Baustelle Europa - politische Integration und wirtschaftliche Konvergenz in der Währungsunion
Rede von Yves Mersch, Mitglied des Direktoriums der EZB, auf dem Bankenabend der Hauptverwaltung in Bayern der Deutschen Bundesbank, München, 22 November 2018
Sehr geehrte Damen und Herren,
Europa hat kein Erkenntnisproblem, Europa hat ein Umsetzungsproblem.
Viele der Schwachstellen und Unzulänglichkeiten im europäischen Rahmenwerk sind seit langem bekannt. Und die erforderlichen Maßnahmen zur Korrektur liegen seit langem und wiederholt auf dem Tisch. Leider haben nationale Partikularinteressen und Selbstgefälligkeit immer wieder Dynamik gebremst, die Europa auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion braucht. Zuletzt kamen wahltaktische Manöver bis hinunter auf die Regionalebenen und wachsender Populismus hinzu.
Das jüngste Beispiel stammt aus dem Juni dieses Jahres. Beim Ministertreffen auf Schloss Meseberg verabschiedeten Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Erklärung mit dem Ziel die „Eurozone zu stärken und zu vertiefen und sie zu einer echten Wirtschaftsunion zu machen“.
Ihr Verweis darauf, dass eine gemeinsame Währung spezifische Notwendigkeiten in Hinblick auf wirtschaftliche Abstimmung und Integration nach sich zieht[1], ist richtig – und seit langem bekannt.
Bereits 1970 betonte der Expertenausschuss um den damaligen luxemburgischen Premierminister Pierre Werner in dem ersten bedeutsamen Plan einer europäischen Währungsunion, dass die unzureichende wirtschaftliche Konvergenz und das Fehlen einer gemeinsamen Haushaltspolitik eine verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung erfordere.
Leider haben spätere Entwürfe, einschließlich des Maastricht-Vertrags von 1992, die zwangsläufigen Spannungen, die sich aus einer Währung ohne Staat ergeben, nicht ausreichend berücksichtigt.
Der Geist von Meseberg ist dem ursprünglichen europäischen Gedanken und dem Wohlfahrtsversprechen verbunden, die die Gemeinschaftswährung auf den Weg brachten: Der Euro bringt den Mitgliedsstaaten Vorteile. Sie profitieren von einer glaubwürdigen und stabilen Währung und einem größeren und wettbewerbsfähigen Markt.
Die Krise hat jedoch gezeigt, dass der Euroraum anfällig für negative Schocks ist und daher mehr wirtschaftliche und politische Konvergenz erforderlich ist.
Ich möchte mich heute mit drei Bereichen beschäftigen, in denen dringend Fortschritte erzielt werden müssen.
Erstens müssen wir fiskal- und Strukturreformen aktiver vorantreiben. Zweitens müssen wir die Risiken und die Fragmentierung im Finanzsektor weiter reduzieren. Und drittens müssen wir die institutionelle Architektur der Wirtschafts-und Währungsunion (WWU) entschieden stärken.
Strukturreformen und Fiskalpolitik
Im Gegensatz zu Ländern mit einer eigener Währung können die Mitgliedstaaten der Währungsunion ihren Wechselkurs nicht zur Bewältigung asymmetrischer Schocks nutzen.
Vielmehr müssen sie durch strukturelle Anpassungen sicherstellen, dass Ihre Volkswirtschaften wettbewerbs- und widerstandfähig sind.
Denn wenn sich einige Mitgliedsstaaten langsamer anpassen als andere, können wirtschaftliche Unterschiede zementiert werden. Und soweit dies die Wirksamkeit der Gelpolitik und den Zusammenhalt der Union gefährdet, hat das potenziell schädliche Folgen für alle Mitgliedstaaten.
Die Mitgliedstaaten müssen also Strukturreformen vorantreiben, um Arbeits- und Produktmärkte zu flexibilisieren. Dies beschleunigt die Verlagerung der Produktionsfaktoren zwischen den Sektoren.
Dazu wird zur Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung auf Gemeinschaftsebene der Reformbedarf der Mitgliedsstaaten im Rahmen des Europäischen Semesters ermittelt. Sogenannte länderspezifische Empfehlungen müssen im Interesse aller umgesetzt werden, um langfristige Ungleichgewichte zu verhindern.
