskanzlerin dein Land und Europa durch zahlreiche Krisen geführt: die große Finanzkrise, die europäische Schuldenkrise, die Flüchtlingskrise und die Coronavirus-Pandemie. Besonders nach der Pandemie und inmitten eines globalen Trends der Fragmentierung ist deutlich geworden, dass wir Europa mehr brauchen als je zuvor, um unsere Kräfte zu bündeln und unsere Schwächen auszugleichen.

Du warst der Gegenpol zu neu entstehenden populistischen Bewegungen, die von Fake News und falschen Narrativen zehren und die Gesellschaft polarisieren. Du hast für Einheit gestanden, als andere Zwietracht säten.

In deiner gesamten Karriere hast du dich von deinem Respekt gegenüber den kostbaren Werten Demokratie und Freiheit leiten lassen. Das gilt auch für deinen freiwilligen Rückzug aus der Politik, als du das Gefühl hattest, dass es an der Zeit für eine Veränderung war.

Die Menschen in Deutschland und Europa können stolz darauf sein, eine solch charakterfeste Politikerin gehabt zu haben. Mit Geduld, Pragmatismus und Beharrlichkeit hast du Tag und Nacht dafür gearbeitet, den Wohlstand der Menschen zu sichern.

Liebe Angela, du warst eine außergewöhnliche Führungspersönlichkeit in außergewöhnlichen Zeiten.

Herzlichen Glückwunsch!

  1. K. Adenauer (1946), Die Demokratie ist für uns eine Weltanschauung – Aus einer Grundsatzrede zum Programm der CDU, 6. März 1946.

  2. A. Merkel, Rede anlässlich des Festakts zum Tag der Deutschen Einheit, 3. Oktober 2021.

  3. M. Naím, The Revenge of Power – How Autocrats Are Reinventing Politics for the 21st Century, St Martin’s Press, New York, 2022.

  4. E. Roll, Die Kanzlerin – Angela Merkels Weg zur Macht, Ullstein, Berlin, 2009, S. 108.

  5. E. Weber, Merkel – Macht der Freiheit, Dokumentation, Netflix.

  6. A. Merkel, Regierungserklärung, 30. November 2005.

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