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Vortrag anlässlich des Banken- und Unternehmensabend 'Die Bedeutung des Euro-Raums in der Weltwirtschaft'

Prof. Dr. Jürgen StarkMitglied des Direktoriums der Europäischen ZentralbankMitglied des EZB-Rats der Europäischen Zentralbank Deutsche Bundesbank, Hauptverwaltung MünchenMünchen, 26 Oktober 2006

1. Einleitung

Mit der Währungsunion hat Europa eine neue Bedeutung in der Weltwirtschaft gewonnen. Das führt auch zu einer zusätzlichen Dimension an Verantwortung für die Geld- und Wirtschaftspolitik: die Entwicklung der Weltwirtschaft, ihre Stabilität und ihre Risiken hängen natürlich auch von der Situation im Euro-Raum ab.

Ich werde vier Aspekte des Themas stärker beleuchten:

Erstens möchte ich uns noch einmal vor Augen führen, welche Integrationsleistung Europa in den letzten 50 Jahren vollbracht hat und illustrieren, welche Rolle das Eurogebiet heute in der Weltwirtschaft spielt. Das kann uns durchaus Mut für die Aufgaben machen, die noch zu bewältigen sind.

Im zweiten Teil meiner Ausführungen werde ich auf die Herausforderungen eingehen, die noch vor uns liegen, und fünf konkrete Maßnahmen benennen, die dazu beitragen können, das Wirtschaftswachstum im Eurogebiet nachhaltig zu stärken.

Drittens werde ich auf einige Voraussetzungen für eine erfolgreiche regionale Integration, wie sie die europäische Wirtschafts- und Währungsunion darstellt, hinweisen.

Schließlich werde ich mich der Frage widmen, wie sich Europa weiter entwickeln kann und muss.

2. Die Bedeutung des Euro-Raums in der Weltwirtschaft

Einer der wichtigsten Aspekte der gestiegenen internationalen Bedeutung des Eurogebiets ist, dass es sich zunehmend zu einem wichtigen und stabilisierenden Faktor für die gesamte Weltwirtschaft entwickelt hat. Die folgenden ausgewählten Fakten mögen dies veranschaulichen:

  • Mit einer Einwohnerzahl von etwa 314 Millionen ist das Eurogebiet bevölkerungsreicher als die USA (300 Millionen). In der EU leben derzeit 462 Millionen Menschen.

  • Gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist das Eurogebiet die drittgrößte Wirtschaftsregion der Welt, wenn wir die regionale Einteilung des IWF zugrunde legen. Danach hat das Eurogebiet einen Anteil am Weltsozialprodukt von 15%. Im Vergleich dazu halten die USA einen Anteil von 20% und der neue große asiatische Entwicklungsraum mit den beiden Volkswirtschaften Indien und China zusammen 27%.

  • Das Eurogebiet ist außerdem einer der wichtigsten Welthandelsregionen. Die Mitgliedsländer des Eurogebiets sind Weltmarktführer bei Exporten von Gütern und Dienstleistungen. Im Jahr 2005 betrug ihr Anteil an Weltexporten 30%, verglichen mit 10% der USA und 12% der beiden großen asiatischen Länder.[1]

  • Auf den Finanzmärkten sind knapp ein Drittel aller internationalen Schuldverschreibungen in Euro denominiert.

  • Der Anteil des Euro an den internationalen Währungsreserven beträgt mittlerweile etwa ein Viertel.

Über viele Jahre hinweg war die globale wirtschaftliche Dynamik in erster Linie von den beiden als „wirtschaftliche Gravitationszentren“ bezeichneten Regionen USA und asiatische Schwellenländer bestimmt gewesen. Mit der Abschwächung des Wachstums in den USA, der erwartenden stärkeren Binnenausrichtung der asiatischen Schwellenländer und der wirtschaftlichen Erholung in Japan zeichnen sich Tendenzen für ein ausgewogeneres globales wirtschaftliches Wachstum ab. Hierzu leistet nun auch die wieder erstarkte wirtschaftliche Dynamik im Eurogebiet einen Beitrag, die übrigens auch schon auf den Arbeitsmarkt ausstrahlt. So zeigen alle verfügbaren Daten für den Arbeitsmarkt im Euroraum auf eine positive Entwicklung. Die Arbeitslosenquote hatte ihren höchsten Stand Mitte-2004 bei 8,9%. Seitdem fällt sie und hat jetzt einen Wert von unter 8% erreicht. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der Arbeitslosen um 1,5 Millionen gesunken.

