Wie wir die Risiken in Europa meistern können
Rede von Jörg Asmussen, Mitglied des Direktoriums der EZB, Union Investment Risikomanagement-Konferenz, Mainz, 14. November 2012
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich, heute hier in Mainz auf der Risiko-Management-Konferenz zu Ihnen sprechen zu können. Das „Management von Risiken“ ist natürlich nicht nur auf das Feld einer Geschäftsbank begrenzt. Der angekündigte Vortrag für heute Abend, „Risikomanagement im Bergsport“, illustriert sehr gut die Anwendungsbreite dieses Begriffs.
Wenn man im Oxford Dictionary unter „Risk Management“ nachschlägt, findet man folgende Definition: „the forecasting and evaluation of financial risks together with the identification of procedures to avoid or minimize their impact.“ Obwohl die Definition dort im engeren Kontext von Firmen angewendet wird, beschreibt Sie meiner Ansicht nach sehr gut, was in Europa zurzeit auf ganz verschiedenen Ebenen passiert:
die Identifikation von Risiken für Wohlstand, Wachstum und Stabilität in Europa,
die Bewertung des Schadenspotentials dieser Risiken, und
die Suche nach Wegen und Verfahren, um diese Risiken in Zukunft zu minimieren oder auszuschalten.
Wenn ich also heute in meiner Rede die Frage beantworten möchte: „Wie wir die Risiken in Europa meistern können“, so geht es letztlich ebenfalls um Risikomanagement. Dabei bezieht sich das „wir“ im engeren Sinne auf die Europäische Zentralbank bzw. das Eurosystem.
Gleichzeitig möchte ich aber den Bogen etwas weiter spannen und auch das „Risikomanagement“ der Regierungen, also die Politikmaßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene beleuchten.
Im Folgenden möchte ich zunächst einige der wichtigsten Risiken herausheben, die im Zuge der Krisenjahre ans Licht getreten sind. Danach möchte ich kurz die Maßnahmen auf nationaler und europäischer Ebene zur Krisenbewältigung skizzieren und schließlich die aktuellen Schritte und Instrumente der EZB in diesen Kontext einordnen.
1. Welche Risiken wurden während der Krise offen gelegt?
Seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 standen verschiedene Arten von Risiken im Fokus. Zunächst war es der Interbankenmarkt, bei dem sich die Risikoprämien für unbesicherte Geldmarktgeschäfte hochgeschraubt hatten. Mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ist die Krise im Herbst 2008 dann mit voller Wucht auf dem europäischen Bankenmarkt angekommen. Für viele Institute stellte sich heraus, dass staatliche Unterstützung vonnöten war, um den Zusammenbruch zu verhindern und ein Übergreifen auf den Finanzsektor als ganzen zu verhindern. Das führte zu einem Risikotransfer auf die Staatshaushalte und in einzelnen Fällen dazu, dass Investoren in Staatsanleihen nun die Solvenz der Staaten selbst fraglicher erschien.
Lassen Sie mich aber hinzufügen, dass die Stützungen des Finanzsystems nicht der einzige Belastungsfaktor für die öffentlichen Haushalte waren. Die Schuldenkrise traf besonders die Länder im Euroraum, die zu hohe Schuldenstände und Defizite aufwiesen oder zumindest keinen ausreichenden Puffer für derartige Stressphasen vorgesehen hatten.
Insgesamt hat sich während der letzten Jahre gezeigt, wie eng verwoben Staatsfinanzen und nationale Bankensysteme sind und das die Schieflage in dem einen Sektor auch zu Schieflagen in dem anderen Bereich führen kann.
Der eben erwähnte Risikotransfer vom Finanzsektor auf den Staat ist ein Beispiel, aber die Wirkung weist natürlich auch in die umgekehrte Richtung: eine Erhöhung des öffentlichen Kreditrisikos und des damit verbundenen Verfalls der Bewertung von Staatsanleihen, die von den Banken als Aktiva gehalten werde, führt wiederum zu einer Belastung des Finanzsystems.
