Auf dem Weg zum Euro – allegro ma non troppo
Rede von Jörg Asmussen, Mitglied des Direktoriums der EZB,
Abschlussveranstaltung des Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF),
25 August 2013, Gut Schierensee
Sehr geehrter Herr Minister Präsident,
Sehr geehrte Frau Japina,
Sehr geehrter Herr Laantee Reintamm,
Sehr geehrter Herr Mickus,
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung zur Abschlussveranstaltung des Schleswig-Holstein Musik Festivals!
Schleswig-Holstein und das Baltikum, die diesjährige Partnerregion des Musik Festivals, verbindet eine lange gemeinsame Geschichte, als Wirtschaftsraum, Stichwort die Hanse, aber auch als Kulturraum.
Ich bin mir sicher, Sie haben in den letzten Tagen und Wochen einer ganzen Reihe hervorragender Konzerte beigewohnt. Schließlich ist das Baltikum bekannt für seine exzellenten Musiker und kann auf eine lange Tradition von Gesang- und Tanzfestivals zurückblicken. Erstmals fand 1869 in Estland das Gesang- und Tanzfestival statt; 1873 in Lettland. Litauen war 1924 erstmals Gastgeber. Anlässlich des diesjährigen, XXV lettischen Gesang- und Tanzfestivals ist der EZB Chor nach Riga gereist.
Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht ist das Baltikum eine Bereicherung für Europa.
„Baltische Staaten – ein Gewinn für den Euro“, so titelte die FAZ kürzlich. Denn in einer Zeit, in der die Gemeinschaftswährung häufig in einem Atemzug mit der Krise im Euroraum genannt wird, stimmt die Aussicht, dass weitere Länder dem Währungsraum beitreten möchten, zuversichtlich.
Aber, so fragt sich vielleicht der ein oder andere in der Bevölkerung der drei baltischen Länder, ist der Euro denn auch ein Gewinn für uns? Sollten wir gerade jetzt, mitten in der Krise, der Gemeinschaftswährung beitreten?
Auf diese Fragen möchte ich gerne genauer eingehen; konkret:
Ist das Baltikum – ein Gewinn für den Euroraum?; und
Ist der Euro – ein Gewinn für das Baltikum?
Das Baltikum – ein Gewinn für den Euroraum?
Noch vor vier Jahren steckten die baltischen Staaten in Mitten einer schweren Rezession. Lettlands BIP ging 2009 um ca. 18% zurück; Litauens um ca. 15%; und Estlands ca. 14%. Inzwischen gehören sie zu den wachstumsstärksten Ländern Europas: Laut Europäischer Kommission wuchs das Bruttoinlandsprodukt in Lettland letztes Jahr im Vergleich zum Vorjahr um 5,6%, in Litauen um 3,6% und in Estland um 3,2%.
Diese Entwicklungen zeigen: Anpassung ist möglich – auch ohne Währungsabwertung.
Die estnische Krone war seit ihrer Einführung zunächst an die D-Mark, dann an den Euro gekoppelt. Der Wechselkurs des Litas ist seit 2002, der des Lats seit 2005 an den Euro gekoppelt.
Estland gehört mit einem Schuldenstand on ca. 10% - laut Eurostat EU-weit der niedrigste Schuldenstand in 2012 - zu einem der wenigen Länder im Euroraum mit einem Schuldenstand unter dem Schwellenwert von 60% des BIP und konnte sein Defizit im letzten Jahr auf 0,3% des BIP reduzieren. Auch Lettland und Litauen ernten die Früchte konsequenter Haushaltskonsolidierung.
Das Defizit belief sich in Lettland letztes Jahr auf 1,2%, in Litauen ist es von 5,5% auf 3,2% gesunken.
Aus der baltischen Erfolgsgeschichte können und sollten wir lernen. Allein deshalb ist das Baltikum ein Gewinn für den Euro.
Auf diese Erfolgsgeschichte und darauf, was andere Länder daraus lernen können, möchte ich etwas genauer eingehen.
Lassen Sie mich mit dem Thema Haushaltskonsolidierung beginnen. Die baltischen Erfahrungen haben gezeigt, dass hier vor allem zügiges Handeln gefragt ist.