Das Eurogebiet spielt – nach einigen Jahren relativ schwachen Wachstums – also wieder eine größere Rolle in der weltwirtschaftlichen Entwicklung. Und das ist begrüßenswert, um z.B. die globalen Leistungsbilanz­ungleichgewichte zu verringern. Im August zeigte der über 12 Monate kumulierte Saldo für die Leistungsbilanz ein leichtes Defizit von 0,5% des BIP nach einem Überschuss von 0,2% im Vorjahr. Damit ist die Leistungsbilanz des Eurogebiets nahezu ausgeglichen und leistet so einen Beitrag zur Begrenzung der globalen Ungleichgewichte.

Wir sollten nicht unterschätzen, welchen Beitrag zu Wachstum und Beschäftigung die erfolgreiche schrittweise Integration und Erweiterung der EU in den letzten 50 Jahren geleistet hat. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, und Ende der fünfziger Jahre der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die Schaffung des gemeinsamen Markts 1993 und schließlich die gemeinsame Währung 1999 markieren die wichtigsten Etappen auf dem Weg Europas zur wirtschafts- und währungspolitischen Integration und Stabilität. Was mittlerweile in Europa erreicht worden ist, war für viele vor 15-20 Jahren noch undenkbar.

Die EU und die Wirtschafts- und Währungsunion sind in der Tat weltweit einzigartig. Nirgendwo anders wurde ein so hoher Grad an überstaatlicher Kooperation und Integration erreicht. Mit dem gemeinsamen Markt, und den supranationalen Institutionen in Europa hat die wirtschafts- und währungspolitische Integration einen hohen Grad erreicht – mit der gemeinsamen Währung und der einheitlichen Geldpolitik für das Eurogebiet den höchsten vorstellbaren Integrationsgrad überhaupt.

Die Währungsunion leistet seit 1999 ihren Beitrag zur Preisstabilität und fördert damit nachhaltig Wachstum und Beschäftigung. Lassen Sie mich kurz die wichtigsten Eckpunkte rekapitulieren:

  • Die neue wirtschaftspolitische Struktur bestehend aus einer einheitlichen Geldpolitik und einer dezentralisierten aber koordinierten Wirtschaftspolitik, wurde von vielen als ein Experiment mit unsicherem Ausgang eingeschätzt. Trotz dieser Unkenrufe hat die Währungsunion von Anfang an problemlos funktioniert.

  • Besonders bemerkenswert ist der wirtschaftspolitische Koordinierungsrahmen, der allerdings bei weitem noch nicht ausgeschöpft wird. Die einzige substanzielle Änderung seit 1999 betraf den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Hier bleibt abzuwarten, ob die neuen haushaltspolitischen Regeln und Verpflichtungen tatsächlich eingehalten bzw. erfüllt werden.

  • Die Einführung des Euro half mit, die Wohlstandsgewinne aus der Europäischen Wirtschaftsintegration der letzten Jahrzehnte zu sichern. In den fast 8 Jahren seit der Einführung des Euro hat die EZB die Inflationsrate niedrig gehalten und Vertrauen in die neue Währung geschaffen. Aufgrund der hohen Glaubwürdigkeit der EZB orientieren sich auch die längerfristigen Inflationserwartungen nahe an unserem Preisstabilitätsziel.

In anderen Bereichen, wie z.B. dem internen Markt für Dienstleistungen, gibt es noch Nachholbedarf.

3. Viel wurde bereits erreicht

Neben diesen institutionellen Fortschritten sollten wir aber auch die in den vergangenen Jahren initiierten Reformen nicht unterschätzen.

Lassen Sie mich das anhand einiger Beispiele erläutern:

1. Die Unternehmen im Währungsgebiet haben durch Umstrukturierung, Bereinigung der Bilanzen und Innovation an Wettbewerbsfähigkeit und Stabilität gewonnen. Die Gewinne der Unternehmen haben sich im Großen und Ganzen in den vergangenen Jahren günstig entwickelt. Dazu haben, unter anderem niedrigere Unternehmenssteuern, moderate Lohnzuwächse und die Rationalisierung in den Unternehmen beigetragen.

2. Aktuelle Untersuchungen der OECD zeigen, dass die Mitgliedsländer des Eurogebietes im Vergleich zum Durchschnitt der OECD-Länder weitreichende Reformprojekte begonnen haben.[2] In der Tat wurden in vielen Mitgliedsländern der Währungsunion Reformen in Angriff genommen:

  • Damit sich Leistung wieder lohnt, wurde die Steuer- und Abgabenbelastung sowohl für Arbeitnehmer als auch für Unternehmen in den meisten Mitgliedsländern im letzten Jahrzehnt reduziert.

