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Ist die europäische Wirtschafts- und Währungsunion eine Solidargemeinschaft? Soll sie es sein?

Rede von Gertrude Tumpel-Gugerell, Mitglied des Direktoriums der EZB
Deutsch-Spanisches Forum
8. April 2011, Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,

Das Deutsch-Spanische Forum widmet sich in diesem Jahr den strukturellen Herausforderungen und strategischen Perspektiven der Europäischen Union. Die Überwindung der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise gehört zweifellos zu den größten Herausforderungen, die die Union derzeit zu bewältigen hat.

Unsere Podiumsdiskussion heute Morgen steht unter dem Titel ‚Solidargemeinschaft – die Zukunft der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion’. Ist die Wirtschafts- und Währungsunion also eine Solidargemeinschaft? Lassen Sie mich meine Antwort gleich vorwegnehmen: natürlich ist die Wirtschafts- und Währungsunion eine Solidargemeinschaft, ebenso wie die Europäische Union als ganzes auf Solidarität beruht. Dies war von Anfang an Bestandteil des europäischen Aufbaus. In der berühmten Deklaration von Robert Schuman vom 9. Mai 1950, sozusagen der Geburtsurkunde des europäischen Einigungsprozesses, erklärte er:

“L’Europe ne se fera pas d’un coup, ni dans une construction d’ensemble: elle se fera par des réalisations concrètes créant d’abord une solidarité de fait.”

Ins Deutsche übersetzt: „Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch bloße Zusammenfassung: es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Taten schaffen.“

Im Grunde sind alle wesentlichen Entwicklungen, die wir in Europa seit Beginn des Integrationsprozesses und ganz besonders seit dem Ausbruch der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise beobachtet haben durch dieses Zitat beschrieben. Lassen Sie mich aber näher darauf eingehen, was ,Solidarität der Taten’ in der Wirtschafts- und Währungsunion bedeutet und welche Anforderungen sie an uns alle stellt.

Über den Ursprung der globalen Finanzkrise ist viel gesagt worden. Ebenso über ihre Entwicklung von einer Finanz- zu einer Wirtschaftskrise bis in ihr jetziges Stadium als Schuldenkrise, von der einige Länder des Euro-Raums betroffen sind. Was den Euro-Raum angeht, liegt eine der Hauptursachen in der ungleichen Entwicklung, die die beiden Säulen der Wirtschafts- und Währungsunion, nämlich die Wirtschaftsunion und die Währungsunion, genommen haben.

Auf der einen Seite steht eine Währungsunion, symbolisiert durch unsere gemeinsame Währung, den Euro.

Und diese Währung ist ein Erfolg. Sie ist stabil. Sie hat das Vertrauen der Bürger und Investoren.

Die Zahlen sprechen für sich: in den ersten zwölf Jahren des Euro betrug der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise im Euro-Raum im Durchschnitt 1.97%, ganz im Einklang mit unserer Definition von Preisstabilität. Damit hat der Euro niedrigere Inflationsraten gebracht als alle großen europäischen Volkswirtschaften in den fünfzig Jahren davor. Zu Beginn der Krise hat die EZB, als eine der ersten wichtigsten Zentralbanken der Welt, eine ganze Reihe von Maßnahmen – konventioneller und nicht konventioneller Art – ergriffen, um die für die Volkswirtschaften des Euro-Raums so wichtige Kreditgewährung zu unterstützen. Die vergangenen 12 Jahre haben also gezeigt: der Euro ist nicht nur mit niedriger Inflation einhergegangen, er hat sich auch als Schutzschild in der Krise bewährt.

Wie sieht es aber mit der zweiten Säule der Wirtschafts- und Währungsunion, der Wirtschaftsunion, aus? Anders als die Währungsunion enthält der EU Vertrag keine genaue Beschreibung, was unter ‚Wirtschaftsunion’ zu verstehen ist, sonders lediglich generelle Vorgaben. Alle Mitgliedsstaaten sollen ihre Wirtschaftspolitik nach den Zielen der Union ausrichten und als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse betrachten. Die EU-Länder sind für ihre Wirtschaftspolitik selbst verantwortlich, müssen sie aber auf europäischer Ebene koordinieren.

Wirtschaftspolitik wurde aber in vielen Mitgliedsländern unter weitgehend nationalen Gesichtspunkten betrieben. Die europäische Dimension, das heißt, die Auswirkungen von nationalen Entscheidungen auf den Euro-Raum und die EU als ganzes, wurden nicht hinreichend berücksichtigt. Europäische Regeln, die von allen Mitgliedsländern vereinbart wurden, wurden unzulänglich eingehalten. Z.B. als Deutschland und Frankreich 2003 die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verfehlten, wurden die dafür vorgesehenen Bestimmungen des Paktes nicht angewendet sondern aufgeweicht. Oder: eine Empfehlung des EU Rates an Irland im Jahr 2001, seine Wirtschaftspolitik an den beschlossenen Grundzügen der Wirtschaftspolitik auszurichten, wurde von der damaligen Regierung ignoriert.