Allerdings werden die Reformen nur schleppend umgesetzt. Ähnlich wie im Vorjahr kam die Europäische Kommission zu dem Schluss, dass die überwiegende Mehrheit, das heißt mehr als 90%, der Länderspezifischen Empfehlungen im Jahr 2017 nur "teilweise" oder "eingeschränkt" umgesetzt wurden. [2]
Die Europäische Kommission schlägt vor, die Reformbemühungen der Mitgliedsstaaten durch den EU-Haushalt zu fördern. Grundsätzlich könnten dadurch positive Anreize für die Durchführung von Reformen geschaffen werden. Damit dies auch tatsächlich funktioniert, müsste der Vorschlag der Kommission in drei Punkten optimiert werden.
Erstens sollten Reformen nach Maßgabe ihrer Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftlichen Aussichten ausgewählt werden. Zweitens sollte die Verteilung der Finanzhilfen auf der Grundlage einer qualitativen Beurteilung und nicht aufgrund des Anspruchs eines Landes auf „ein Stück vom Kuchen“ erfolgen. Drittens sollten durchsetzungsstarke Rückforderungsmechanismen vorgesehen werden, damit Finanzmittel bei einer Umkehrung der Reformen zurückgefordert werden können.[3]
Die Durchführung von Strukturreformen ist nur ein Hebel, um die Widerstandsfähigkeit der Mitgliedstaaten zu stärken. Ein weiterer Hebel sind solide Fiskalpolitiken.
In dieser Hinsicht sind gemeinsame haushaltspolitische Regeln wichtig, um eine Überschuldung der Mitgliedsstaaten zu verhindern. Denn niedrige Schuldenstände und größere Polster erhöhen den haushaltspolitischen Spielraum zu Abfederung von Konjunkturabschwüngen.
Aktuell sind die aggregierten Schulden- und Defizitquoten im Euroraum niedriger als in jeder anderen großen Volkswirtschaft. Das zeigt, dass unsere gemeinsamen Haushaltsregeln eine gewisse Wirkung haben.
In letzter Zeit wurden die Regeln allerdings wiederholt in Frage gestellt, insbesondere von Ländern mit höheren Schuldenständen.
Dem kann nur entgegengesetzt werden, dass anhaltende Verstöße gegen die Regeln nicht nur deren Wirkung langfristig beeinträchtigt, sondern auch zu einer Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen für einige oder alle Mitgliedstaaten führen kann.
Es ist es also unerlässlich, dass insbesondere die Länder mit den höchsten Schuldenständen das anhaltende Wachstum dazu nutzen, um Finanzpolster zu bilden und Schulden abzubauen.
Das ist nicht nur notwendig, um die Widerstandsfähigkeit zu stärken, sondern auch Voraussetzung um die Solidarität zwischen den Mitgliedssaaten in Krisenzeiten zu stärken.
In dieser Hinsicht stellt die Meseberg-Erklärung einen Wendepunkt dar, da die deutsche Bundesregierung nun grundsätzlich die Notwendigkeit einer Stabilisierungsfazilität auf europäischer Ebene anerkennt.
Zu begrüßen ist auch, der kürzlich von Bundesfinanzminister Olaf Scholz vorgelegte Plan für eine EU-Arbeitslosenversicherung. Der Fonds soll sich aus Beiträgen der Mitgliedstaaten speisen und Kredite an die von Krisen besonders stark betroffenen Sozialversicherungssysteme vergeben, ohne dass Transferzahlungen geleistet werden.
Des Weiteren schlägt die Europäische Kommission eine europäische Investitionsstabilisierungsfunktion vor, um große asymmetrische Schocks im Euroraum abzufedern.
Und vor knapp einer Woche haben Frankreich und Deutschland sich auf einen Vorschlag für ein begrenztes Budget der Euro-Staaten geeinigt, das bis 2021 greifen soll.
Grundsätzlich sind für die Wirksamkeit solcher Instrumente zwei Aspekte entscheidend. Erstens sollte eine zentrale Fiskalkapazität entwickelt werden, um den Euroraum besser in die Lage zu versetzen, schwerwiegende flächendeckende Rezessionen zu bewältigen, und somit die Geldpolitik zu unterstützen. Zweitens sollte eine solche Fiskalkapazität angemessene Anreize für eine solide Haushalts- und Wirtschaftspolitik setzen.
