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Laudatio auf Theo Waigel

Rede von Mario Draghi, Präsident der EZB,
zu Ehren von Theo Waigel bei der Vergabe des Signsaward in München, 17. Juni 2016

James Freeman Clarke, ein Theologe des 19. Jahrhunderts, hat einmal gesagt: „Ein Politiker denkt an die nächsten Wahlen, ein Staatsmann an die nächste Generation.“ Dieses Zitat fasst trefflich zusammen, weshalb wir heute hier sind, um Theo Waigel zu ehren.

Theo Waigels politische Karriere definiert sich nicht allein über seine Wahlerfolge – so zahlreich diese während seiner 30-jährigen Tätigkeit im Bundestag auch gewesen sein mögen. Sie definiert sich auch nicht über seine Zeit als CSU-Vorsitzender und Bundesfinanzminister.

Sie definiert sich über sein Lebenswerk – ein Lebenswerk, das Europa noch heute formt.

Theo Waigel übernahm das Amt des Finanzministers 1989, als die europäische Nachkriegsgeschichte eine Wende erlebte: Der eiserne Vorhang, der Europa spaltete, fiel, und die Mauern und Stacheldrähte, die Deutschland teilten, wurden niedergerissen.

Es war eine Zeit großer Hoffnungen und Erwartungen. Aber es war auch eine Zeit, die von Ängsten geprägt war. Es bestand kein Zweifel daran, dass die erfolgreiche Wiedervereinigung Deutschlands ein enormes Unterfangen sein würde. Und viele fragten sich, was diese Veränderungen für die Europäische Gemeinschaft bedeuteten – ob sie das Gleichgewicht der Mächte, das seit dem zweiten Weltkrieg zwischen den Ländern geherrscht hatte, in Frage stellen würden.

In jener Zeit der Ungewissheit bewies Theo Waigel Führungsqualitäten – als Deutscher wie auch als Europäer.

Er war einer der stärksten Befürworter der deutschen Wiedervereinigung und hatte einen wesentlichen Anteil daran, dass der Bund und die Länder die Finanzierung des Wiederaufbaus und der Modernisierung Ostdeutschlands übernahmen.

Unter seinem Einfluss traf die Bundesregierung eine Entscheidung, die für Europa von fundamentaler Bedeutung war: Die Wiedervereinigung, die Deutschlands Position stärkte, sollte keine Schwächung Europas bewirken. Deutschland, das nun nicht mehr von der Sowjetunion bedroht wurde, wollte keinen Alleingang.

Stattdessen bekräftigte es sein Bekenntnis zu Europa. Wie ernst es Deutschland mit diesem Bekenntnis war, wurde deutlich, als es seine Währung mit seinen Nachbarn teilte. Deutschland brachte „die D-Mark nach Europa“, wie Theo Waigel sagte, und leistete damit Geburtshilfe für den Euro.

In der historischen Abfolge der Ereignisse waren drei Charakterzüge gefragt, die Theo Waigel auszeichnen: seine Vision, seine Entschlossenheit und sein staatsmännisches Geschick.

Er war jemand, der langfristig dachte und seinen Überzeugungen folgte, nicht dem Zeitgeist. Er ließ sich nicht durch Hindernisse entmutigen, und mochten sie noch so groß sein. Und er besaß eine wichtige Fähigkeit, die allen Staatsmännern gemein ist: die Fähigkeit, andere mit ins Boot zu holen.

Diese drei Charakterzüge kamen auch einige Jahre später bei der Gestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion zum Tragen. Theo Waigel hatte einen wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung, den Stabilitäts- und Wachstumspakt in die Architektur der Währungsunion zu integrieren. Trotz erheblicher Widerstände von mancherlei Seite setzte er durch, dass der Euro in einen Rahmen eingebettet wurde, der Haushaltsdisziplin gewährleistete.

Das war visionär, denn der Pakt war mehr als nur ein Regelwerk. Theo Waigel hatte verstanden, dass eine Union aus verschiedenen Ländern, die alle ihre eigene Geschichte, Tradition und Kultur haben, aber durch gemeinsame Interessen und Bedürfnisse miteinander verbunden sind, nur auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens aufgebaut werden kann.

Vertrauen war die Voraussetzung für eine Vertiefung der Integration ohne Angst vor dem sogenannten „Moral Hazard“, d. h. der exzessiven Übernahme von Risiken aufgrund von Fehlanreizen. Doch das Vertrauen musste zunächst erworben werden.

Erstens, indem die Länder zeigten, dass sie bereit waren, die gemeinsame Verantwortung zu übernehmen, die mit einer Währungsunion einhergeht. Und zweitens, indem sie ihre Einkommensniveaus einander annäherten und so Ängste vor einer künftigen „Transferunion“ zerstreuten.

Theo Waigel erkannte, dass mit dem Stabilitätspakt beides erreicht werden konnte. Die Übernahme von Verantwortung würde durch die Einhaltung der gemeinsam vereinbarten Regeln gezeigt werden. Und die Einhaltung der Regeln würde zu einer größeren Stabilität, einem höheren Wachstum und letztlich einer schnelleren Konvergenz führen.

