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Die Jahresgutachten des Sachverständigenrates im Spiegel der Politik

Professor Otmar Issing,Mitglied des Direktoriums derEuropäischen ZentralbankSachverständigenrat Berlin 6 May 2003

Vierzig Jahre Sachverständigenrat 1963 - 2003: Beitrag zur Paneldiskussion "Die Jahresgutachten des Sachverständigenrates im Spiegel der Politik", von Otmar Issing

Monetäre Fragen hatten in den Gutachten des Sachverständigenrates von Anfang an einen hervorgehobenen Stellenwert. Sind es naheliegenderweise in erster Linie die Stellungnahmen zur jeweils aktuellen Geldpolitik, die in der Öffentlichkeit Beachtung finden, so sollten darüber nicht die vielen konzeptionellen und empirischen Hintergrundstudien übersehen werden, die die Mitglieder des Stabes im Laufe der Jahrzehnte erarbeitet haben und die vom Sachverständigenrat aufgegriffen wurden. In den vierzig Jahren seines Bestehens hat der Sachverständigenrat stets eine wichtige Rolle in der geldtheoretischen und geldpolitischen Diskussion in Deutschland gespielt.

Hier ist nicht der Ort, im Detail die Entwicklung der Position des Sachverständigenrates auf dem Gebiet der Geldpolitik und ihrer Fundierung nachzuzeichnen. Lassen Sie mich daher unmittelbar auf die konzeptionelle, ja paradigmatische Wende eingehen, die der Sachverständigenrat in den Jahren 1972 bis 1974 vollzogen [1] und dessen Linie er anschliessend - jedenfalls bis vor kurzem - konsequent verfolgt hat.

Sowohl für die praktische Geldpolitik als auch für die konzeptionelle Analyse stellt die Freigabe des Wechselkurses der D-Mark gegenüber dem US-Dollar im Jahre 1973 die entscheidende Wende dar. Einerseits hatte sich die lange Zeit dominierende Konzeption der Steuerung der Bankenliquidität - „ freie Liquiditätsreserven der Kreditinstitute" - zunehmend als problematisch und am Ende als ungeeignet erwiesen [2] . Andererseits belegte der Zwang zu Devisenmarktinterventionen im System fester Wechselkurse und freier Konvertibilität und die damit verbundene Endogenisierung der Geldmenge die Ohnmacht der Geldpolitik, den inneren Geldwert auf Dauer stabil zu halten. Situation und Handlungsspielraum änderten sich schlagartig mit der Freigabe des Wechselkurses. Von jetzt an war eine eigenständige Geldpolitik der Bundesbank möglich, und dazu waren neue theoretische Konzepte gefordert. Diese praktische Herausforderung traf mit der durch die Arbeiten Milton Friedmans ausgelösten „ monetaristischen Revolution" zusammen. Als erste Notenbank der Welt kündete die Bundesbank am 5. Dezember 1974 ein Geldmengenziel für das folgende Jahr an. Parallel

dazu trug der Sachverständigenrat im Gutachten 1974/75 sein bereits in den beiden Vorjahren in Ansätzen erkennbares Konzept ausführlich vor, das grundsätzlich in die gleiche Richtung ging. Die Zentralbankgeldmenge sollte so gesteuert werden, dass ihr Wachstum der erwarteten Ausweitung des Produktionspotentials entsprach. Denn „ auf mittlere Sicht gibt es in einer Volkswirtschaft, deren Produktionspotential im Durchschnitt normal ausgelastet ist, keine Inflation ohne eine monetäre Expansion, die das Wachstum des Produktionspotentials übersteigt."[3]

Ohne jeden Zweifel hat der Sachverständigenrat zur Durchsetzung monetaristischen Gedankengutes in Deutschland erheblich beigetragen. Gleichzeitig hat er damit - wie von Helmut Schlesinger betont - die Einführung der Geldmengensteuerung durch die Bundesbank tatkräftig unterstützt. [4] Das gleiche gilt für die spätere Beibehaltung dieser Konzeption. Zwar wurden zeitweise Unterschiede in Einzelheiten intensiv diskutiert - lassen Sie mich hier nur auf die abweichenden Definitionen der bereinigten Zentralbankgeldmenge des Sachverständigenrates und der Zentralbankgeldmenge zu konstanten Mindestreservesätzen der Bundesbank [5] sowie auf das zeitweise Eintreten des Sachverständigenrates für mehrjährige Geldmengenziele [6] hinweisen -, in den wesentlichen konzeptionellen Grundzügen waren sich beide Institutionen jedoch stets einig.

Beide, Bundesbank und Sachverständigenrat (jedenfalls in seiner deutlichen Mehrheit), sind der damals formulierten Linie im Grundsatz über die folgenden Jahrzehnte treu geblieben. Es versteht sich von selbst, dass diese Orientierung kritische Kommentare ausgelöst hat. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in einer erheblichen Zahl von Minderheitsvoten in den Gutachten des Sachverständigenrates wider.