  • Es gibt erste Anzeichen dafür, dass sowohl die Arbeitsmarktreformen als auch die moderaten Lohnabschlüsse der letzten Jahre Wirkung zeigen. Zwischen 1996 und 2005 ist die Beschäftigung im Schnitt um 1,4% pro Jahr gestiegen (verglichen mit 1,2% pro Jahr in den USA), mehr als 11 Millionen Arbeitsplätze wurden geschaffen.

  • Seit 2001 haben sieben Mitgliedsländer des Währungsgebietes (einschließlich der vier größten Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien) ihr Rentensystem reformiert.

  • Außerdem hat es in vielen Mitgliedsländern umfangreiche Privatisierungen gegeben.

Alles in allem wurden seit Mitte der 90er Jahre wichtige Schritte in die richtige Richtung unternommen, sowohl im Hinblick auf die europäische Integration als auch bei Strukturreformen.

4. Es gibt noch viel zu tun

Gerade vor dem Hintergrund der kritischen Diskussion über die Zukunft der EU darf das Momentum für weitergehende Strukturreformen in einer wirtschaftlich besseren Zeit wie heute nicht verloren gehen. Es gibt immer noch viel zu tun. Die Möglichkeiten, die uns die gemeinsame Währung und der gemeinsame Markt eröffnet haben, sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft.

Das Pro-Kopf-Einkommen in Kaufkrafteinheiten ist im Währungsgebiet um etwa ein Viertel niedriger als in den USA. Dies bestätigt, dass das Eurogebiet sein ökonomisches Potential noch nicht ausgeschöpft hat:

  • Die Beschäftigungsquote im Eurogebiet ist mit 64% deutlich niedriger als in den USA, wo sie 72% beträgt.

  • Im Eurogebiet werden im Jahresdurchschnitt rund 300 Stunden weniger gearbeitet als in den USA. Während sich der Arbeitseinsatz jedes Beschäftigten in den USA seit Anfang der 80er Jahre kaum verändert hat, hat er sich hier um 300 Stunden im Jahr verringert. Hier stellt sich die interessante Frage, ob die Europäer in ihrer Entscheidung zwischen Arbeit und Freizeit über das letzte Vierteljahrhundert hinweg eine Präferenz für mehr Freizeit zum Ausdruck gebracht haben. Auch wenn dies der Fall sein sollte – eines ist klar: dieser Trend lässt sich angesichts der demografischen Entwicklung nicht durchhalten.

  • Die Arbeitsproduktivität in den USA wuchs zwischen 1996 und 2005 mit einer Jahresrate von 2,2%, verglichen mit 1,3% im Eurogebiet. Im zweiten Quartal 2006 ist die Arbeitsproduktivität zwar mit 1,4% leicht schneller gewachsen, hauptsächlich jedoch auf Grund des konjunkturellen Aufschwungs. Das stärkere Wachstum in den USA ist vor allem auf die stark steigende Arbeitsproduktivität in den Wirtschaftsbereichen zurückzuführen, die Informationstechnologien stark nutzen oder, in geringerem Ausmaß, produzieren.

  • Im Jahr 2004 betrugen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Eurogebiet 1,9% des Bruttoinlandsprodukts, im Vergleich zu 2,8% in den USA.[3]

  • Obwohl Humankapital in einer zunehmend wissensbasierten Wirtschaft immer wichtiger wird, investieren wir zu wenig in Bildung und Ausbildung. Im Eurogebiet haben 21% der Arbeitsbevölkerung einen Universitätsabschluss (oder eine vergleichbare Qualifikation). In den USA sind es 38%.

Dies alles weist auf immer noch deutliche Schwächen auf der Angebotsseite der Wirtschaft und auf die Notwendigkeit zu noch weitergehenden Strukturreformen im Eurogebiet hin mit dem Ziel, die Beschäftigung bzw. den Arbeitseinsatz und damit das Potentialwachstum weiter zu steigern.

5. In fünf Schritten zu höherem Wachstum

Auch eine alternde Gesellschaft kann ihr Potentialwachstum steigern durch:

  • eine höhere Beschäftigungsquote,

  • eine längere Lebens-, Jahres- und Wochenarbeitszeit,

  • mehr Ausgaben für Forschung&Entwicklung zur Steigerung der Innovationskraft und

  • durch verbesserte Bildung und Ausbildung.

Alles in allem haben wir also immer noch Spielraum, um das Produktivitätswachstum und die Beschäftigung zu steigern.

