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Bedingungen und Aussichten für die Wirtschaft im Euro-Währungsgebiet

Rede von Dr. Willem F. Duisenberg, President der Europäischen Zentralbank, anläßlich des Festakts zum 75-jährigen Bestehen der Internationalen Handelskammer Deutschland, Berlin, 26. Oktober 2000

Sehr geehrte Damen und Herren,

1. Einleitung

Wir sind zusammengekommen, um das 75-jährige Bestehen der Internationalen Handelskammer Deutschland zu feiern. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts waren die Gründer der Internationalen Handelskammer überzeugt, dass Handel eine starke Kraft für Frieden und Wohlstand sei. Obwohl dann entsetzliche Jahre kamen, denke ich, dass sie Recht hatten. In gewisser Weise lag dem Aufbau Europas in den letzten 50 Jahren genau dieser Gedanke zugrunde, vom Beginn der Montanunion bis zu späteren Entwicklungen wie dem Binnenmarkt und seiner logischen Folge, der Gemeinschaftswährung. So hat sich erwiesen, dass in dieser Hinsicht eine deutliche Parallele zwischen dem Denken der politischen Entscheidungsträger und dem der Unternehmer besteht. Die Internationale Handelskammer von heute steht noch immer für das Prinzip des offenen internationalen Güter- und Kapitalverkehrs in einer freien Marktwirtschaft. Dass dieses Prinzip in Deutschland nun seit 75 Jahren gefördert wird, ist in der Tat einen Festakt wert.

Das Thema meiner heutigen Rede lautet "Bedingungen und Aussichten für die Wirtschaft im Euro-Währungsgebiet". Zwar kann ich Ihnen keine goldenen Regeln dafür geben, wie man im Euroraum am besten Geschäfte macht, ich kann jedoch etwas über das Umfeld sagen, in dem Geschäfte getätigt werden. Dieses Umfeld hat zwei Seiten, die beide von großer Bedeutung für die Tätigkeit von Unternehmen sind: erstens das strukturelle und zweitens das konjunkturelle Umfeld der Wirtschaft. Ich werde heute über beide sprechen. Im Zusammenhang mit dem strukturellen Umfeld möchte ich mich auf die Entwicklungen im Euroraum konzentrieren, die diesen immer mehr zu einem einzigen großen, integrierten Markt machen. Im Zusammenhang mit dem konjunkturellen Umfeld möchte ich die Aussichten für die Wirtschaft des Euroraums darstellen.

Die wichtigste Botschaft ist, dass die Aussichten für die Tätigkeit von Unternehmen im Euroraum, so wie ich sie sehe, günstig sind, da das strukturelle Umfeld sich eindeutig verbessert und das konjunkturelle Umfeld sich positiv darstellt.

2. Das strukturelle Umfeld

Betrachten wir zuerst das strukturelle Umfeld der Wirtschaft.

Da wir einen 75. Jahrestag feiern, gestatten Sie mir, ein wenig bei der Geschichte zu verweilen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begann Europa seinen Integrationsprozess. Zuerst gründeten die Länder, die im Rahmen des Marshall-Plans Unterstützung erhielten, im Jahr 1948 die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, aus der später die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wurde. Bald darauf wurden Pläne für weitreichendere Formen wirtschaftlicher Zusammenarbeit vorgelegt, die Möglichkeiten für den Freihandel schaffen sollten. Einer dieser Pläne, der so genannte Schuman-Plan, war eine französische Initiative und wurde von Deutschland, Italien und den Beneluxländern positiv aufgenommen. Im Jahr 1952 gründeten diese sechs Länder die Montanunion, den ersten Binnenmarkt, wenn auch nur für bestimmte Güter. Es wurden weitere Pläne zum Abbau von Handelsschranken entwickelt, und im Jahr 1957 unterzeichneten die sechs Länder die Römischen Verträge, mit denen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde. Die EWG sollte eine Zollunion für Industrieprodukte werden, mit Zollfreiheit innerhalb der Gemeinschaft und einheitlichen Tarifen für den Handel mit Drittländern. Die darauf folgende Erweiterung und Vertiefung beweist den Erfolg dieser Gemeinschaft. Die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts haben den Freihandel weiter gefördert.