Im Nachhinein gesehen ist es sehr beunruhigend, dass in den Jahren vor der Krise die Risiken einer zu hohen Staatsverschuldung kaum eingepreist worden sind. Erst im Winter 2008 kam es dann plötzlich zu einer Differenzierung bei der Rendite von Staatsanleihen, wie es seit der Euroeinführung noch nicht beobachtet worden war.
Man muss also leider feststellen, dass sich das bewahrheitet hat, was schon in dem von Jaques Delors koordinierten Report zur Wirtschafts- und Währungsunion im Jahre 1989 befürchtet wurde: „Experience suggests that market perceptions do not necessarily provide strong and compelling signals […]. Rather than leading to a gradual adaptation of borrowing costs, market views about the creditworthiness of official borrowers tend to change abruptly […]. The constraints imposed by market forces might either be too slow and weak or too sudden and disruptive.“ Die (Neu)bewertung des Risikos geschieht und geschah also nicht immer mit Maß.
Im Extremfall kann es bisweilen geschehen, dass die Risikoaufschläge für eigentlich solvente Schuldner Dimensionen annehmen, die letztlich an den Rand der Insolvenz führen können. Diese Übertreibungen und Verzerrungen bei der Bepreisung des Risikos stellen also mitunter selbst ein Risiko dar.
Aus Sicht der Geldpolitik können stark überhöhte Risikoaufschläge in kurz- und langfristigen Zinsen die Wirkungsweise der Geldpolitik beeinflussen und damit nicht zuletzt auch für die Preisstabilität im Euroraum gefährlich werden.
Lassen Sie mich das erklären: Unter normalen Umständen führt eine Änderung des kurzfristigen Leitzinses der EZB zu entsprechenden Änderungen der längerfristigen Renditen verschiedener Wertpapierklassen; das beeinflusst wiederum die aggregierte Nachfrage und letztlich die Inflationsrate im Euroraum. Die von mir angesprochenen übertriebenen und volatilen Risikoprämien in den Anleihemärkten verschiedener Mitgliedsländer des Euroraums können nun diesen normalen Effekt der Geldpolitik überlagern oder gar zum Teil komplett nivellieren oder umkehren. Die Verzerrungen im geldpolitischen Transmissionsprozess führen aber nun dazu, dass Kreditnehmer ähnlicher Qualität ganz unterschiedliche Zinsen zu zahlen haben, abhängig davon in welchem Mitgliedsland sie sich befinden.
Die Einheitlichkeit unserer Geldpolitik mit dem Ziel, Preisstabilität für den Euroraum zu gewährleisten, ist in diesem Fall also massiv gefährdet.
Die Krise hat somit sowohl Schwachpunkte in einzelnen Mitgliedsstaaten als auch Konstruktionsfehler der Währungsunion als Ganzes offenbart. Lassen Sie mich die meiner Meinung nach drei wesentlichen Hauptrisiken nennen, die die Krise offengelegt hat und die ein erhebliches Schadenspotenzial für Wohlstand, Wachstum und Stabilität in Europa haben.
Risiko Nummer 1: Öffentliche Haushaltsdefizite und Ungleichgewichte im privaten Sektor können gefährliche Ausmaße annehmen, mit langfristig negativen Folgen für Wachstum und Beschäftigung.
Risko Nummer 2: Risiken in nationalen Finanzsektoren können zu Belastungen des entsprechenden öffentlichen Haushaltes führen und umgekehrt. Die wechselseitige Verflechtung birgt große Risiken für die Finanzstabilität und die Stabilität der öffentlichen Finanzen.
Risiko Nummer 3: eine falsche Risikobewertung und gefährliche Ansteckungseffekte auf andere Märkte und Staaten können die Stabilität unseres Finanzsystems beeinträchtigen. Außerdem kann Instabilität im Finanzsystem schnell zum Rückgang der bereits erreichten Finanzmarktintegration werden. Instabilität und Fragmentierung der Finanzmärkte bedrohen letztlich auch die geldpolitische Transmission, die Effektivität unserer Geldpolitik und gefährden damit die Erfüllung unseres Mandats der Preisstabilität.