Eines der wesentlichen Elemente in der geldpolitischen Konzeption des Sachverständigenrates, das seine Bedeutung für die praktische Geldpolitik bis heute behalten hat, ist die mittelfristige Ausrichtung und die Verstetigung der Geldpolitik. Die wenig ermutigenden, oft kontraproduktiven Resultate antizyklischer Konjunkturpolitik in der

zweiten Hälfte der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zusammen mit den wissenschaftlichen Beiträgen der Monetaristen und der Vertreter der Theorie rationaler Erwartungen unterstützten diese neue Ausrichtung. Zwar vermag die Geldpolitik kurzfristig Wachstum und Beschäftigung zu beeinflussen, doch ist unser Wissen über die präzisen quantitativen und zeitlichen Wirkungen geldpolitischer Impulse viel zu begrenzt, um auf diesem Befund eine systematische und effiziente Feinsteuerung begründen zu können. Trotz aller Fortschritte in der Erforschung des Transmissionsmechanismus gilt im Grundsatz auch heute noch, was der Sachverständigenrat in seinem Gutachten 1974/75 formuliert hat: „ Unsere Kenntnis der kurzfristigen Zusammenhänge zwischen Änderungen der Geldmenge und nachfolgenden Änderungen der Beschäftigung und des Preisniveaus ist unvollkommen. Was die monetäre Politik auf mittlere Sicht zu erreichen vermag, ist uns genauer bekannt als die kurzfristigen Wirkungen. Von daher ist es sinnvoll zu verlangen, dass die monetäre Politik mittelfristig orientiert ist." [7] Diese Erkenntnis ist nach wie vor gut begründet. Nicht von ungefähr ist daher auch die Geldpolitik der EZB auf die mittlere Frist ausgerichtet. Ein solcher Ansatz vermeidet, dass Geldpolitik selbst zum Auslöser von Schocks und zum Verstärker zyklischer Schwankungen wird. Darüber hinaus trägt er zur Stabilisierung der Erwartungen und letztlich zur Verstetigung des gesamten Wirtschaftsablaufs bei.

Eng verknüpft mit dem Verstetigungsansatz und konzeptionell von gleichem Rang ist die Zuweisung der Verantwortung an die verschiedenen politischen Akteure, im Jahresgutachten 1974/75. [8] In bemerkenswerter Klarheit äußert sich der Sachverständigenrat zum Assignment-Problem. Die Lohnpolitik ist verantwortlich für den Beschäftigungsgrad, die Finanzpolitik für die Allokation der Ressourcen auf den privaten und den öffentlichen Sektor und die Geldpolitik für die Stabilität des Geldwertes. Jeder wirtschaftspolitische Akteur soll sich demnach auf das Ziel konzentrieren, für dessen Realisierung er über die geeigneten Instrumente verfügt. Diesem Ansatz liegt die sich in den siebziger Jahren mehr und mehr durchsetzende Erkenntnis zugrunde, dass es keinen systematischen Zielkonflikt zwischen Preisstabilität auf der einen und Wachstum und Beschäftigung auf der anderen Seite gibt; vielmehr erleichert ein inflationsfreies Umfeld das Erreichen der anderen wirtschaftspolitischen Ziele. Über eine strikte Verfolgung des Ziels der Preisstabilität sowie über die "Objektivierung der Geldversorgung" sollte ein klarer Rahmen für alle Teilnehmer

am Wirtschaftsgeschehen gesetzt werden, so dass Verteilungskonflikte begrenzt werden und "die vielfältigen wirtschaftlichen Interessen, die sich mit dem Geld verbinden, von allen Interessenten unter Bedingungen verfolgt werden, unter denen diese nicht in Widerspruch zu ihren eigenen Zwecken geraten." [9]

Das Assignment-Problem hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Nicht zuletzt die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, in der die gemeinsame, auf den Euroraum ausgerichtete Geldpolitik den übrigen, in nationaler Kompetenz verbleibenden Bereichen der Wirtschaftspolitik gegenübersteht, hat die Diskussion über die wirtschaftspolitische Aufgabenverteilung und Koordinierung wieder aufleben lassen. Angesichts schwerwiegender Informations-, Anreiz- und Durchsetzungsprobleme, die jede ex-ante-Koordinierung unterschiedlicher Wirtschaftsbereiche mit sich bringt und am Ende scheitern läßt, bietet allein eine effiziente Zuordnung von Zielen, Instrumenten und Verantwortlichkeiten die Voraussetzungen, um die gesamtwirtschaftlichen Wachstums- und Stabilitätsziele zu erreichen.