Zuerst wurde durch die Schaffung des Binnenmarkts im Jahr 1992 das Fundament für gleiche Bedingungen gelegt. Dadurch verbesserten sich die Chancen für die Tätigkeit von Unternehmen, weil die Regulierungen für grenzüberschreitenden Handel innerhalb Europas erheblich abgebaut wurden. Als Zweites wurde das Projekt des Binnenmarkts durch die Gemeinschaftswährung, den Euro, ergänzt, der in bisher elf der 15 Länder der Europäischen Union eingeführt worden ist. Die europäische Wirtschafts- und Währungsunion hat die Wechselkursschwankungen zwischen diesen elf Ländern eliminiert, die Geldpolitik für das Währungsgebiet als Ganzes auf Preisstabilität ausgerichtet, die Finanzbehörden in die Pflicht des Stabilitäts- und Wachstumspakts genommen und dadurch eine "Stabilitätszone" in Europa geschaffen. Ein stabiles Umfeld dürfte die wirtschaftliche Aktivität fördern, weil es zu einer Verringerung der Risikozuschläge führt, die bei vielen Transaktionen implizit oder explizit gezahlt werden müssen. Das deutlichste Beispiel für eine Verringerung der Risikozuschläge infolge der Währungsunion ist die Tatsache, dass die Notwendigkeit der Absicherung gegen Wechselkursrisiken bei grenzüberschreitenden Transaktionen innerhalb des Euroraums entfällt.

Durch die Einführung der Gemeinschaftswährung kann der heutige Euroraum somit zunehmend als ein einziger großer Markt angesehen werden. Dieser Markt erstreckt sich von Lissabon bis Helsinki. Und bald auch von Dublin bis Athen, da Griechenland der Währungsunion zum 1. Januar 2001 beitreten wird. Gemessen an der Bevölkerung ist der Markt des Euroraums sogar größer als der der USA - er hat rund 300 Millionen Einwohner, etwa 10% mehr als die USA. Und es ist zu erwarten, dass er noch größer wird, da künftig wahrscheinlich noch weitere Länder beitreten werden.

So stellt der Euroraum einen einzigen großen Markt dar. Natürlich ist dieser Markt noch in der Entwicklung begriffen und hat seine endgültige Form noch nicht erreicht. Zum Beispiel existiert der Euro als solcher bislang nur auf den Finanzmärkten und bis zu einem gewissen Grad in der Wirtschaft. Die Verbraucher rechnen und zahlen noch in ihren Landeswährungen - ein Umstand, der das Bewusstsein für den Euro nicht gerade fördert. Dies wird mit der Bargeldumstellung im Jahr 2002 enden, die von der breiten Öffentlichkeit generell als der eigentliche Beginn der Währungsunion wahrgenommen wird. Die Bargeldumstellung an sich ist ein gigantisches logistisches Unterfangen. Es wird zudem einen Zeitraum geben, in dem sowohl die alten Landeswährungen als auch der Euro in Umlauf sind.

Durch die Bargeldumstellung wird einer der wichtigsten Vorteile der Gemeinschaftswährung verwirklicht: Preistransparenz auf allen Märkten. Dies wird die Entwicklung eines wirklichen Binnenmarkts weiter begünstigen, denn es wird immer schwieriger werden, unterschiedliche Preise für gleiche oder ähnliche Produkte zwischen den Ländern aufrechtzuerhalten. Obwohl aufgrund der jeweiligen Besteuerung oder unterschiedlicher technischer Spezifikationen Marktsegmentierungen vorkommen können, wird der Druck auf Unternehmer wie auf Regulierungsbehörden zunehmen, da die Verbraucher und die großen Einzelhandels-organisationen Preisunterschiede verstärkt wahrnehmen werden.