Nun gilt es mit überzeugendem und entschiedenem „Risikomanagement“ die genannten Risiken anzugehen, d.h. die Ursprünge zu ergründen und Maßnahmen zu ergreifen, die die Materialisierung von Risiken vermeidet. Ohne solche Maßnahmen bestünde die Gefahr, dass sich die gleichen Muster, die zur aktuellen Krise beigetragen haben, in Zukunft wiederholen.
Im Folgenden möchte ich dementsprechend darauf eingehen, welche Schritte auf nationaler Ebene und im europäischen Rahmen- und Regelwerk unternommen wurden, um die entsprechenden Risikofaktoren auszuschalten bzw. zu minimieren.
2. Initiativen auf Ebene der Mitgliedsstaaten und auf europäischer Ebene
Seit 2010 haben die Mitgliedsstaaten des Euroraums begonnen, die fiskalischen Stimuli zurückzufahren und Konsolidierungsmaßnahmen zu ergreifen. Entsprechend ist auch das fiskalische Defizit für den Währungsraum insgesamt im Jahre 2011 gesunken. Allerdings ist die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte recht unterschiedlich vorangeschritten, so dass in 2011 immer noch 11 der 17 Mitgliedsländer eine Defizitquote über dem Maastrichtreferenzwert von 3% aufwiesen. [1] Eine konsequente Fortsetzung der fiskalischen Konsolidierung ist also essentiell.
Darüber hinaus sind in vielen Ländern Strukturreformen unverzichtbar, um die Wachstumspotential und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Das hilft mittelfristig auch wiederum bei der Verbesserung der Staatsschuldenquote.
Natürlich wäre es blauäugig zu leugnen, dass dies zum Teil schmerzhafte Anpassungsprozesse in den einzelnen Mitgliedsstaaten erfordert. Dies gilt nicht nur für Länder, die diesen Konsolidierungs- und Reformprozess als Teil eines formalen EU/IWF Anpassungsprogramms durchlaufen. Gleichzeitig scheint aber auch der Großteil der Bevölkerung die Notwendigkeit von Strukturreformen einzusehen. So halten EU-weit zum Beispiel 78% der Teilnehmer der letzten Eurobarometer-Umfrage eine „Modernisierung des Arbeitsmarktes, mit dem Ziel, das Beschäftigungsniveau zu erhöhen“ für wichtig. [2] In den Ländern mit Anpassungsprogramm lag dieser Grad der Zustimmung sogar überdurchschnittlich hoch bei ca. 85%.
Wie sieht es mit dem Management der Risiken auf europäischer bzw. auf EWU-Ebene aus? Ich denke – und das darf man in einem fortwährenden Reformprozess nicht vergessen – dass es hier in den letzten Jahren ganz entscheidende Initiativen gegeben hat. Lassen Sie mich kurz nur einige der wichtigsten Bausteine skizzieren.
Erstens hat es Meilensteine auf dem Weg zu einem verbesserten institutionellen Rahmen für die Finanz- und Wirtschaftspolitik gegeben. – Das Gesetzespaket, das unter dem Namen „Six-Pack“ firmiert, beinhaltet Regelungen, die sowohl den präventiven als auch den korrektiven Teil des Stabilitäts- und Wachstumspakt stärken. Initiativen wie das sogenannte „Two-Pack“ Gesetzespaket oder das Europäische Semester tragen zur weiteren Verbesserung der Überwachung von Finanz-, Wirtschafts- und Strukturpolitik bei. Schließlich haben sich fast alle Mitgliedsländer der Europäischen Union im sogenannten Fiskalpakt dazu verpflichtet, die Regeln für einen ausgeglichenen Haushalt und automatische Korrekturen in ihre nationale Gesetzgebung zu übernehmen
Zweitens haben wir mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ein System effektiver Brandmauern zur Vermeidung von Ansteckungseffekten im Fall einer Krise. Der ESM, der seit Oktober dem temporären Europäischen Finanzstabilitätsfonds nachgefolgt ist, unterstützt Mitgliedsstaaten in Finanzierungsschwierigkeiten. Im Gegenzug müssen sich die unterstützten Mitgliedsstaaten zu strikten Auflagen verpflichten, insbesondere im Bereich der Haushaltskoordinierung und bei Strukturreformen. Der ESM gewährt also Hilfe unter Konditionalität. Eine solche europäische Institution zur Krisenbewältigung hat es vor der Krise nicht gegeben.