In allen drei Ländern haben die Regierungen sehr schnell reagiert und sind die nötigen Anpassungen couragiert angegangen.
Das war in mehrfacher Hinsicht gut. Zunächst einmal hat die sofortige Reaktion das Vertrauen der Anleger gestärkt. So konnte sich Lettland deutlich schneller als ursprünglich gedacht wieder am Markt refinanzieren und Gelder des Internationalen Währungsfond schon frühzeitig zurückzahlen. Der Konsolidierungskurs hat schließlich die Grundlage dafür geschaffen, dass die baltischen Staaten relativ schnell wieder zu positiven Wachstumszahlen zurückkehren konnten.
Es wird immer mal wieder behauptet, die Sparauflagen der Länder, die unter einem Hilfsprogramm stehen, würden das Wachstum abwürgen. Die Anpassungsstrategie in den drei baltischen Ländern zeigt, dass Konsolidierung und Wachstum sich nicht widersprechen müssen. Auch wenn Haushaltsanpassungen kurzfristig das Wachstum beeinträchtigen mögen, können sie mittel- bis längerfristig gesehen deutlich positive Wachstumseffekte hervorrufen.
Haushaltskonsolidierung nicht zu verschleppen, sondern sofort anzugehen war auch aus politischer Sicht sinnvoll.
Die Regierungen haben die Chance der Krise genutzt, die nötigen Anpassungen durchzusetzten, als der Leidensdruck am stärksten war.
Nun gilt es, auch künftig solide zu haushalten. So bemerkenswert der Sanierungskurs in den drei Ländern auch sein mag, jetzt ist sicher nicht die Zeit, sich auf den Lorbeeren der Vergangenheit auszuruhen.
Haushaltskonsolidierung allein ist aber noch nicht der Schlüssel zum Erfolg. Zu einer nachhaltig soliden makroökonomischen Strategie gehört auch, wachstumsfördernde strukturelle Reformen umzusetzen. Auch in dieser Hinsicht haben die baltischen Regierungen vergleichsweise schnell und auf breiter Front angesetzt. Nur so kann sichergestellt werden, dass makroökonomische Ungleichgewichte sich gar nicht erst aufbauen und dass sich die Anstrengungen der Vergangenheit auch künftig auszahlen.
Mit dem Beitritt zur Währungsunion sind nationale Entscheidungsträger erst recht gefragt, für ausgewogenes und nachhaltiges Wachstum zu sorgen. Um voll von der gemeinsamen Währung profitieren zu können, müssen die baltischen Staaten an ihrem Kurs der Haushaltskonsolidierung festhalten.
Auch die hart erkämpften Wettbewerbsvorteile dürfen nicht erneut aufs Spiel gesetzt werden. Die strukturelle Arbeitslosigkeit ist in allen drei Ländern hoch, vor allem weil Arbeitssuchende oft nicht die Qualifikationen mitbringen, die Arbeitgeber suchen. Auch hier gibt es also noch einiges zu tun. Entsprechende Reformen kommen der Bevölkerung direkt zu Gute.
Das Haushaltskonsolidierung gepaart mit wachstumsfreundlichen Strukturreformen die erfolgversprechendste Anpassungsstrategie ist, ist leicht gesagt, lässt sich in der Praxis aber oft nicht ganz so leicht umsetzen. In vielen Ländern beobachten wir eine gewisse Reformmüdigkeit der Bevölkerung bis hin zu Protesten gegenüber dem Konsolidierungskurs einiger Regierungen. Auch in dieser Hinsicht können wir aus der baltischen Erfahrung lernen: Anpassung kann und wird nur funktionieren, wenn sie auch von der Bevölkerung getragen wird. Wenn das Gefühl entsteht, Reformen würden nur von außen aufgedrängt, ist es außerordentlich schwer, sie nachhaltig umsetzen.