Es bleibt jedoch noch mehr zu tun, um die Integration der Euromärkte weiter voranzutreiben. In vielen Ländern bestehen noch immer strukturelle Rigiditäten, die das Funktionieren der Güter- und Arbeitsmärkte beeinträchtigen. Es ist wichtig, dass die Lohnabschlüsse moderat bleiben und die Strukturreformen fortgeführt werden, um das Funktionieren der europäischen Märkte weiter zu verbessern. Die Einführung neuer Technologien erfordert Flexibilität bei anderen Faktoren - einschließlich des Faktors Arbeit -, wenn Produktionsprozesse möglichst effizient umstrukturiert werden sollen. Wenn die Anpassung an die rentabelste Kombination der Produktionsfaktoren an Einschränkungen und Begrenztheiten leidet, wird auch der Umfang der Investitionen in die neuen Technologien leiden.

Hier darf angemerkt werden, dass die Einführung des Euro dazu beigetragen hat, den politischen Entscheidungsträgern in ganz Europa die Notwendigkeit von Strukturreformen bewusst zu machen. Und obwohl viele Reformen erst noch umgesetzt werden müssen, sind doch schon erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Die Regierungen haben im Bereich der Produktmärkte Schritte unternommen, um sie zum Nutzen der Verbraucher dem Wettbewerb weiter zu öffnen. Im Bereich der Telekommunikation und der Energie-wirtschaft ist eine günstige Wirkung auf Preise, Wachstum und Beschäftigung bereits erkennbar. Nun gilt es die Regulierung weiter abzubauen, um die Aktivität in anderen Wirtschaftszweigen anzuregen.

Was den fiskalpolitischen Aspekt betrifft, so ist die Steuerlast relativ hoch, und einige Länder sind noch immer sehr hoch verschuldet. Deshalb muss sich die Fiskalpolitik unbeirrbar an den Anforderungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts orientieren, um die Solidität der öffentlichen Finanzen zu verstärken. Allerdings ist zu bedenken, dass der durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt ergänzte EG-Vertrag eine breite Übereinstimmung reflektiert und Grundprinzipien für die Fiskalpolitik vorgibt. Insbesondere sieht er vor, dass die Länder der EU, vor allem diejenigen, die den Euro eingeführt haben, sich an einen gemeinsamen fiskalischen Verhaltenskodex halten, der für Disziplin in der Verwaltung staatlicher Finanzen sorgen soll.

In dieser Hinsicht ist bereits eine bemerkenswerte Entwicklung zu beobachten. Der Haushalt der Länder des Euroraums könnte sich in diesem Jahr im Durchschnitt deutlich verbessern. Dies ist teilweise auf ein stärkeres Wachstum und beträchtliche einmalige Gewinne aus Mobilfunklizenzen zurückzuführen. Doch es ist auch der Lohn langjähriger haushalts-politischer Reformen, die im Zuge der Vorbereitung auf die Währungsunion begannen. In mehreren Mitgliedstaaten sind weit reichende Steuerreformen geplant. Die gegenwärtig durchgeführten sowie die geplanten Steuersenkungen stellen einen begrüßenswerten Schritt zur Reduzierung der Verzerrungen in der Wirtschaft und zur Schaffung positiver angebotsseitiger Impulse dar. Allerdings sollten sie vollständig durch eine Verringerung der Primärausgaben ausgeglichen werden, um eine prozyklische Lockerung zu vermeiden.

Was die Finanzmärkte betrifft, so hat die Einführung des Euro zu einem einheitlichen Geldmarkt im gesamten Euroraum geführt. Vor dem Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion wurde gelegentlich die Kritik laut, der dezentrale geldpolitische Rahmen werde mit Sicherheit zu komplex und ineffizient werden. Technisch gesehen ist die Dezentralisierung jedoch durch die hoch entwickelte Informationstechnik absolut handhabbar. Nach fast 22 Monaten Erfahrung mit diesem System ist diese Kritik denn auch nicht mehr zu hören. Es scheint fast Einigkeit darüber zu herrschen, dass es gut funktioniert. Die zügige Integration des Geldmarkts des Euroraums mit der entscheidenden Unterstützung von integrierten Zahlungssystemen - allen voran das "TARGET"-System - war in der Tat eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung der Geldpolitik des Eurosystems.