Beide Aspekte werden von den bisherigen Vorschlägen nicht berücksichtigt. Sie sind vom Umfang her begrenzt und darauf ausgerichtet asymmetrische Schocks zu bewältigen. Dabei sind asymmetrische Schocks äußerst selten, und es fehlen analytische Konzepte und normative Antworten, wie zwischen unverschuldeten Notlagen („bad luck“) und den Folgen falscher wirtschaftspolitischer Weichenstellungen („bad policies“) zu unterscheiden ist. Zudem lassen die bestehenden Regeln des EU Vertrags bereits Finanzhilfen für Mitgliedstaaten zu, wenn diese von gravierenden Schwierigkeiten bedroht sind.[4]
Zudem tragen die Vorschläge der Frage, wie Fehlanreizen entgegenzuwirken ist, nicht ausreichend Rechnung.
Der jüngste deutsch-französische Vorschlag trägt einigen dieser kritischen Punkte Rechnung, insofern als etwa nur Länder Zugriff auf das Euro-Budget erhalten sollen, die das europäische Rahmenwerk einschließlich der fiskalischen Regeln respektieren. Außerdem betont er explizit das Ziel, Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Konvergenz zu fördern. Zugleich dürfte der Versuch, eine zwischenstaatliche Entscheidungsstruktur über einen föderalen Teilhaushalt einzurichten noch auf Umsetzungsprobleme stoßen und die Wirkmächtigkeit eine Finanztransaktionssteuer als zentrale Finanzierungsquelle wird überschätzt.
Aber ich will nicht zu viel Wasser in den Wein gießen, sondern begrüße ausdrücklich, dass die europäische Debatte wieder an Fahrt gewinnt.
Risiken und Fragmentierung des Finanzsektors reduzieren
Lassen Sie mich nun zum zweiten Themenkomplex und den damit verbundenen Herausforderungen für den Euroraum übergehen: den Risiken im Finanzsektor.
Die Finanzkrise hat gezeigt, dass ein instabiler und stark fragmentierter Finanzsektor eine existenzielle Bedrohung für die Währungsunion darstellt.
Mit der Bankenunion hat Europa entscheidende Lehren aus der Krise gezogen und solidere Rahmenbedingungen geschaffen. Die größten Banken des Euroraums werden nun auf Unionsebene beaufsichtigt und ihr Ausfall zentral abgewickelt.
Dank des verbesserten Regulierungs- und Aufsichtsrahmens konnten deutliche Fortschritte hinsichtlich Risikominderung erzielt werden. Die Quote des harten Kernkapitals großer Banken ist von 9,7 % im Jahr 2008 auf zuletzt über 14 % gestiegen. Die Verschuldungsquoten sind von 3,7 % auf 5,8 % angewachsen. Darüber hinaus sind Liquidität und Refinanzierung der Banken deutlich stabiler.
Dagegen ist der Fortschritt bei der Schaffung eines europäischen Bankenmarktes unzureichend geblieben. Die Banken im Euroraum sind überwiegend in ihren Heimatmärkten tätig, was zu Überkapazitäten führt und die Union anfälliger für Fragmentierung macht.
Nationale Zersplitterung und die Überkapazitäten machen sich auch im europäischen Aggregat bemerkbar, wenn man sich einige Kennzahlen des Sektors im Vergleich zu anderen Währungsräumen ansieht. So betrug die Eigenkapitalrendite des Bankensektors im Euroraum im Schnitt der Jahre 2013 bis 17 lediglich 4,5 %, während der US-amerikanische Bankensektor mit neun Prozent aufwarten kann. Auch operierten die europäischen Banken im selben Zeitraum mit einem Kosten-Ertrags-Verhältnis von 69 %, während es in den USA lediglich 60 % waren und die Zahl der Filialen pro 100 000 Einwohner im Euroraum mit 44 fast doppelt so hoch lag wie in den USA (26). Zugleich werden im Gebiet der Eurowährung lediglich 52 % der Eigentumsrechte der Kreditinstitute an Börsen gehandelt (relativ zur Bilanzsumme), während es in den USA fast 80 % sind.[5]
Ein integrierter Finanzmarkt bietet Mechanismen zur Risikoteilung, mit denen länderspezifische Schocks abgefedert werden können. Banken die über geografisch stärker diversifizierte Kredit und Einlagenbestände verfügen, sind widerstandsfähiger gegen lokale Schocks und können die Kreditvergabe stabiler halten.