Schlüssel dazu sind: Die Erhöhung des Wettbewerbs, der Flexibilität, der Innovationskraft, der Arbeitsproduktivität und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit im Euroraum. Ohne weitere Anpassungen an die sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen sowie an nicht umkehrbare weltwirtschaftliche Entwicklungen werden wir weder dauerhaft höhere Beschäftigung noch steigende Realeinkommen erzielen.

Dass diese Anpassungen unausweichlich sind, haben die europäischen Regierungen mit ihrer Agenda von Lissabon im Jahr 2000 erkannt. Nach nur mäßigen Fortschritten haben die europäischen Staats- und Regierungschefs jüngst ihr Bekenntnis zu Lissabon erneuert. Diese Agenda enthält alle wesentlichen Aufgabenschwerpunkte, für die Strukturreformen angeraten sind. In jüngster Zeit haben sich die Reformbemühungen mehr auf die Erreichung von Wachstums- und Beschäftigungszielen konzentriert. Insbesondere ist die gemeinsame Initiative der EU-Kommission und der Mitgliedsländer „Partnerschaft für mehr Wachstum und Beschäftigung“ sowie die Revitalisierung der Reformpläne zu begrüßen. Es kommt jetzt allerdings darauf an, diese Reformpläne mit Nachdruck in die Praxis umzusetzen.

Ich möchte dazu fünf konkrete Maβnahmen nennen, deren Umsetzung zu höherem Potenzialwachstum und steigender Beschäftigung beitragen wird. Das wird Ihnen im wesentlichen nicht neu vorkommen. Aber es geht jetzt darum – wie bereits gesagt – das Momentum für Reformen nicht zu verlieren.

Erstens, gut funktionierende Arbeits- und Gütermärkte sind von entscheidender Bedeutung für mehr Wirtschaftswachstum. Für das Eurogebiet heißt das, die volle Funktionsfähigkeit des gemeinsamen Marktes zu bewerkstelligen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem freien Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital zu.

Mangelnder Wettbewerb auf den Gütermärkten führt zu einer geringeren Effizienz der Produktion und verringert die Innovationsanreize.[4] Trotz der großen Fortschritte, die bereits erzielt wurden, gibt es immer noch bedeutende Wettbewerbshindernisse im Euroraum, insbesondere bei Dienstleistungen und den sog. Netzwerkindustrien, wie z.B. bei der Energieverteilung, die auch mit dem Wiedererstarken nationaler Interessen in Europa zu tun haben.

Wirksame Maßnahmen zur Steigerung der Beschäftigung und zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit sind insbesondere Reformen der Steuer- und Sozialsysteme. Sie sollen den Beschäftigungssuchenden mehr Anreize geben eine Arbeit aufzunehmen. Dazu kann auch eine Flexibilisierung der Arbeitszeit beitragen[5]. Weitere wichtige Grundpfeiler eines gut funktionierenden Arbeitsmarktes sind die Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt innerhalb der EWU und eine höhere Flexibilität der Löhne.

Eine zweite Grundvoraussetzung für höheres Wachstum ist ein Umfeld, das Neugründungen von Unternehmen erleichtert. Insbesondere muss kostenträchtige und unternehmensfeindliche Bürokratie abgebaut werden. Die Weltbank hat festgestellt, dass im Jahr 2004 die durchschnittlichen Kosten einer Firmengründung für Unternehmen mit bis zu 50 Beschäftigten im Eurogebiet (ohne Luxemburg) ungefähr zehnmal so hoch waren wie in den USA. Auch benötigt eine Firmengründung im Eurogebiet 27 Werktage im Vergleich zu 5 Werktagen in den USA.[6] Europa hat hierauf mit den Beschlüssen des EU-Gipfels vom März 2006 reagiert. Demnach sollen die Mitgliedsstaaten bis 2007 eine Firmengründung in einem raschen und stark vereinfachten Verfahren innerhalb einer Woche ermöglichen.

Drittens, um das Potential zur Produktivitätssteigerung voll auszuschöpfen, sind Maßnahmen zur Steigerung der Innovationskraft (insbesondere im Dienstleistungsbereich), zur Förderung technologischen Wandels und zur Stärkung des Humankapitals notwendig.