Drittens besteht Konsens darüber, dass wir die unvollständige Währungsunion auf längere Sicht um weitere Elemente ergänzen müssen, die erforderlich sind, um den Stabilitätserfordernissen der gemeinsamen Währung zu genügen. Hier geht es um vier Elemente, die einander bedingen und an denen parallel gearbeitet werden muss. Wir brauchen eine Fiskalunion, eine Finanzmarktunion, eine echte Wirtschaftsunion und eine demokratisch legitimierte politische Union. Die Staats- und Regierungschefs haben die vier Präsidenten van Rompuy, Barroso, Juncker und Draghi im Sommer mit der Erarbeitung konkreter Vorschläge beauftragt. Nach einem Zwischenbericht im Oktober laufen jetzt die Arbeiten an der Fertigstellung des Berichts für den Dezembergipfel auf Hochtouren.
Während die Reformarbeiten in einigen der von mir soeben genannten Themenfelder sicherlich sehr langen Atem brauchen werden, sind die Arbeiten im Bereich der Finanzmarktunion schon sehr konkret und erste Gesetzgebungsvorschläge für eine europäische Bankenaufsicht liegen bereits vor. Lassen Sie mich hierauf im Folgenden etwas näher eingehen:
Exkurs: Finanzmarktunion
Der Idee einer Finanzmarktunion liegt der Befund zugrunde, dass wir die Fragmentierung des Finanzmarktes nur rückgängig und die Finanzmarktintegration vollenden können, wenn Aufsicht, Krisenmanagement und Abwicklung von Banken gemeinsamen europäischen Regelungen und Praktiken folgen. Ein einheitliches Regelwerk wie das von der Europäische Bankenaufsicht (EBA) entwickelte „Single Rulebook“ ist dabei eine wichtige Komponente, allerdings muss auch die einheitliche Umsetzung der einheitlichen Regeln gewährleistet sein.
Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag der Europäischen Kommission zu sehen, für die Banken im Euroraum einen einheitlichen Aufsichtsmechanismus zu schaffen. Diese Rolle soll der EZB zukommen. Ihre Aufsichtsbefugnisse sollen sich zunächst auf die Banken des Euroraums erstrecken, wobei sich Banken aus dem Rest der EU auf freiwilliger Basis anschließen können. Die nationalen Aufsichtsbehörden werden dabei nach wie vor die Hauptrolle in der täglichen Beaufsichtigung und bei der Umsetzung der EZB-Beschlüsse spielen.
Warum gerade die EZB als zentrales Organ der gemeinsamen Bankenaufsicht? Von den 17 nationalen Zentralbanken des Euroraumes, sind 14 auch für die Bankenaufsicht in ihrem jeweiligen Heimatland zuständig. Die Zentralbanken im Euroraum verfügen also über fundiertes Know-how und praktische Erfahrung in der Bankenaufsicht.
Daneben gibt es wichtige Synergien, da die EZB auch in die Überwachung des Zahlungsverkehrs eingebunden ist, und im ESRB die makroprudenzielle Aufsicht mitorganisiert. Schließlich ist die EZB als Institution in der Lage die für die neue Aufgabe notwendigen Strukturen und Prozesse zügig zu schaffen.
Allerdings müssen wichtige Punkte beachtet werden, damit die einheitliche Bankenaufsicht unter der Ägide der EZB nicht an anderer Stelle zu Risiken oder Interessenskonflikten führt. So sind die bankaufsichtlichen von den geldpolitischen Aufgaben zu trennen.