Darüber hinaus besteht an den Finanzmärkten in Europa weiterhin Entwicklungsbedarf - insbesondere hinsichtlich der Bereitstellung von Risikokapital. Die Einführung des Euro geht mit einer fortschreitenden Integration der nationalen Finanzmärkte einher, von der die Größe, Liquidität, Tiefe und Breite des Finanzmarkts profitieren. Das europäische Finanzsystem verändert sich rasch. Obwohl der Schwerpunkt noch auf dem Banksystem liegt, zeichnet sich ein Wandel zugunsten einer größeren Bedeutung für die Märkte ab. So war zum Beispiel ein rasches Wachstum bei in Euro denominierten Industrieobligationen zu verzeichnen. Der Euro hat diesen Trend nicht ausgelöst, aber erheblich beschleunigt.

Die Gestaltung und Umsetzung der Geldpolitik hat effizient funktioniert. Die Entwicklung sowohl der externen Inflationsprognosen als auch der aus der Analyse langfristiger Zinssätze (insbesondere bei indexierten Anleihen) abgeleiteten Inflationserwartungen deutet darauf hin, dass Finanzmärkte und Volkswirte generell Preisentwicklungen auf mittlere Sicht erwarten, die der Definition der EZB für Preisstabilität entsprechen. Natürlich drücken Anleiherenditen und viele externe Prognosen Erwartungen künftiger Veränderungen der Politik aus und stellen somit eine Beurteilung potenzieller geldpolitischer Beschlüsse, aber auch der Beschlüsse der Jahre 1999 und 2000 dar. Sie sind daher als positive Bewertung des geldpolitischen Gesamtrahmens zu sehen. Im Jahr 1999 betrug die tatsächliche Inflation 1,1 %, was mit der Preisstabilität vereinbar war. Obwohl die Inflation in diesem Jahr gestiegen ist, ist sie sowohl historisch gesehen als auch im Vergleich mit beispielsweise den Vereinigten Staaten relativ niedrig.

Vor allem hat sich die Währungsunion, wie bereits erwähnt, als Katalysator für bedeutende Verbesserungen im strukturellen Umfeld der Wirtschaft erwiesen. Angesichts dieser Tatsache ist auch die Erwartung begründet, dass der Euroraum mit der Zeit von den Fortschritten in den neuen Technologien profitieren könnte, wie es in den USA offenbar bereits geschieht.

Europa ist also im Wandel, und es wurde schon viel erreicht. Die Fortschritte sind beachtlich, auch wenn sie von den Europäern selbst nicht immer gewürdigt werden. Es bleibt eine Menge zu tun, um das strukturelle Umfeld weiter zu modernisieren. Gerade dies schafft allerdings Zukunftschancen, denn es ist ein großes Potenzial vorhanden, das es zu nutzen gilt.

3. Aussichten für die Wirtschaft des Euroraums

Wenden wir uns nun der konjunkturellen Seite des wirtschaftlichen Umfelds zu.

Das Wirtschaftswachstum des Euroraums hat die negative Stimmung, die zu Beginn des Jahres 1999 vorherrschte, auf eindrucksvolle Weise überwunden und einen Stand erreicht, der seit mehr als zehn Jahren nicht mehr zu beobachten war. Seit der Mitte des Jahres 1999 weist das reale BIP ein stabiles Wachstum auf; in vier aufeinander folgenden Quartalen wuchs es um jeweils 0,9% gegenüber dem vorangegangenen Quartal, und die Kräfte, die dem soliden mittelfristigen Wachstum zugrunde liegen, bleiben wirksam. Das außenwirtschaftliche Umfeld bleibt aufgrund der guten Wettbewerbsposition des Euroraums und der starken Weltnachfrage günstig. Auch die Binnennachfrage dürfte weiterhin stark sein, denn der Verbrauch profitiert von der Verbraucherzuversicht und einer weiteren Zunahme der Beschäftigung, und die Investitionstätigkeit wird durch die bessere Ertragslage der Unternehmen sowie steigende Kapazitätsnutzungsgrade angeregt. Die Finanzierungs-bedingungen innerhalb des Euroraums bleiben ebenfalls günstig. Diese positiven Wachstums-aussichten werden durch Prognosen von internationalen Institutionen wie dem IWF und der OECD sowie von Consensus bestätigt, die für den Euroraum in den nächsten 1-2 Jahren ein höheres Wachstum voraussagen als im Jahr 1999: Diesen Prognosen zufolge steigt es von annähernd 2 1/2 % im letzten Jahr auf über 3 % in diesem und im nächsten Jahr.