Mein vierter Punkt bezieht sich auf das Finanzsystem. Ein hoch entwickeltes Finanzsystem erhöht die wirtschaftliche Effizienz, indem die zur Verfügung stehenden knappen Ressourcen der profitabelsten Verwendung zugeführt werden. Nur ein solches Finanzsystem stellt eine optimale Allokation im Zeitablauf sicher. Das wird durch empirische Studien bestätigt, die einen Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsstand des Finanzsystems und wirtschaftlichem Wachstum identifiziert haben.[7]

Die Effizienz des Finanzsystems im Eurogebiet kann durch ein ganzes Bündel an Maßnahmen erhöht werden. Dazu zählen insbesondere Fortschritte bei der Finanzmarktintegration, die Verringerung von Transaktionskosten und ein stärkerer Wettbewerb.

Die fünfte Maßnahme bezieht sich auf die Haushaltspolitik. Alle Mitgliedsländer sollten den Aufschwung zur Konsolidierung der Staatshaushalte nutzen und damit auch einen Beitrag zur langfristigen Stabilität der Finanzierungsbedingungen im Eurogebiet leisten. Es ist auch notwendig, die ökonomische Anreizstruktur und die Nachhaltigkeit der Sozialsysteme durch umfassende Reformprogramme zu verbessern. Die günstige Konjunkturlage, Einmaleinnahmen und Erfolge bei der Haushaltskonsolidierung wird es dieses Jahr einer großen Anzahl von Mitgliedsländern ermöglichen, ihre fiskalpolitischen Ziele zu erreichen oder sogar zu übertreffen.

Allerdings werden einige Länder voraussichtlich die selbst gesetzten Ziele im Hinblick auf eine längerfristige, strukturelle Verbesserung der Einnahmen und Ausgaben verfehlen. Dies ist besorgniserregend, insbesondere auch mit Blick auf die Verpflichtungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.

Eine solide Finanzpolitik leistet einen wichtigen Beitrag zu dauerhaft höherem Wachstum. Sie verringert die Risikoprämien in den langfristigen Zinsen und schafft damit Vermögenseffekte, die wiederum Investitionen und den privaten Konsum fördern. Nicht zuletzt ist eine haushaltspolitische Konsolidierung auch notwendig mit Blick auf die demographische Entwicklung, wenn eine weiter steigende Belastung derzeitiger und künftiger Generationen begrenzt werden soll.

Die entscheidende Frage zu Beginn dieses Jahrhunderts im Zusammenhang mit den öffentlichen Finanzen ist jedoch die nach der Prioritätensetzung bei den öffentlichen Ausgaben und damit die nach den staatlichen Aufgaben. Ich vermisse hier eine ernsthafte Aufgabenkritik.

Ich bin davon überzeugt, dass diese fünf Maßnahmen dem Eurogebiet den Weg zu dauerhaft höherem Wachstum und höherer Beschäftigung ebnen können.

Ihre Umsetzung würde außerdem – als Bestandteil einer international vereinbarten Strategie - einen Beitrag zur Verringerung der globalen Leistungsbilanzungleichgewichte leisten. Die G-7 haben sich auf Maßnahmen verständigt, die die Ungleichgewichte verringern, aber auch das Wirtschaftswachstum fördern. Konkret bedeutet das für die USA die Sparquote zu erhöhen, beispielsweise durch fortgesetzte fiskalpolitische Konsolidierungsanstrengungen. Die aufstrebenden asiatischen Länder sind aufgerufen, ihre Wechselkursregimes flexibler zu gestalten. In Japan und Europa sind Strukturreformen der geeignete Beitrag zur Senkung der globalen Leistungsbilanzungleichgewichte.[8]

6. Ist die europäische Währungsunion ein Vorbild für andere Regionen?

In historischer Perspektive ist die europäische Integration ein einzigartiger Erfolg. Auch die Europäische Währungsunion hat in den letzten acht Jahren zu diesem Erfolg beigetragen, wenn wir das Augenmerk auf die gemeinsame Geldpolitik lenken. Aber, um die Möglichkeiten, die uns der gemeinsame Markt und der Euro eröffnen, vollständig zu nutzen, muss noch viel getan werden in den Bereichen Fiskal- und Strukturpolitik.

Die Einführung des Euro hat sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft großes Interesse an der europäischen Integrationserfahrung geweckt, insbesondere mit Blick auf die Geldpolitik. Der Erfolg der Währungsunion wird von vielen als beispielhaft angesehen (was uns allerdings nicht den Blick auf die bestehenden Probleme verstellen sollte). Der gelungene Start der Währungsunion zwischen souveränen Mitgliedsstaaten hat neuen Schwung in die Idee regionaler Währungsverbünde gebracht.