Darüber hinaus muss auch für den aufsichtlichen Arm der EZB die operative Unabhängigkeit gewährt sein, wobei Rechenschaftspflichten gegenüber dem Parlament und ein Rechtsweg gegen Eingriffsmaßnahmen natürlich gewährleistet sein muss.
Außerdem ist es für eine effektive zentrale Aufsicht wichtig, dass die EZB Zugang zu allen institutsspezifischen Informationen der nationalen Aufseher und deren Knowhow hat. Schließlich muss die EZB über hinreichend schlagkräftige Durchgriffsrechte verfügen, was insbesondere die Möglichkeit umfasst nicht lebensfähige Banken zu schließen.
Damit möchte ich meine kurze Tour durch den Reformierungsprozess auf europäischer Ebene erst einmal abschließen. Ich möchte aber anfügen, dass wir uns hier auf einem längeren Weg zu einer Erneuerung und Vervollständigung der Wirtschafts- und Währungsunion befinden, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Die Mitgliedsstaaten wie auch die europäische Ebene befindet sich in einem Anpassungsjahrzehnt.
Gleichzeitig glaube ich aber, dass die bereits ergriffenen Maßnahmen und Initiativen schon jetzt dazu beitragen, einem Großteil der von mir genannten Risiken zumindest teilweise zu begegnen:
Das neue finanz- und wirtschaftspolitische Regelwerk liefert verbesserte Anreiz- und Sanktionsmechanismen für solide Staatsfinanzen und die Reduzierung von makroökonomischen Ungleichgewichten.
Die Perspektive für eine gemeinsame Bankenaufsicht, und einen Abwicklungsmechanismus auf europäischer Ebene werden die Rückkopplung zwischen Finanzinstabilität und der Belastung der öffentlichen Haushalte auf nationaler Ebene entschärfen und zur (Re-)Integration der Finanzmärkte beitragen.
Marktübertreibungen und Ansteckungseffekte können durch geeignete Instrumente des ESM adressiert werden.
Vielleicht klingt diese Charakterisierung etwas idealisiert. In der Tat wird das Endergebnis entscheidend davon abhängen, wie entschlossen die gefassten Beschlüsse umgesetzt werden und wie zügig die Fortschritte auf nationaler Ebene sein werden. Die Übergangs- und Umsetzungsphase wird jedenfalls noch ein großes Maß an Disziplin und Entschlossenheit bei allen Akteuren erfordern, und muss sicherlich durch ein angemessenes Krisenmanagement begleitet werden.
3. Die Maßnahmen der EZB
Damit komme ich zu meinem letzten Punkt, der Rolle der Geldpolitik in der aktuellen Situation. Wir als EZB haben zu jedem Zeit die vorrangige Aufgabe, Preisstabilität im Euroraum zu gewährleisten: dieses Ziel verlieren wir auch dann nicht aus den Augen, wenn es an verschiedenen Stellen im Gerüst des Europäischen Währungsraums knirscht und die Geldpolitik sich verschiedenen Herausforderungen gegenübersieht.
In der Tat musste die EZB seit Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 immer wieder auf Nicht-Standardmaßnahmen zurückgreifen, die unsere Standardgeldpolitik flankierten. Die Störquellen des geldpolitischen Transmissionsmechanismus haben sich über die Zeit immer wieder verschoben. Entsprechend haben sich auch unsere Maßnahmen angepasst: Mengentender mit Vollzuteilung, 12-monatige Refinanzierungsgeschäfte, Ankaufprogramm für gedeckte Schuldverschreibungen, Akzeptanz von Krediten an kleine und mittlere Unternehmen als Sicherheiten, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte mit 3-jähriger Laufzeit, und zuletzt die Ankündigung geldpolitischer Outright-Geschäfte (OMT).
Auf die Motivation und die Konzeption der OMTs möchte ich kurz etwas näher eingehen.
Das Ziel der OMTs ist es, den von mir bereits angesprochenen Verzerrungen auf dem Anleihemarkt zu begegnen, die sich in übermäßigen Risikoprämien niederschlagen und die den geldpolitischen Transmissionsprozess und damit die Fähigkeit, unser geldpolitisches Ziel von Preisstabilität zu erreichen, behindern.