Missachtung des europäischen Regelwerks war allerdings nicht die einzige Ursache, warum die Finanz- und Wirtschaftskrise einige Länder des Euro-Raumes besonders stark getroffen hat. Auch das Instrumentarium zur Beobachtung und Bewertung der wirtschaftspolitischen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten war unvollständig. Die Regeln konzentrierten sich allein auf Fiskalpolitik; daher gab es keine formelle Handhabe dafür, wie makroökonomische Ungleichgewichte festgestellt und behoben werden sollen.

Wir waren wirtschaftspolitisch sozusagen auf einem Auge blind.

Wir in Europa müssen nun das umzusetzen, was Alexis de Tocqueville am Amerika des 19. Jahrhunderts so bewundert hatte. Seiner Meinung nach lag die Größe des Landes nicht darin, dass es aufgeklärter war als andere Nationen, sondern vielmehr in seiner Fähigkeit, die eigenen Unzulänglichkeiten zu beheben.

Um die eben angesprochenen „Unzulänglichkeiten zu beheben“ und das Funktionieren der Wirtschaftsunion grundlegend zu verbessern, hat die EU eine Reihen von Reformen auf den Weg gebracht. Die europäischen und nationalen Regeln für Fiskalpolitik sollen verbindlicher gemacht werden. Neue Instrumente sollen die Probleme übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum in Angriff nehmen. Diese Reformen sind besonders für die Euroländer wichtig: Teil einer Währungsunion zu sein stellt sehr hohe Anforderungen an die Fiskaldisziplin und die Wettbewerbsfähigkeit. Die EZB hat aus diesem Grund einen bedeutenden Fortschritt – ja einen Quantensprung – in der Vervollständigung der Wirtschaftsunion gefordert.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass sich die Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder am 11. März 2011 auf einen ‚Euro Plus Pakt’ verständigt haben. Darin verpflichten sich die Länder, bei der Erreichung von Stabilitätszielen besonders ehrgeizig zu sein und über die vereinbarten Minimalanforderungen hinauszugehen.

Diesen Worten müssen nun Taten folgen.

Nur so kann das Vertrauen der europäischen Bürgerinnen und Bürger und der Finanzmärkte in Europa gestärkt werden. Die Gesetzesvorschläge der Europäischen Kommission zur Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerung sind ein guter Ausgangspunkt. Aber sie gehen nicht weit genug. Wir hoffen, dass im europäischen Gesetzgebungsverfahren noch nachgebessert wird, besonders in Bezug auf Sanktionen für die Defizitverfahren und für die Überwachung von makroökonomischen Ungleichgewichten.

Wir haben gesehen, dass unzureichende Wettbewerbsfähigkeit in einigen Eurostaaten zur Folge hatte, dass jene Länder nicht flexibel genug auf die Herausforderungen der Krise reagieren konnten. Dies führte zu einem signifikanten Nachlassen des Wirtschafts- und Produktivitätswachstums und zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit. Hier sind Wirtschaftsreformen nötig, die Wachstum und Beschäftigung nachhaltig fördern. Hierfür braucht es flexible Arbeits- und Produktmärkte. Löhne und Preise müssen in der Lage sein flexibel auf veränderte Bedingungen am Markt zu reagieren. Meiner Meinung nach sind gerade gut funktionierende Produkt- und Arbeitsmärkte der Schlüssel für mehr Wettbewerb und Wachstum. Genauso wichtig – besonders für die Produktivitätsentwicklung – sind auch langfristig angelegte Infrastrukturverbesserungen (z.B. von Schulen und Universitäten) und vor allem die Förderung von Innovation durch Investitionen in Ausbildung und Forschung. Das sollten unsere Prioritäten für die Zukunft sein.