Allerdings deuten neue Indikatoren darauf hin, dass das Wirtschaftswachstum nach der Beschleunigungsphase sich nun auf einer hohen Wachstumsrate einpendeln könnte. Das Wachstum der Industrieproduktion (ohne Baubranche) hat sich in jüngster Zeit etwas verlangsamt. Der Purchasing Managers Index war im Sommer rückläufig, was die Vermutung nahe legt, dass das Wachstum der Industrieproduktion gegenüber dem Vorjahr einen Wendepunkt erreicht haben könnte. Gleichzeitig deutet der Index jedoch auf weiterhin starke Wachstumsraten nach der ersten Jahreshälfte hin. Darüber hinaus haben die Umfragen der Europäischen Kommission anhaltend hohe Werte für das Vertrauen der Industrie ermittelt, die ein weiterhin robustes Wachstum erwarten lassen. Im September 2000 ging das Vertrauen der Verbraucher zurück, blieb aber deutlich über dem langfristigen Durchschnitt.

Allerdings ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass der erhebliche Anstieg der Ölpreise in den letzten Monaten die Wachstumsdynamik kurzfristig und vorübergehend dämpfen könnte. Bisher lagen die Ölpreise im Oktober - gemessen an UK Brent - bei über 31 US-Dollar pro Barrel. Sollten sich die Ölpreise bis zum Jahresende entsprechend den Terminkontraktpreisen entwickeln, würde der Anstieg der Ölpreise für das gesamte Jahr 2000 gegenüber dem Durchschnittspreis von 1999 über 10 US-Dollar ausmachen. Der Ölpreisanstieg hat die Terms of Trade im Euroraum verschlechtert und somit auch das Wachstum der Realeinkommen in der gesamten Volkswirtschaft negativ beeinflusst. Dennoch ist anzumerken, dass die seit dem ersten Ölschock im Jahr 1973 geringer gewordene Abhängigkeit vom Öl die Auswirkungen einer Verteuerung insgesamt begrenzt. Vor dem Hintergrund generell günstiger Aussichten für die Wirtschaft kann man die gestiegenen Ölpreise als ein Ereignis sehen, das zu einer Zeit eintritt, in der die Wirtschaftsaktivität im Euroraum auf Erschütterungen dieser Art nicht allzu sensibel reagieren dürfte.

Die Ölpreissteigerungen haben die jüngsten Preisentwicklungen beeinflusst und beeinflussen sie weiter. Das Gleiche gilt für die Abschwächung des Euro-Wechselkurses. Die gesamtwirtschaftliche Inflation, gemessen am Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI), könnte länger als erwartet über 2 % bleiben. Wir sehen derzeit die direkten Auswirkungen solcher außenwirtschaftlicher Entwicklungen auf die HVPI-Inflationsrate, die im August bei 2,3 % und im September bei 2,8 % lag. Ohne Berücksichtigung der Energiepreise betrug der HVPI im September 1,6 %.

Die EZB hat das vorrangige Ziel, die Preisstabilität zu gewährleisten. Preisstabilität wird als Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex für das Euro-Währungsgebiet von unter 2% auf mittlere Sicht gegenüber dem Vorjahr definiert. Das wichtigste Instrument, über das die EZB verfügt, um die Preisstabilität zu gewährleisten, ist die Kontrolle über kurzfristige Zinssätze. Auf die Preise wirken sich Änderungen der Zinssätze jedoch erst nach einigen Verzögerungen aus. Die EZB ist daher natürlich bemüht, Preisstabilität auf mittlere Sicht zu gewährleisten. Die Geldpolitik kann die derzeitigen Entwicklungen der Ölpreise und Wechselkurse nicht kurzfristig kurieren. Dagegen ist es ihre Pflicht, mittelfristigen Aufwärtsdruck auf die Preise zu dämpfen.