Damit wir den Markverzerrungen effektiv begegnen können und die Funktionsweise der geldpolitischen Transmission erfolgreich gewährleisten können, haben wir für das OMT-Programm folgende Grundregeln festgelegt:
Erstens, ist es eine notwendige Bedingung für unsere Interventionen, dass sich das entsprechende Mitgliedsland einem ESM-Programm mit strenger Konditionalität unterzieht.
Zweitens, ist für die OMT-Käufe ex-ante kein Limit vorgesehen.
Drittens, unterliegen die über OMT erworbenen Anleihebestände der EZB der gleichen Behandlung wie die Bestände von privaten Gläubigern. Die EZB hat also keinen Senioritätsstatus.
Nun wurde von verschiedenen Seiten eingewandt, dass das OMT-Programm selbst sehr hohe Risiken aufweisen würde. Dazu zwei Bemerkungen:
Zum einen ist es richtig, dass solche Interventionen in der Tat Risiken für das Eurosystem aufwerfen. Aber solche Risiken müssen natürlich mit den Risiken des Nicht-Handelns verglichen werden. Wenn das Haus in Flammen steht, wird die Feuerwehr einschreiten, auch wenn mitunter die Möbel nass werden.
Zum anderen halten wir die Risiken, die mit dem OMT grundsätzlich einhergehen, möglichst klein. Wir betreiben also Risikomanagement. Das ist nichts Neues für uns: unsere gesamten geldpolitischen Standardmaßnahmen unterliegen einem soliden Risikomanagement. Unser operationeller Rahmen beruht auf der Annahme, dass alle Offenmarktgeschäfte zu einem bestimmten Grade riskant sind und wir deshalb unsere Bilanz durch ein entsprechendes System notenbankfähiger Sicherheiten schützen müssen.
Für die OMT erfüllt die auferlegte Konditionalität eine ähnliche risiko-mindernde Funktion. Die einem ESM-Programm zugrunde liegenden Verpflichtungen sorgen dafür, dass die entsprechenden Länder bei ihren Konsolidierungs- und Reformmaßnahmen nicht nachlassen und ihre Volkswirtschaften wieder auf einen stabilen Wachstumspfad führen. Es gilt klipp und klar: Verletzt ein Land die Bedingungen, finden keine OMT-Käufe statt.
4. Schluss
Ich komme zum Schluss. Die Krise hat mehrere Konstruktionsmängel der Wirtschafts- und Währungsunion offen gelegt. Zurzeit wird auf europäischer Ebene an verschiedenen Initiativen gearbeitet, die alle dem Ziel dienen, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vervollständigen, und damit die augenfällig gewordenen Risiken für Stabilität und Wachstum im Euroraum in den Griff zu bekommen.
Uns als Zentralbank kommt in dieser Situation eine wichtige, aber auch eine begrenzte Rolle im Rahmen unseres Mandates zu. In einer Zeit, in der Marktverwerfungen die Transmission der Geldpolitik erschweren, dienen unsere Nicht-Standardmaßnahmen dazu, die Einheitlichkeit der Geldpolitik zu erhalten und somit unser Mandat der Preisstabilität für den Euroraum als ganzen zu erfüllen. Die übrigen Akteure müssen auch ihre jeweiligen Hausaufgaben machen, nur so kommen wir gemeinsam aus der Krise.
„No risk, no fun“ ist definitiv keine passende Devise für Zentralbanker. Vielmehr hoffe ich, dass die Maßnahmen auf europäischer Ebene und auf Ebene der Mitgliedsstaaten die Finanzmärkte und Volkswirtschaften des Euroraums erfolgreich stabilisieren, so dass die Geldpolitik sich so bald wie möglich vom Krisenmanagement verabschieden kann.
Vielen Dank.
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[1]Vgl. European Commission, “European Economic Forecast”, Autumn 2012.
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[2]Vgl. Europäische Kommission, “Standard Eurobarometer 77 - Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union”, Befragung Mai 2012.
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