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Interview mit t-online
Interview mit Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der EZB, geführt von Florian Schmidt am 15. September 2022
22 September 2022
Frau Schnabel, Sie stammen aus Dortmund, einer Stadt der Arbeiter und Malocher. Wie häufig denken Sie angesichts der hohen Inflation an diese Menschen?
Viele Menschen machen sich Sorgen darüber, dass sie ihre Heizkostenrechnungen nicht mehr bezahlen können. Selbst bei den Lebensmitteln wird es für manche am Monatsende knapp, weil die Preise so stark steigen. Das beschäftigt mich sehr. Denn die EZB ist für die Preisstabilität im Euroraum verantwortlich. Wir haben die Aufgabe sicherzustellen, dass die Inflation mittelfristig bei zwei Prozent pro Jahr liegt. Derzeit sind wir weit von unserem Ziel entfernt, die Inflation ist viel zu hoch.
In Deutschland lag die Inflationsrate im August bei 7,9 Prozent. Kommen wir von diesem Niveau je wieder runter?
Ja, aber leider nicht sofort. Die Inflation wird aktuell vor allem vom starken Anstieg der Energiepreise getrieben. Hinzu kommen die aufgrund der Pandemie gestörten Lieferketten, auch die machen vieles teurer. Und wir sehen stark steigende Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt. Auf das, was auf den Weltmärkten passiert, haben wir mit unserer Geldpolitik unmittelbar nur wenig Einfluss.
Warum?
Die Geldpolitik der EZB beeinflusst die Inflation vor allem über die Nachfrage. Wenn die Zinsen steigen, werden Kredite teurer und es lohnt sich mehr zu sparen. Das dämpft die Nachfrage nach Produkten – sowohl bei den Verbrauchern, die dann weniger ausgeben, als auch bei den Unternehmen, die weniger investieren. Die Firmen können dann ihre Preise nicht mehr so schnell anheben, weil weniger Menschen ihre Waren haben wollen. Deshalb sinkt dann die Inflation. Doch das dauert.
Wie lange denn noch?
Wahrscheinlich noch eine ganze Weile. Kurzfristig könnte es sein, dass die Inflation trotz der jüngsten Zinsanhebungen noch weiter steigt.
Und wann fällt sie wieder?
In unseren Prognosemodellen dauert es bis zum Jahr 2024, bis sich die Inflation wieder beim gewünschten Wert von zwei Prozent einpendelt.
Das heißt, Sie verfehlen Ihr Inflationsziel noch länger als ein ganzes Jahr. Haben Sie versagt?
Ein großer Teil der Inflation geht wie gesagt auf Faktoren zurück, die wir nicht direkt beeinflussen können. Verstärkt wird die Entwicklung durch den Krieg in der Ukraine, der einerseits die wirtschaftliche Lage verschlechtert hat und andererseits die Inflation weiter antreibt. Aber wir haben ja bereits im Dezember des vergangenen Jahres begonnen, die Geldpolitik Schritt für Schritt zu straffen. Wir haben zunächst den zusätzlichen Ankauf von Staatsanleihen eingestellt. Seit Juli haben wir die Zinsen zweimal kräftig erhöht und haben damit die Negativ- und Nullzinsen hinter uns gelassen. Anfang September haben wir die Zinsen sogar um 0,75 Prozentpunkte angehoben. Dadurch haben wir ein starkes Signal gesendet: Wir tun alles, was nötig ist, um die Inflation wieder zu unserem Ziel von zwei Prozent zu bringen.
Viel zu spät, entgegnen Kritiker.
In Erwartung unserer Maßnahmen sind die Zinsen an den Finanzmärkten schon viel früher angestiegen, und zwar in einem sehr schnellen Ausmaß. Sie müssen außerdem bedenken, dass wir uns seit Beginn der Pandemie in einem Umfeld enormer Unsicherheit bewegen. Als im letzten Winter die Omikron-Welle ins Rollen kam, wussten wir nicht, ob wieder flächendeckende Lockdowns bevorstehen könnten. Im Frühjahr war nicht absehbar, wie sich der Krieg auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Inflation auswirken würde. Aus Sicht des Zentralbankrats der EZB waren die unternommenen Schritte aus damaliger Sicht angemessen, um unser Inflationsziel mittelfristig zu erreichen.
Es gab durchaus Ökonomen, die schon im Frühjahr vor einer höheren Inflation gewarnt haben. Warum lagen die EZB-Experten so sehr daneben?