Die EZB hat ihre Zinssätze seit November 1999 schrittweise um insgesamt 225 Basispunkte angehoben. Diese restriktivere Geldpolitik war nötig, um die Aussichten für die Preisstabilität zu sichern und damit zu einem nachhaltigen Produktions- und Beschäftigungs-wachstum beizutragen. Eine auf Preisstabilität ausgerichtete Geldpolitik ist der beste Weg, um zu gewährleisten, dass die Geldpolitik ihren vollen Beitrag zum allgemeinen wirtschaftlichen Wohlstand leistet. Durch die vorausschauende Reaktion auf Gefahren für die Preisstabilität können spätere drastischere Erhöhungen der Zinssätze und ausgeprägte Schwankungen der Wirtschaftsaktivität vermieden werden.

Die Herausforderung besteht darin, den derzeitigen Konjunkturaufschwung in eine Periode nachhaltigen, nichtinflationären Wachstums zu überführen. Entscheidend für eine dauerhafte Steigerung des Wachstumspotenzials im Euroraum sind die Fortsetzung der Struktur-maßnahmen zur Verbesserung der Flexibilität der Arbeits- und Gütermärkte sowie die Beibehaltung gesunder öffentlicher Finanzen. Die Regierungen müssen die Fehler der Vergangenheit vermeiden, die Haushaltspolitik angesichts der Auswirkungen der Energiepreisverteuerung zu lockern. Gegenwärtig sollte die Haushaltspolitik jegliche prozyklische Ausrichtung vermeiden und die schnellere Herbeiführung eines auf mittlere Sicht tragfähigen Haushalts anstreben. Darüber hinaus wird es wichtig sein, dass die Sozialpartner sich weiterhin so verantwortungsvoll verhalten wie in der jüngsten Vergangenheit. Moderate Lohnabschlüsse haben entscheidend zum bislang verzeichneten Fortschritt bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und dem Abbau der Arbeitslosigkeit beigetragen. Jeder Versuch, auf den jüngsten Ölpreisanstieg mit Lohnerhöhungen zu reagieren, wäre äußerst schädlich für die derzeitigen günstigen Wachstumsaussichten, denn dann müsste die Geldpolitik auf den daraus resultierenden Aufwärtsdruck auf die Preise reagieren.

4. Schluss

Ich komme zum Schluss.

Das strukturelle Umfeld ist eindeutig im Wandel. Seit etwa zehn Jahren gibt es in Europa das Bestreben, Märkte zu integrieren. Der Euroraum mit seiner Gemeinschaftswährung wird verstärkt als ein einziger großer Markt betrachtet werden. Dies eröffnet viele geschäftliche Möglichkeiten innerhalb des Euroraums. Es bedeutet auch Herausforderungen, da die Kräfte des Wettbewerbs stärker werden. Nach der Einführung des Euro-Bargelds wird sich der Wettbewerb zweifellos verschärfen. Dies wird Verbrauchern und Unternehmen die Gemeinschaftswährung und ihre Vorteile zunehmend bewusster machen und die noch bestehenden Preisunterschiede innerhalb des Euroraums in den Vordergrund rücken. Das strukturelle Umfeld stellt auch die politischen Entscheidungsträger vor Herausforderungen, denn die Wirtschaft sieht sich noch immer strukturellen Rigiditäten und einer relativ hohen Steuerlast gegenüber. Dennoch ist das Potenzial, das der große Markt des Eurogebiets bietet, eindeutig vorhanden und kann schon jetzt genutzt werden.

Angesichts der strukturellen Verbesserungen bin ich zuversichtlich, dass der Euroraum hervorragende geschäftliche Möglichkeiten bietet. Die gegenwärtigen Wachstumsaussichten sind günstig, und Europa kann sich auf eine Zentralbank verlassen, die voll und ganz dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist. Dies wird dazu beitragen, das zu fördern, was die Gründer der Internationalen Handelskammer wollten: Frieden und Wohlstand.

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