Wir müssen daher die Rahmenbedingungen für das grenzüberschreitende Bankgeschäft im Euroraum weiter stärken.
Erstens müssen Altlasten in den Bilanzen der Banken verringert werden. Diese haben in den letzten Jahren die grenzüberschreitende Kreditvergabe und M&A Transaktionen belastet. [6]
Zweitens würde das den Weg für die Vollendung der Bankenunion ebnen, die wir stärken müssen, um das Vertrauen in die Widerstandsfähigkeit des gesamten Finanzsektors stärken.
Wahrgenommene oder tatsächliche Unterschiede zwischen den nationalen Sicherheitsnetzen für Banken können zur Fragmentierung des Finanzmarktes beitragen, indem sie die Fähigkeit und Bereitschaft der Banken beeinträchtigen, ihre grenzüberschreitenden Geschäfte auszuweiten.
Die Einführung eines einheitlichen und glaubwürden Fonds für den Abwicklungsmechanismus (SRM) würde das Vertrauen schaffen, dass Banken unabhängig von ihrem Standort immer effizient abgewickelt werden können.
Ebenso würde die Schaffung eines europäischen Einlagensicherungssystems (EDIS) das Vertrauen der Einleger im ganzen Euroraum stärken und für gleiche Wettbewerbsbedingungen für Banken sorgen. Der entscheidende Vorteil von EDIS ist, dass es Vertrauen in das Finanzsystem als Ganzes schaffen wird. Solange die Standards von MREL, TLAC oder anderen Maßnahmen zur Risikoreduzierung nicht unterwandert werden, kommt EDIS daher wahrscheinlich nie zum Einsatz. Gleichwohl sollte nicht verschwiegen werden, dass insbesondere kleinere Institute kaum Erfahrungen haben, auf Kapitalmärkte zuzugreifen, sondern sich vor allem über Eigenkapital und Einlagen refinanzieren. Dies erschwert eine konsequente Umsetzung der MREL-Vorgaben.
Darüber hinaus könnte die Einführung solcher Sicherheitsmechanismen auf europäischer Ebene die Anreize nationaler Regierungen zur Beschränkung des freien Kapital und Liquiditätsflusses verringern, was wiederum das grenzüberschreitende Geschäft fördern würde.
EDIS muss jedoch anreizkompatibel sein. Problemkredite, die von Banken in der Vergangenheit eingegangen wurden, dürfen nicht nachträglich durch die Einführung eines europäischen Einlagensicherungssystems vergemeinschaftet werden.
Zudem sollten Die Beiträge der Banken zum Fonds so gestaltet werden, dass sie die relative Risikobereitschaft der Banken widerspiegeln, um systematische Transfers zwischen den Bankensektoren zu vermeiden.
Stärkung der institutionellen Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion
Die bisher diskutierten wirtschafts-, fiskal- und finanzpolitischen Reformen sind notwendig, um den Euroraum widerstandsfähiger zu machen. Das Risiko schwerer wirtschaftlicher Schocks können diese Reformen jedoch nicht vollständig verhindern.
Effektives Krisenmanagement ist daher auch künftig unverzichtbar, um die Mitgliedsstaaten vor schlechten Gleichgewichtzuständen zu schützen.
In dieser Hinsicht halte ich eine Stärkung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für vielversprechend. Allerdings muss die Neuausrichtung des ESM in eine Einbindung der Institution in EU-Recht einhergehen.
Sollte der ESM eine zwischenstaatliche Institution bleiben, müssen bei der Übertragung von Aufgaben die im EU-Recht festgelegte Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten beachten werden, da eine Kompetenzübertragung von der europäischen Ebene (Kommission) auf die zwischenstaatliche Ebene (ESM) auf einen Rückfall in nationale Muster und Egoismen hinauslaufen würde. Analoges gilt für ein europäisches Budget.