In den Augen der Befürworter ist währungspolitische Integration ein Synonym für höhere nominale Konvergenz, eine stabile Währung, starke regionale Institutionen, insbesondere im Hinblick auf den Status der Notenbank und regionale Überwachungsmechanismen, die eine laxe und unverantwortliche Fiskalpolitik verhindern können. Schlussendlich sollen auch das Wachstum und die Beschäftigung durch stärkeren regionalen Handel und ein stabileres wirtschaftspolitisches Umfeld steigen.

Zurecht ist zu betonen, dass ein derart positives Ergebnis einen starken politischen Willen zur Integration voraussetzt. Jede erfolgreiche regionale Integration benötigt nicht nur einen Motor, sondern auch ein Getriebe, die die Dinge vorantreiben. Damit ist eine klare politische Orientierung oder Führung gemeint. Jede erfolgreiche Integration bedarf der institutionellen Absicherung und der politischen Bereitschaft, dauerhaft nationale Souveränität auf eine supranationale Institution zu übertragen. Der monetäre Integrationsprozess bedarf darüber hinaus eines glaubwürdigen Ankers!

Regionale Integrationsprozesse vollziehen sich in der Regel langsam und schrittweise. Die wirtschaftliche und politische Situation in Europa nach dem Ende des 2. Weltkrieges und visionäre Politiker waren Triebkräfte für die Vertiefung der Zusammenarbeit und Integration. Und trotzdem müssen wir immer noch hart daran arbeiten, das Potential des gemeinsamen Marktes und des Euro auszuschöpfen.

Das in Europa Erreichte wird – wie gesagt – inzwischen auch von anderen Regionen der Welt als Ansporn betrachtet, die regionale Integration – einschließlich der monetären – voranzutreiben. Beispiele sind die arabische Halbinsel, Afrika, und Südostasien, die, wie nicht anders zu erwarten, unterschiedliche Herausforderungen illustrieren, denen die währungspolitische Integration in diesen Regionen gegenübersteht.

Saudi-Arabien und die anderen fünf Mitgliedsstaaten des Gulf Cooperation Council (GCC: Bahrain, Kuwait, Qatar, Oman und die Vereinigten Arabischen Emirate) planen eine Währungsunion für das Jahr 2010. Diese sechs Länder sind alle Ölproduzenten und waren in der Vergangenheit ähnlichen wirtschaftlichen Schocks ausgesetzt, was die Konvergenz erleichtert hat. Sie befinden sich auch seit 20 Jahren im Wechselkursverbund (trotz signifikanter Schocks, wie z.B. den beiden Irak-Kriegen und anderer politischer Spannungen in der Region).

In einem gewissen Kontrast dazu steht eine der am wenigsten entwickelten Regionen der Welt: Subsahara-Afrika. Einige afrikanische Länder haben sich kürzlich verpflichtet, eine Reihe an regionalen Projekten zur Währungsintegration vorzuziehen, die ursprünglich erst für die Jahre 2018-2025 vorgesehen waren.

Anders als im Mittleren Osten und in Subsahara-Afrika gibt es noch keine konkreten Pläne für eine währungspolitische Integration in Südostasien. Stattdessen haben die währungspolitischen Institutionen dort ihre operative Zusammenarbeit vertieft. Dem Ansatz der so genannten „variablen Geometrie“ folgend, gibt es z.B. Vereinbarungen zur gegenseitigen Unterstützung bei Liquiditätskrisen.

Während die Europäische Integration, insbesondere die währungspolitische Integration, auch in anderen Regionen der Welt als Erfolgsmodell gilt, gibt es sowohl in der EU als auch auf internationaler Ebene Fragen, wie Europa sich weiterentwickeln wird und welche Rolle die EU in der Welt künftig einnehmen kann.

Es gibt Konferenzen, Seminare etc., die sich mit der Frage beschäftigen „Wohin entwickelt sich das Europäische Projekt?“. Hier schwingt oft eine gewisse Skepsis mit.

Und in der Tat befindet sich die EU in einer kritischen Phase, so wie es kürzlich der luxemburgische Ministerpräsident zum Ausdruck gebracht hat.

Die Ablehnung des EU-Verfassungsvertragsentwurfs durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden, die ernüchternde Zwischenbilanz der schon angesprochenen Lissabon-Strategie, die Änderungen im europäischen Haushalts-Regelwerk und die Diskussion über die Dienstleistungsrichtlinie sind Symptome der Krise, in der sich die EU befindet.

Derzeit begegnet man auf der politischen Ebene einem hohen Maß an Ratlosigkeit, wie sich die EU weiterentwickeln soll. Es gibt keinen Konsens darüber, welches die nächsten Schritte der Integration sein sollen, geschweige denn auf welches Ziel die EU sich hinbewegen soll.