Im Rückblick kann man darüber diskutieren, ob wir nicht etwas früher hätten handeln müssen. Nun ist die Zinswende aber eingeleitet. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Die jüngste Zinsanhebung war die größte in der Geschichte der EZB. Manch einer fürchtet, dass dadurch die Wirtschaft abgewürgt werden könnte. Was ist schlimmer: Inflation oder Rezession?
Die EZB hat ein klares Mandat – und das heißt Preisstabilität. Das Signal, das wir mit dem jüngsten Zinsschritt gesendet haben, ist eindeutig: Wir gehen entschlossen gegen die Inflation vor und sorgen dafür, dass sich die Inflation auf mittlere Sicht wieder bei zwei Prozent pro Jahr einpendelt.
Die wirtschaftliche Entwicklung spielt für Sie also keine Rolle?
Ein drohender Abschwung würde die Inflation dämpfen. Das berücksichtigen wir natürlich bei unseren Zinsentscheidungen. Das Ausgansniveau der Zinsen ist aber sehr niedrig. Daher ist klar: Wir müssen die Zinsen weiter erhöhen.
Wird das schon bei der nächsten Sitzung des EZB-Rates Ende Oktober geschehen?
Ich gehe davon aus, dass der EZB-Rat in seiner nächsten Sitzung die Zinsen weiter anheben wird. Wie groß dieser Zinsschritt sein wird und bis zu welchem Niveau wir die Zinsen anheben werden, kann ich derzeit nicht sagen. Wir fahren auf Sicht und bewerten die Konjunktur- und Inflationsdaten vor jeder Sitzung aufs Neue.
Das Ifo-Institut erwartet für Deutschland eine „Winter-Rezession“. Sie auch?
Für den gesamten Euroraum gehen wir derzeit nicht von einer Rezession, sondern von einer stagnierenden Wirtschaft aus. Die Situation in Deutschland ist leider schlechter. Deutschland ist aufgrund der starken Abhängigkeit von russischem Gas besonders hart getroffen. Hier lässt sich eine Rezession möglicherweise nicht vermeiden.
Wird es deshalb auch zu Massenentlassungen kommen?
Der Arbeitsmarkt hat sich bisher als sehr robust erwiesen. Die Arbeitslosenquote im Euroraum ist historisch niedrig, es herrscht in vielen Ländern sogar eine Arbeitskräfteknappheit, auch in Deutschland. Viele Firmen haben ein Interesse daran, ihre Mitarbeiter trotz der schwierigen Geschäftslage zu halten.
Das heißt, es wird womöglich doch nicht so schlimm?
Die meisten Menschen werden hoffentlich ihren Job behalten. Trotzdem spüren die Menschen die Auswirkungen der hohen Preise, vor allem diejenigen mit niedrigen Einkommen. Denn die Löhne halten nicht Schritt mit dem Preisanstieg.
Das wiederum dürfte dazu führen, dass sich die hohe Inflation in den Köpfen vieler Menschen festsetzt. Wie sehr beschäftigt Sie das?
Die Inflationserwartungen spielen in unseren Entscheidungen eine sehr wichtige Rolle. Wir sehen es mit einer gewissen Sorge, dass inzwischen mehr Menschen auch mittelfristig von einer Inflation oberhalb unseres Zwei-Prozent-Ziels ausgehen. Umso wichtiger sind deshalb klare Signale, die deutlich machen: Die Menschen können sich auf die EZB verlassen, die Inflation wird wieder sinken.
Und warum sollten die Menschen Ihnen das ausgerechnet jetzt glauben?
Weil die EZB in der Vergangenheit immer wieder gezeigt hat, dass sie auf die Entwicklungen in der Wirtschaft angemessen reagiert. Wir haben in Zeiten zu niedriger Inflation entschlossen gehandelt und haben auch während der Corona-Pandemie wesentlich dazu beigetragen, dass Europa wirtschaftlich gut durch diese schwere Krise gekommen ist. Damit haben wir gezeigt: Auf die Zentralbank ist Verlass. Die Menschen können uns vertrauen. Wir werden unsere Aufgabe erfüllen und für stabile Preise sorgen.
Was passiert, wenn das nicht klappt – und die Menschen dennoch von dauerhaft höheren Teuerungsraten ausgehen?
Eine Gefahr ist das Entstehen einer Lohn-Preis-Spirale. Wenn die Arbeitnehmer vor dem Hintergrund steigender Inflationserwartungen sehr hohe Lohnzuwächse fordern und Unternehmen diese dann durch noch höhere Preise weitergeben, können sich Löhne und Preise gegenseitig hochschaukeln. Derzeit sehen wir dafür aber noch keine Hinweise. Das Lohnwachstum hat sich erhöht, ist aber noch immer moderat.