Zudem brauchen wir mehr Klarheit in Hinblick auf die politischen Rahmenbedingungen der Währungsunion.
Wir müssen Probleme hinsichtlich der Schuldentragfähigkeit von Ländern früher erkennen. Der ESM sollte frühzeitig zwischen Liquiditäts- und Solvenz Problemen unterscheiden können.[7] Das würde es uns ermöglichen, Probleme frühzeitig anzugehen, anstatt später Notfallmaßnahmen ergreifen zu müssen.
Ebenso muss mehr getan werden, um die Verflechtung zwischen Banken und Staaten aufzubrechen. Wir brauchen regulatorische Instrumente, um die übermäßige Anhäufung von Staatsrisiken in den Bankbilanzen zu begrenzen, ohne Marktstörungen auszulösen.
In diesem Zusammenhang sollte die angemessene regulatorische Behandlung von Staatsanleihen mit der Förderung einer ordnungsgemäßen Schuldenrestrukturierung einhergehen.
Dabei ist wichtig zu bedenken, dass die vom Markt auferlegte Disziplin oftmals plötzlich kommt, Schockeffekte auslöst und die Finanzstabilität beinträchtigen kann. Die deutsch-französischen Vorschläge zur Einführung einstufiger Umschuldungsklauseln und zur Angleichung der Rollen von ESM und IWF bei Umschuldungsverhandlungen sind vernünftige erste Schritte zur Schaffung eines verlässlicheren Rahmens für geordnete Schuldenrestrukturierungen.[8]
Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, der demokratischen Kontrolle.
Die Fortschritte bei der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion müssen mit einer angemessenen demokratischen Kontrolle einhergehen, um den Anforderungen ihrer Verfassungsmäßigkeit gerecht zu werden.
Wichtig ist, dass Haftung und Kontrolle Hand in Hand gehen. Wenn auf europäischer Ebene das Geld der Steuerzahler betroffen ist, bedarf es einer europäischen Kontrollfunktion.
Sind die Verantwortlichkeiten und Rechenschaftspflichten unklar geregelt, gefährdet dies die Effizienz und Legitimität europäischer Maßnahmen.
Die besondere Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion macht die Aufgabe nicht einfach. Da der Euroraum nicht mit der EU gleichzusetzen ist, erweist es sich als schwieriger, die Rechenschaftspflicht genau an die Aufgaben des Euroraums anzupassen. Insbesondere finden Debatten des Europäischen Parlaments über Angelegenheiten des Euroraums nicht in einer dem Euroraum entsprechenden Zusammensetzung statt. Und natürlich hat es ein „Geschmäckle“, wenn zentrale Funktionen im Europäischen Parlament oder seinen Komitees aktiv wahrgenommen werden von Repräsentanten aus Ländern, die weder im Euroraum vertreten sind noch der EU auf Sicht angehören werden.
Gleichzeitig müssen Verantwortlichkeiten und Rechenschaftspflichten auch in den Bereichen der geteilten Zuständigkeit zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten verhältnismäßig sein. Dies trifft auf den ESM und die Fiskalpolitik zu, wo die Situation komplexer und verschwommener ist.
Beispielsweise wurde der ESM auf Grundlage zwischenstaatlicher Vereinbarungen und für Aufgaben ins Leben gerufen, bei denen die EU lediglich eine koordinierende Rolle innehat und für die es keine Rechenschaftspflicht dem Europäischen Parlament gegenüber gibt.
Hier müssen wir einen Mittelweg finden. Einerseits sollte die Rechenschaftspflicht bei Entscheidungen, die vollständig in der Hand nationaler Behörden liegen, gegenüber den nationalen Parlamenten bestehen.
Andererseits muss der ESM über rasche und glaubwürdige Entscheidungsverfahren verfügen. Dies wird in einem zwischenstaatlichen Umfeld, das durch nationale Vetos beeinträchtig wird und außerhalb des verfassungsmäßigen Schutzes des gemeinschaftlichen Besitzstands liegt, nie vollständig gewährleistet sein.