Damit ist man bei zwei entscheidenden Fragen, an deren Beantwortung man eher pragmatisch herangeht:

  1. Die Frage der Finalität des Integrationsprozesses und

  2. die Frage der Grenzen der EU – sind diese geographisch definierbar oder werden sie über die Aufnahmefähigkeit der EU definiert.

In den neunziger Jahren wurde noch eine intensive Debatte über die weiteren Schritte geführt, die sich mit den Stichworten „Vertiefung und Erweiterung“ bzw. „Vertiefung oder Erweiterung“ charakterisieren lassen.

Im Gegensatz zur Wirtschafts- und Währungsunion wurden bei der angestrebten Weiterentwicklung der EU zu einer politischen Union bisher nur geringe Fortschritte erzielt. Die Vertiefung der Integration in den Bereichen Außen- und Sicherheitspolitik sowie Innen- und Rechtspolitik ist in den Hintergrund getreten. Mit der Erweiterung der EU auf nun 25 Mitgliedstaaten haben sich die Handlungsprioritäten nochmals verschoben und die Interessen in der EU sind noch heterogener geworden. Die Gemeinschaft hat damit zunehmend einen Paradigmenwechsel von der Vertiefung hin zur Erweiterung vollzogen.

Die Erweiterung der EU hat sowohl für die neuen als auch für die alten Mitgliedstaaten Konsequenzen. Der gemeinsame Vorteil besteht darin, dass der Binnenmarkt sich vergrößert hat und die Handels- und Produktionsverflechtungen intensiver geworden sind. Die alten Mitgliedstaaten haben einen erleichterten Zugang zu neuen Absatzmärkten. Gleichzeitig liegen die Arbeitskosten in den neuen Mitgliedsstaaten deutlich niedriger und die Produktivitätszuwachsraten deutlich über denen der alten Mitgliedstaaten. Ebenso liegen die Unternehmenssteuern in den neuen Mitgliedstaaten unter denen der alten Mitglieder.

Im wirtschaftlichen Aufholprozess haben die neuen Mitglieder noch einen langen Weg vor sich, wenn man bedenkt, dass das Pro-Kopf-Einkommen dort nur knapp über 50% des Eurogebietes beträgt. Auch besteht nach wie vor großer Anpassungsbedarf in Bezug auf Privatisierung und Liberalisierung.

Von den neuen Mitgliedstaaten hat sich bisher nur Slowenien für die Einführung des Euro qualifiziert. Aber auch wenn später weitere Staaten hinzukommen, gilt: Die Erweiterung des Eurogebietes in der Zukunft ändert nichts am geldpolitischen Auftrag der EZB. Die Geldpolitik ist und bleibt dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Wer sich für die Einführung des Euro qualifizieren will, muss die Maastricht Kriterien erfüllen, auf deren strikte Einhaltung wir achten werden. Es geht um einen hohen Grad dauerhafter Konvergenz und darum, dass möglichst große Fortschritte im wirtschaftlichen Aufholprozess vor der Einführung des Euro erzielt werden. Heute haben die neuen Mitgliedstaaten noch eine sehr unterschiedliche Ausgangslage, der Rechnung getragen werden muss. Wichtig ist auf jeden Fall, dass mit der Erweiterung des Eurogebietes die Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion und das Vertrauen in den Euro nicht gestört werden.

Wie kann die EU über die Erweiterung hinaus wieder politisch in Schwung kommen und damit auch global eine angemessene Rolle spielen – wirtschaftlich wie politisch?

Trotz der kritischen Lage in der sich die EU befindet, ist die EU nach wie vor funktionsfähig. Es handelt sich also weniger um eine institutionelle als um eine politische Krise. Und hier ist politische Führung gefragt.

Wir haben es bei der Europäischen Integration nach wie vor mit zwei unterschiedlichen Ansätzen zu tun, die sich seit Anfang der neunziger Jahre eher verfestigt haben:

  • Mit der Wirtschafts- und Währungsunion wurde eine Vergemeinschaftung der Geldpolitik und eine enge Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken vereinbart.

  • Die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Innen- und Rechtspolitik basieren jedoch auf dem Prinzip der intergouvernementalen Zusammenarbeit. (In soweit ist die Bezeichnung „gemeinsame“ Außen- und Sicherheitspolitik irreführend.)