Tatsächlich? Allein die Gewerkschaft IG Metall fordert in der aktuellen Tarifrunde ein enormes Lohn-Plus von 8,2 Prozent.
Bislang gilt: Die Lohnabschlüsse halten bei Weitem nicht mit der Inflation Schritt. Preisbereinigt fallen die Löhne und damit die Kaufkraft.
Wenn sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber nur einmal auf ein ordentliches Plus einigen, treibt das also nicht automatisch die Inflation?
Was wir vermeiden müssen ist, dass sich die Erwartung festsetzt, dass es zu einer dauerhaft hohen Inflation kommt. Wir beobachten die Dynamik der Lohnentwicklung daher genau.
Die Regierungen Europas versuchen derzeit mit vielen Mitteln ihre Bürger zu entlasten. Lassen sich damit die Wohlstandsverluste ausgleichen?
Die höheren Energiepreise machen Europa ärmer. Wir müssen einen größeren Anteil unseres Einkommens für die Energieimporte ins Ausland überweisen. Daran kann auch der Staat kurzfristig nichts ändern. Er kann allerdings besondere Härten gezielt abfedern und die Weichen für die Zukunft stellen. Hierzu sollte die Politik die Lenkungseffekte der Preise nicht außer Acht lassen. Höhere Energiepreise helfen letztlich dabei, unabhängiger von fossilen Energieträgern zu werden und somit die gesteckten Klimaziele zu erreichen. Außerdem sind Investitionen notwendig, um den Ausbau erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Bei den staatlichen Hilfspaketen ist es wichtig aufzupassen, dass diese die Inflation nicht noch weiter anheizen.
Wie das?
Entlasten die Regierungen die breite Masse der Bevölkerung, kann das die Nachfrage anregen und die Inflation weiter erhöhen. Dann müssten wir die Zinsen womöglich noch stärker anheben. Aus politischer Sicht mag es vorteilhaft sein, einen großen Teil der Wählerschaft mit einem Entlastungspaket zu begünstigen. Dennoch sollten wir immer im Hinterkopf behalten: Langfristig müssen diese Kosten gemeinsam getragen werden.
Wo merken Sie das gerade selbst?
Ich selbst bin in der Lage, mit der aktuellen Situation umzugehen. Natürlich werden auch die Menschen, die über höhere Einkommen und Vermögen verfügen, ärmer. Sie können es aber eher über eigene Ersparnisse abpuffern.
Und wie schränken Sie sich in Ihrem Alltag ein?
Ich versuche vor allem, meinen Energieverbrauch zu senken. Nicht nur, um Geld zu sparen, sondern auch aus ökologischen Gründen.
Blicken wir abschließend noch nach Italien, wo am Sonntag die EU-kritische Kandidatin Giorgia Meloni von der Rechtsaußen-Partei Fratelli d’Italia Ministerpräsidentin werden könnte. Wie sehr besorgt Sie das?
Zu politischen Entwicklungen in einzelnen Ländern äußern wir uns grundsätzlich nicht. Die EZB ist unabhängig und macht Geldpolitik für den gesamten Euroraum. Deshalb orientieren wir uns an der Inflation im Euroraum, auch wenn sich die Lage von Land zu Land natürlich unterscheidet.
Unterschiedlich ist auch die Höhe der Staatsschulden. Italien hat sehr hohe und wird künftig entsprechend stark unter einem Anstieg der Zinsen leiden.
Bei der Staatsverschuldung gilt grundsätzlich: Wie gut ein Land die Zinslast tragen kann, hängt entscheidend davon ab, wie stark seine Wirtschaft wächst. Das heißt, die Länder müssen auf einen nachhaltigen Wachstumspfad gelangen. Dabei spielt das europäische Rettungsprogramm „Next Generation EU“, das noch auf die Pandemie zurückgeht, eine große Rolle. Es ist sehr wichtig, dass die Wachstumsprojekte, die damit finanziert werden, konsequent fortgeführt und auch tatsächlich umgesetzt werden. Das ist die Aufgabe der nationalen Politik. Aber wir sitzen alle in einem Boot. Daher ist es wichtig, auch auf europäischer Ebene gemeinsame Lösungen zu entwickeln, um die aktuelle Krise zu überwinden.
Frau Schnabel, vielen Dank für dieses Gespräch.
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