Lassen Sie aber auch anmerken, dass unsere Anstrengungen in der Wirtschaftspolitik mit weiteren Reformen im Finanzsektor flankiert sein müssen. Die Finanzkrise hat die Bedeutung systemischer Risiken im Finanzsektor für das Finanz- aber auch das gesamte Wirtschaftssystem sichtbar gemacht. D.h. es wurde nicht nur deutlich, dass sich Gefahren aus der wechselseitigen Verstärkung von Einzelrisiken für die Stabilität des Finanzsystems und für die Volkswirtschaft insgesamt ergeben können, sondern dass die Auswirkungen von solchen systemischen Risiken über nationale Grenzen hinwegreichen. Es ist daher essentiell, das regulatorische Netz auszuweiten, also dass alle systemisch relevanten Finanzinstitutionen, Märkte und Infrastrukturen in der Regulierung berücksichtigt und gleichbehandelt werden. Es ist essentiell, Transparenz über Finanzmarktrisiken – besonders im Bereich des außerbörslichen Handels und den Aktivitäten der Nicht-Banken – zu schaffen. Und es ist essentiell, dass darüber nachgedacht wird, wie der Privatsektor selbst die Folgen einer Finanzkrise besser abfedern kann, um die Anreize für risikobewusstes und an langfristigen Zielen ausgerichtetes wirtschaften im Finanzbereich zu stärken.

Wenn wir all diese Reformen tatsächlich und nachhaltig umgesetzt haben, und damit eine dauerhafte Vertiefung der Wirtschaftsunion bewirken, dann – so könnte man argumentieren – werden zukünftige Schuldenprobleme oder Ungleichgewichte beizeiten erkannt und bekämpft. In anderen Worten, wenn jeder sich strikt an die Brandschutzordnung hält, dann braucht es keine Feuerwehr.

Die Krise hat uns eines Besseren belehrt, nämlich dass wir einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus im Euro-Gebiet benötigen. Dabei muss jedoch jede finanzielle Unterstützung an ein strenges und verbindliches Programm zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen und finanziellen Stabilität in dem betroffenen Land geknüpft sein. Die Euroländer haben sich im März auf die Modalitäten eines solchen Mechanismus geeinigt, der von Mitte 2013 funktionsfähig sein soll.

Diese Überlegungen bringen mich auf meine Eingangsfrage zurück, nämlich was der Begriff ‚Solidargemeinschaft’ in der Wirtschafts- und Währungsunion bedeutet. Ich glaube, dass die Antworten der EU auf die Krise genau diese ‚Solidarität der Taten’ vor Augen führt, von der die Gründungsväter der europäischen Einigung sprachen. Mit den Unterstützungsmassnahmen für Griechenland, die in sehr kurzer Zeit beschlossen wurden, und des anschließend im Mai 2010 beschlossenen Finanzstabilisierungspakets hat die EU nicht nur ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt sondern auch gezeigt, dass Europa solidarisch handelt.

Aber lassen Sie mich auch unmissverständlich klarstellen: Solidarität ist keine Einbahnstrasse, von Geber- zu Empfängerländern. Solidarität ist vielmehr eine wechselseitige Verpflichtung zur Unterstützung, d.h. alle Mitgliedstaaten haben zunächst einmal die Verpflichtung, eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik zu verfolgen. Jedes Land muss sein eigenes Haus in Ordnung halten und vor Feuer schützen, und nicht auf die Brandschutzversicherung spekulieren – selbst wenn es diese für den Notfall gibt.

Diese wechselseitige Solidaritätsbeziehung ist umso notwendiger, als die Volkswirtschaften der EU durch den Binnenmarkt, und jene der Eurozone zusätzlich durch die gemeinsame Währung, bereits in hohem Maße integriert sind. Jedes Land muss in seinen Entscheidungen immer auch die Auswirkungen auf die anderen Mitgliedsstaaten berücksichtigen. Nur in dieser Weise kann eine Solidarität der Taten in unserer Wirtschafts- und Währungsunion dauerhaft bestehen.

Solidarität in Europa bedeutet also, das europäische Interesse zu verfolgen und gemeinsame Ziele über individuelle Absichten zu stellen. Letztlich ist Solidarität der Ausdruck gemeinsamer Ziele und gemeinsamer Interessen, die in gemeinsamen Werten begründet sind. In einem ganz allgemeinen Sinn hat der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht, als er gesagt hat:

Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen ... Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“

Dieses europäische Gemeingut, die Gesamtheit unserer Kultur und Gedankenwelt, die durch gegenseitigen Austausch und Offenheit zueinander entstanden ist, ist die Grundlage des europäischen Aufbaus. Kein Land kann in Wahrheit sein geistiges und kulturelles Erbe ausschließlich für sich selbst beanspruchen, ein solcher Isolationismus entspricht nicht der Realität – in der Kultur ebenso wenig wie in den Wirtschaftsbeziehungen.

Doch ebendiese Teilhabe an gemeinsamen Werten und Errungenschaften – und dazu zähle ich natürlich auch den Euro – verpflichtet auch zum Respekt der gemeinsamen Werte und der Regeln, die sich darauf gründen. Die europäische Solidargemeinschaft ist daher nicht nur ein Anspruch an andere, sondern in erster Linie ein Anspruch an sich selbst.

Das sollten wir immer vor Augen haben.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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