Deshalb gehört zur Anpassungs- auch eine Kommunikationsstrategie. So schwer das sein mag, eine verantwortungsvolle Regierung sollte vermitteln, dass Konsolidierung im Interesse der eigenen Bevölkerung ist. Dazu gehört, die Fakten offen zu nennen, und auch die negativen Konsequenzen scheinbar einfacher und bequemerer Alternativen aufzuzeigen. Die baltischen Regierungen haben diesen Balanceakt erfolgreich gemeistert. Sie haben es geschafft, ohne massive Proteste der Bevölkerung einen beispiellosen Anpassungsprozess zu durchlaufen.
Kurz, das Baltikum ist mindestens in zweierlei Hinsicht ein Gewinn für den Euroraum:
Zum einen bestätigt die baltische Erfolgsgeschichte, dass Anpassung nicht nur nötig, sondern auch möglich ist. Zum anderen zeigt die Tatsache, dass Estland mitten in der Krise dem Euroraum beigetreten ist, Lettland dies am 1. Januar 2014 tun wird und Litauen beitreten möchte, dass die Gemeinschaftswährung attraktiv ist – trotz der derzeitigen Schwierigkeiten in einigen Mitgliedstaaten des Euroraums.
Der Euro – ein Gewinn für das Baltikum?
Aber, ist denn jetzt überhaupt der richtige Zeitpunkt, der Gemeinschaftswährung beizutreten?
Der ein oder andere Litauer ist vielleicht ganz froh, dass das Land bisher die Aufnahmekriterien noch nicht ganz erfüllt und vorerst beim Litas bleiben kann.
Und auch in Lettland sind nur etwa 40% der Bevölkerung für den beschlossenen Beitritt zur Währungsunion. Auch wenn ich diese Skepsis nicht teile, kann ich verstehen, wo die Sorge um den Identitätsverlust einiger Letten herkommt. Schließlich ist Lettland erst seit 22 Jahren von der ehemaligen Sowjetunion und dem Rubel unabhängig. Auch die D-Mark war ein vergleichbares Identifikationssymbol in Westdeutschland in der Nachkriegszeit.
Ähnlich wie das in anderen Ländern vor der Euroeinführung der Fall war, befürchtet vielleicht auch der ein oder andere, die Währungsumstellung könne zu wesentlichen Preisanstiegen führen. Diese Sorge ist meines Erachtens aus zwei Gründen gegenstandslos.
Erstens hat die EZB, die mit dem Eurobeitritt die zuständige geldpolitische Instanz wird, ein ganz klares Mandat für Preisstabilität im Euroraum zu sorgen. Diese Aufgabe nehmen wir sehr ernst.
Zweitens wird auch in Lettland selber darauf geachtet, dass im Zuge der Umstellung keine versteckten Preiserhöhungen vorgenommen werden. Neben strikten Kontrollen schafft die Regierung die richtigen Anreize:
Unternehmen, die die Währungsumstellung nicht zum eigenen Vorteil ausnutzen, bekommen ein Fairness Logo.
Ich begrüße auch die Transparenzinitiative des Wirtschaftsministeriums. Seit Januar kann jeder die Preisentwicklungen der 120 gängigsten Waren und Dienstleistungen auf der Internetseite des Ministeriums nachschauen. Diese Transparenz verleiht den Behauptungen, die Euroeinführung führe nicht zu verdeckten Preisanstiegen, die nötige Glaubwürdigkeit.
Natürlich geht es nicht nur darum, glaubhaft zu vermitteln, dass die Euroeinführung „nicht schadet“.
Vielmehr sehe ich – gerade jetzt in Krisenzeiten – die Notwendigkeit zu erklären, warum der Eurobeitritt im Interesse der Mitgliedstaaten der EU ist.
Angesichts der Schwierigkeiten in einigen Euroländern muss ich zugeben, dass die Mitgliedschaft im Euroraum vielleicht als nicht gerade besonders verlockend wahrgenommen wird. Dennoch gibt es gute Gründe für den Eurobeitritt. Zunächst einmal sollten wir die derzeitige Situation nicht überbewerten. Die aktuellen Schwierigkeiten einiger Länder liegen nicht in der gemeinsamen Währung begründet, sondern gehen vor allem auf nationale Versäumnisse in Sachen Wettbewerbsfähigkeit, Haushaltspolitik, und Bankenaufsicht zurück.