Es gibt also neben dem hohen Grad an Integration in der Währungspolitik keinen politischen Bereich, in dem eine Vertiefung in Form der Übertragung nationaler Souveränität auf die supranationale Ebene sichtbar wird. Aber ohne eine Weiterentwicklung zu einer politischen Union, ohne politische Vertiefung der EU bleibt die Wirtschafts- und Währungsunion mit diesem Integrationsgrad alleine stehen. Und ohne eine Weiterentwicklung zu einer politischen Union wird Europa weltpolitisch nicht die Rolle spielen, die ihm zukommen könnte.

Es bedarf deshalb einer stärkeren politischen Fundierung der Europäischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion. Es geht auch darum, nationale Egoismen in der EU zu kontrollieren und einer potentiellen Desintegration entgegenzuwirken.

Wichtig ist dabei das Schicksal des Verfassungsvertrags­entwurfs. Nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden ist es sehr fraglich, und damit auch nicht ausgeschlossen, dass dieser Vertragsentwurf neu belebt werden kann. Als Alternative dazu wird ein „Europäischer Grundvertrag“ diskutiert oder auch ein so genannter „Minivertrag“. Entscheidend wird sein, ob der Terminus „Verfassung“ weiterhin verwendet werden soll oder nicht. Ich persönlich – und ich möchte betonen, dass ich nun meine persönliche Meinung und nicht unbedingt die der EZB wiedergebe – habe große Sympathie für eine Europäische Verfassung, allerdings in der Form eines „Europäischen Grundvertrags“. Einen Grundvertrag, der den weiter geltenden europäischen Verträgen vorgeschaltet werden könnte, und der die Charta der Grundrechte der Union sowie Ziele, Organe und Bestimmungen über die Entscheidungsprozesse in der EU umfasst.

Keine Sympathie habe ich für die Bezeichnung „Minivertrag“ – das würde dem europäischen Anliegen nicht gerecht.

Auf absehbare Zeit wird die Finalität des Integrationsprozesses nicht geklärt werden können. Dies zu erzwingen würde neue kontroverse Diskussionen in Europa entfachen. Bei realistischer Herangehensweise heißt das auch, die weitere Perspektive für die europäische Integration ist nicht eindeutig. Aber die europäische Integration war schon immer ein gradueller und offener Prozess. Sie verlief nie gradlinig, sondern war vielen Rückschlägen ausgesetzt, denen neue Anläufe folgten.

Ein Szenario für den Fortgang Europas könnte in der so genannten „Methode Monnet“ bestehen, mit dem die langsame Weiterentwicklung auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners charakterisiert wird und damit im Grunde der bisherige Weg der europäischen Integration fortgeführt würde. Die Frage ist allerdings, ob dies mit einer Zahl von 27 Mitgliedstaaten so noch möglich ist. Deshalb könnte der Ansatz „verstärkter Zusammenarbeit“ unter den Mitgliedstaaten, die schneller voranschreiten wollen, Bedeutung gewinnen. Gemäß Artikel 43 des EU Vertrages ist dies schon heute möglich und diese Möglichkeit sieht auch der Verfassungsvertragsentwurf vor. Mit einem solchen Ansatz könnte der Gefahr einer relativen Desintegration vorgebeugt werden. Dies würde die Diskussion um ein „Europa mehrerer Geschwindigkeiten“ – das wir de facto ja bereits haben – oder ein „Europa der konzentrischen Kreise“ wieder beleben und gleichzeitig einen neuen politischen Impuls setzen.

  1. [1] In der Kategorisierung des IWF enthalten die Exportdaten für das Eurogebiet auch den Binnenhandel innerhalb der EWU.

  2. [2] Vgl. Duval and Elmeskov (2005), OECD Working Paper No. 438.

  3. [3] Quelle: Eurostat.

  4. [4] Das bestätigen empirische Studien wie beispielsweise: European Commission (2004), “The link between product market reforms and productivity: direct and indirect impacts”, The EU Economy: 2004 Review.

  5. [5] Siehe z.B., Genre, V., R. Gomez-Salvador and A. Lamo (2005): “European Women: Why do(n’t) they work”, ECB Working Paper Series, No 454, März 2005.

  6. [6] Vgl. Webseite der Weltbank www.doingbusiness.org. Stand 2006.

  7. [7] Vgl. Levine, R. (2004): “Finance and Growth”. National Bureau of Economic Research Working Paper No 10766; und HIS (2004): “The significance of capital markets for dynamic economies in Europe”. A comparative empirical study by the Institute for Advance Studies (IHS, 2004)

  8. [8] Vgl. G-7 Statement vom 21. April 2006.

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