Als der Pakt Ende der Neunzigerjahre geschlossen wurde, war die Stimmung geprägt von Zuversicht, Besonnenheit und dem Gefühl, dass sich diese Erwartung erfüllen würde. Im gesamten Euroraum herrschte Haushaltsdisziplin, weil die Länder sich auf die Aufnahme vorbereiteten. Man ging davon aus, dass sich die Abstände zwischen reicheren und ärmeren Mitgliedstaaten durch die Erweiterung des Binnenmarktes um eine gemeinsame Währung schon bald verringern würden.

Doch natürlich sah die Wirklichkeit anders aus, und der Annäherungsprozess dauerte länger, als wir zunächst dachten – zumindest was das Erreichen einer nachhaltigen und krisenfesten Konvergenz betrifft.

Teilweise ist dies darauf zurückzuführen, dass die Länder des Euroraums nicht überzeugt waren, durch Einhaltung der Regeln Arbeitsplätze und Wachstum schaffen zu können. Teilweise lag es daran, dass die Regeln nicht konsequent genug umgesetzt wurden. Und teilweise sind exogene Faktoren verantwortlich, insbesondere die weltweite Finanzkrise.

Im Grunde war die zur Vertrauensbildung nötige Kultur – eine Kultur der Verantwortlichkeit und daraus folgender Solidarität – nicht stark genug. Und ohne diese Kultur war unsere Währungsunion – wie von Theo Waigel prognostiziert – schwächer, als sie sein sollte.

So stehen wir heute vor der Wahl, die Dinge so zu belassen, wie sie sind, oder weiter an ihnen zu arbeiten. Wie diese Entscheidung auch ausfällt, sie wird mit Kosten verbunden sein.

Wir haben gesehen, dass Untätigkeit einen hohen Tribut fordert. Wir haben gesehen, dass die Stabilität der Wirtschaft dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Wir haben gesehen, wie die empfundene Unfähigkeit der Behörden, Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen, Frustration und Ablehnung zur Folge hat. Und wir haben gesehen, wie diese Risiken das Vertrauen in unsere Institutionen und ihren gesellschaftlichen Rückhalt untergraben – und sogar die Europäische Union selbst schwächen.

In meinen Augen gibt es daher künftig nur einen Weg, und dieser liegt in der Vollendung der Vision, die Theo Waigel entwickelt hat. Doch müssen wir heute einen anderen Ansatz wählen als in der Vergangenheit. Wir müssen einen neuen Weg finden, um in den Mitgliedstaaten und bei den Menschen in Europa Vertrauen zu schaffen – einen Weg, der darauf basiert, dass bestehende Institutionen die Erfüllung der gemeinsamen Bedürfnisse der Menschen besser gewährleisten.

Die Bedürfnisse, die wir gemeinsam teilen und deren Befriedigung gemeinsam besser sichergestellt werden kann, müssen deutlicher erkannt und erläutert werden.

Dazu zählen wirtschaftliche Interessen, wie die Vorteile eines großen und voll integrierten Finanzraums. Dazu zählt auch das Thema Verteidigung oder im weiteren Sinne die Sicherheit gegenüber internen und externen Bedrohungen, die Fähigkeit zur Bewältigung der Herausforderungen globaler Migrationsbewegungen und der Schutz von geistigem Eigentum – all diese Interessen lassen sich mithilfe der Europäischen Union durchsetzen, und zwar so, wie es einzelne Regierungen nicht unbedingt gewährleisten könnten. Und schließlich zählen dazu auch Umweltschutz und die Bekämpfung des Klimawandels.

Wenn die Menschen verstehen, warum und wie diese Interessen gemeinsam besser geschützt werden können, dann wird diese Erkenntnis neben der Einhaltung der Regeln und der Konvergenz die Grundlage für das Vertrauen und den Zusammenhalt in der Union bilden.

Und ich denke, in vielen Fällen wurde der Nachweis bereits offenkundig erbracht. Doch um vorwärtszukommen – und ich denke, das liegt in unser aller Interesse –, müssen wir uns die Qualitäten zu eigen machen, die Theo Waigels Führungspersönlichkeit ausmachen:

Seine Fähigkeit, sich weniger auf tägliche Notwendigkeiten und mehr auf langfristige Ziele zu konzentrieren.

Sein Mut, mit dem er für seine Überzeugungen eintritt, und seine Ausdauer, wenn es darum geht, diese Überzeugungen durchzusetzen.

Vor allem aber seine Überzeugungskraft und seine Fähigkeit zur Konsensbildung.

Dies wäre der beste Weg, um das Lebenswerk von Theo Waigel in Ehren zu halten und die Stabilität und den Wohlstand zu erreichen, für die unsere Union gegründet wurde.

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Europäische Zentralbank

Generaldirektion Kommunikation

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