Vor diesem Hintergrund sollte der ESM in eine Institution umgewandelt werden, die dem EU-Recht unterliegt und dem Europäischen Parlament gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Dies würde sicherstellen, dass der ESM besser in der Lage ist, im alleinigen Interesse des Euro-Währungsgebiets zu handeln.
Eine ähnliche Logik der notwendigen Vertragsanpassung muss bei weiteren Diskussionen in Bezug auf eine Fiskalkapazität für den Euroraum, die mögliche Einführung einer EU Investitionsfazilität oder einen europäischen Finanzminister angewendet werden.
So müsste die eventuelle Schaffung eines Haushalts für den Euroraum zusammen mit der laufenden Debatte über ein Finanzministerium sowie eine dem Euroraum entsprechende Zusammensetzung des Europäischen Parlaments erörtert werden.
Dabei sollten wir es tunlichst vermeiden, bewährte Verfahrensweisen der Union zu untergraben. Dies gilt auch für finanzielle Parallelstrukturen, die einzelne Töpfe unter ein gemeinsames Dach bringen wollen, falls sie die Effizienz etablierter föderaler Institutionen schwächen würden.
Wir sollten weder der Versuchung nachgeben, uns in Bereichen, in denen das Primärrecht unmissverständliche Regelungen trifft, auf Sekundärrecht zu berufen, noch über semantische Tricks den Geist und Buchstaben des Vertrages dem Sekundärrecht zu unterwerfen. Die Zentralbank muss Distanz zur Politik halten und nicht unter dem Deckmantel der Finanzstabilität in immer neue Aktionsfelder vordringen.
Schlussbemerkungen
Der Euroraum ist ein spezielles Konstrukt. 19 Länder teilen sich eine gemeinsame Währung, legen aber weiterhin die Wirtschafts- und Fiskalpolitik in nationale Hände.
Der Erfolg der Währungsunion erfordert jedoch eine Abstimmung in diesen Bereichen. Es ist daher unerlässlich, dass sich alle Mitgliedstaaten an die gemeinsamen Regeln halten.
So hängt die Widerstandsfähigkeit des Euro von der Durchführung der notwendigen wirtschafts- und fiskalpolitischen Reformen ab. Und es müssen weitere Schritte unternommen werden, um die private und öffentliche Risikoteilung zu verstärken.
Gleichzeitig sollten wir bei unseren Fortschritten auf dem Weg zur Vollendung der Wirtschats- und Währungsunion zwei Prinzipien berücksichtigen, die in einer demokratischen Gesellschaft das Kernstück wirksamer Politik darstellen.
Erstens müssen Haftung und Kontrolle auf gleicher Ebene liegen. Verantwortungsvolle Entscheidungen werden nur von denen getroffen, die auch ihre Folgen tragen müssen.
Zweitens muss die demokratische Kontrolle auf der Ebene erfüllt werden, auf der politische Entscheidungen getroffen werden.
Klar ist, dass angesichts der derzeitigen Verfassung unserer Wirtschafts- und Währungsunion eine weitere Vertiefung durch politische und wirtschaftliche Konvergenz unerlässlich ist.
- [1]https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/erklaerung-von-meseberg-1140536
- [2]https://www.ecb.europa.eu/pub/economic-bulletin/focus/2018/html/ecb.ebbox201805_06.en.html
- [3]Zwar erwähnt die Kommission einen solchen Mechanismus, doch ist weitgehend unklar, wie festgestellt werden soll, dass eine Reform rückgängig gemacht wurde.
- [4]„Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschließen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. ...“, Artikel 122 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
- [5]Restoy, Fernando, 2018, The European banking union: what are the missing pieces?; Public lecture at the International Center for Monetary and Banking Studies, Geneva, Switzerland, 16 October 2018.
- [6]https://www.ecb.europa.eu/pub/fsr/shared/pdf/ecb.sfbfinancialstabilityreview201711.en.pdf?bc1a2e57de30c0b2cee99fbd4ae141a5;
- [7]Siehe Y. Mersch, Reflections on the feasibility of a sovereign debt restructuring mechanism in the euro area, ESCB Legal Conference 2016, 2016.
- [8]Siehe Benassy-Quere et al., Reconciling Risk Sharing with Market Discipline, CEPR Policy Insight, Nr. 91, Centre for Economic Policy Research.
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