Der Maastricht-Vertrag sieht ein effizientes Assignment von Zielen und eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten vor. [10] Durch eine eindeutige Festlegung der Geldpolitik auf das Ziel der Preisstabilität sowie die Garantie der Unabhängigkeit der Zentralbank werden Transparenz und Glaubwürdigkeit der Geldpolitik erhöht sowie die Rechenschaftslegung der Zentralbank erleichtert. Ebenso setzt der Stabilitäts- und Wachstumspakt Anreize für eine disziplinierte Fiskalpolitik der nationalen Regierungen. Dabei gewährt er hinreichende Spielräume für das Wirksamwerden der automatischen Stabilisatoren und für eine situationsbezogene, antizyklische Politik. Während somit eindeutige Leitlinien und Begrenzungen für die Geld- und Finanzpolitik vorgesehen sind, ist dies für die Lohnpolitik nicht der Fall. Sie verbleibt vielmehr das Verhandlungsresultat autonomer Sozialpartner auf nationaler Ebene. Zumindest auf mittlere und in jedem Fall auf lange Sicht handeln die Tarifparteien in ihrem eigenen Interesse, wenn sie eine stabilitätsorientierte Geldpolitik als gegeben unterstellen und Lohnvereinbarungen mit Blick auf einen hohen Beschäftigungsstand treffen. Wenn alle wirtschaftspolitischen Akteure diese Allokation von Zielen und damit Verantwortung respektieren und danach handeln, leisten sie den bestmöglichen Beitrag zur

Erfüllung der wirtschaftspolitischen Ziele auf Gemeinschaftsebene. Von der Grundidee her entspricht die Zuordnung von Kompetenzen und Verantwortung dem Konzept des Sachverständigenrates.

Geldmengensteuerung, Verstetigungspolitik und eine klare Rollenverteilung in der Wirtschaftspolitik mit Preisstabilität als primärem Ziel der Geldpolitik sind die wesentlichen Grundsätze, die die geldpolitische Ausrichtung des Sachverständigenrates charakterisieren. Auf andere wichtige geld- und währungspolitische Beiträge des Sachverständigenrates - wie zum Beispiel die Diskussionen im Vorfeld der deutsch-deutschen Währungsunion und der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion - kann ich hier aus Zeitgründen leider nicht eingehen.

Über den gesamten Zeitraum seines Bestehens hat der Sachverständigenrat die laufende Geldpolitik stets konstruktiv-kritisch begleitet. Vor 30 Jahren hat Hans Barbier den Sachverständigenrat einmal "die unbequemen Besserwisser" genannt. [11] Dies war durchaus lobend gemeint. Und obgleich jeder, der wirtschaftspolitische Verantwortung trägt, dies nicht immer oder zumindest nicht immer auf den ersten Blick zu schätzen weiss - dabei nehme ich mich selber keineswegs aus -, so ist es doch gerade diese kritische Kommentierung, die den Sachverständigenrat zu einer aus der deutschen wirtschaftspolitischen Diskussion nicht mehr wegzudenkenden Institution gemacht hat. „ In allen seinen Gutachten hat sich der Sachverständigenrat zum Anwalt einer Politik der Geldwertstabilität gemacht." [12] Dieses Urteil, das Ludwig Erhard anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Sachverständigenrats fällte, hat bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren. Damit hat der Sachverständigenrat entscheidend zur Stabilitätskultur in Deutschland und im Euroraum beigetragen.

  1. [1] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1972/73, Ziffer 394 ff., Jahresgutachten 1973/74, Ziffer 170 ff., Jahresgutachten 1974/75, Ziffer 312 ff. und Ziffer 374 ff.

  2. [2] Siehe z.B. Otmar Issing, Einführung in der Geldpolitik, 6. Auflage, München 1996, S. 73, S. 191 ff. und S. 271 ff.

  3. [3] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1974/75, Ziffer 375.

  4. [4] Siehe Helmut Schlesinger: Zehn Jahre Geldpolitik mit einem Geldmengenziel, in: Wolfgang Gebauer (Hrsg.), Öffentliche Finanzen und monetäre Ökonomie, Frankfurt 1985, S. 127.

  5. [5] Siehe hierzu z.B. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1974/75, Ziffer 381 f.

  6. [6] Siehe hierzu z.B. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1985/86, Ziffer 235 ff.

  7. [7] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1974/75, Ziffer 374.

  8. [8] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1974/75, Ziffer 364 ff.

  9. [9] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1974/75, Ziffer 372.

  10. [10] Siehe hierzu ausführlicher: Otmar Issing, On macro-economic policy co-ordination in EMU, Journal of Common Market Studies, Volume 40, Number 2, Juni 2002, S. 349 ff.

  11. [11] Hans D. Barbier, Die unbequemen Besserwisser. Zehn Jahre Sachverständigenrat, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. August 1973.

  12. [12] Ludwig Erhard, Das Vertrauen wurde gerechtfertigt, Wirtschaftsdienst 1973/IX, S. 453.

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