In der Zwischenzeit hat die Währungsunion eine wichtige Lernphase durchlaufen. Die Krise hat die Schwachstellen der Währungsunion aufgezeigt.
Sie hat auch den nötigen Handlungsdruck geschaffen, diese Schwachstellen anzugehen. Wir haben inzwischen ein gestärktes fiskalisches Regelwerk, können makroökonomische Ungleichgewichte besser angehen und haben mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ein schlagkräftiges Instrumentarium zur Krisenbewältigung. Mit der Bankenunion schaffen wir derzeit die Voraussetzung für einen echten, integrierten europäischen Finanzmarkt.
Estland ist bereits Teil dieser gestärkten Währungsunion und wenn Lettland und später möglicherweise Litauen dem Euroraum beitreten, werden auch sie Mitglied einer deutlich attraktiveren Währungsunion.
Auch wenn einige der Haupthandelspartner der baltischen Länder wie Russland und Schweden außerhalb des Euroraums liegen, ist das Baltikum dennoch wirtschaftlich schon lange eng mit dem Euroraum verbunden. Bereits vor dem Eurobeitritt gingen 29% der estnischen Exporte in den Euroraum und 38% aller Importe kamen aus Euroländern. Gerade Unternehmer können deutlich davon profitieren, wenn sie kein Wechselkursrisiko mehr einkalkulieren müssen.
Die Frage, ob ein Beitritt „sich lohnt“, geht allerdings über rein ökonomische Überlegungen hinaus. Der gemeinsamen Währung beizutreten steht symbolisch für ein verbindliches Bekenntnis zu europäischen Werten.
Ein Bekenntnis, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sich auf Freiheit, auch Pressefreiheit, Demokratie, Menschenrechte, sozialer Teilhabe und Chancengleichheit gründet.
Der Euro ist sicher ein Gewinn für das Baltikum – nicht nur in ökonomischer Hinsicht.
Allegro ma non troppo
Zum Schluss meiner Bemerkungen möchte ich noch einmal den Bogen zur Musik spannen. Der Weg zum Euro kann als „allegro ma non troppo“ bezeichnet werden. Also, als „schnell, aber nicht zu schnell“. Rein rechtlich gesehen müssen alle europäischen Mitgliedstaaten den Euro einführen, sobald sie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen. Dänemark und das Vereinigte Königreich besitzen einen Sonderstatus.
Sie haben dem EU-Rat mitgeteilt, dass sie nicht Teil des Euro-Währungsgebiets werden möchten.
Mit anderen Worten, der Euroraum steht allen europäischen Mitgliedsländern offen – sofern sie die Voraussetzungen, die sogenannten „Konvergenzkriterien“, nachhaltig erfüllen. Für Estland war das bereits vor zweieinhalb Jahren der Fall und im Juli haben die Finanzminister der EU grünes Licht für den Eurobeitritt Lettlands zum 1. Januar 2014 gegeben. Auch Litauen ist auf gutem Wege, allerdings gilt es, die Konvergenzkriterien auch nachhaltig zu erfüllen und den Eurobeitritt weiterhin tatkräftig und gezielt anzustreben – eben „allegro ma non troppo“.
Bereits jetzt spielt Litauen eine wichtige Rolle für den Euroraum. Diesen Sommer hat das Land die EU-Ratspräsidentschaft übernommen.
Auf dem Arbeitsprogramm stehen Themen wie die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion, stärkere Finanzmarktregulierung und weitere Schritte hin zur Europäischen Bankenunion. Hier geht es um institutionelle Weichenstellungen, die – konsequent umgesetzt – die Währungsunion nachhaltig stärken werden.
Die Bemühungen von Litauen und Lettland, Teil des Euroraums zu werden zeigen, dass die gemeinsame Währung attraktiv ist – trotz der aktuellen Schwierigkeiten in einigen Mitgliedstaaten.
Sie zeigen auch, dass es in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion um mehr geht als um rein ökonomische Überlegungen. Es geht um ein verbindliches Bekenntnis zu europäischen Werten.
Auch wenn der Vergleich etwas gewagt sein mag, aber der Euroraum, der mehr und mehr Länder um die Ostsee herum umfasst, ist so etwas wie die Hanse der Neuzeit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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