Interview mit Die Zeit
Interview mit Isabel Schnabel, Mitglied des Direktoriums der EZB, geführt von Lisa Nienhaus am 16. März 2020 und veröffentlicht am 18. März 2020
18. März 2020
Frau Schnabel, wo erreiche ich Sie gerade: im Homeoffice?
Nein, ich bin in der Zentrale der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Ich muss als Verantwortliche für die Märkte vor Ort sein. Ein großer Teil von uns, auch aus dem EZB-Direktorium, macht jetzt aber tatsächlich Teleworking. Und ich halte ebenfalls vorsorglich Abstand zu den Kolleginnen und Kollegen.
Wäre auch nicht gut, wenn Sie ausfallen. Die Kurse brechen ein, Kredite fallen aus, Firmen droht ohne Hilfe die Pleite. Wird die Viruskrise gerade zu einer Finanzkrise?
Wir erleben unruhige Zeiten: Die Börsen zeigen eine extreme Volatilität, die Kurse auf den Aktienmärkten sind dramatisch gefallen. Und inzwischen spiegeln sich die Ereignisse nach und nach in den Daten wider, die wir aus der Realwirtschaft bekommen. So ist die Produktion in China im Januar und Februar deutlich eingebrochen. Das wird auch Auswirkungen auf das Bankensystem haben. Aber eine akute Bankenkrise gibt es derzeit nicht. Wir beobachten die aktuelle Lage allerdings sorgfältig, um schnell auf neue Entwicklungen reagieren zu können, falls dies nötig werden sollte.
Auf welche Indikatoren schauen Sie?
Wir betrachten sämtliche Finanzmarktdaten: Aktienkurse, Zinsen, Kapitalflüsse. Wichtig sind auch die Kreditmärkte für Unternehmen und Staaten.
Was tut sich da?
Die Aufpreise für Risiken, die Unternehmen an den Märkten bei der Aufnahme von Krediten zahlen müssen, sind stark gestiegen. Besonders bei den hochriskanten Unternehmen sind diese Risikoprämien in die Höhe geschossen.
Auch für Staaten wie Italien sind die Zinsen stark gestiegen.
Wir sehen einen breiten Anstieg von Risikoprämien. Zusätzlich stellt sich die Frage: Funktionieren die Märkte noch? Finden Angebot und Nachfrage noch zusammen? Die Notenbank sollte einschreiten, wenn die Liquidität austrocknet, wenn also Märkte plötzlich nicht mehr funktionieren, weil nicht genügend flüssige Mittel vorhanden sind, und wenn die geldpolitische Transmission gefährdet ist, weil dann unsere Maßnahmen nicht in der Realwirtschaft ankommen. Und genau das tun wir seit vergangenem Donnerstag verstärkt. Unsere Anleihekäufe haben eine stabilisierende Wirkung auf den Markt.
Bei amerikanischen Staatsanleihen gab es zeitweise heftige Störungen.
Es gab immer wieder kurze Zeiträume, in denen der Handel mit US-Staatsanleihen gestört war. Das ist ein Zeichen für große Nervosität an den Märkten. Neben den Märkten schauen wir außerdem genau auf die Situation der Banken in Europa. Wir haben Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, dass sie ihre Kreditvergabe in der Krise übermäßig einschränken müssen. Der Druck auf die Banken wird sich allerdings erhöhen, wenn die wirtschaftliche Lage sich verschlechtert. Auch Investmentfonds beobachten wir genau.
Was tut sich dort?
Bislang zeigen sich nur vereinzelt Kapitalabflüsse, aber das müssen wir im Auge behalten. Bei Fonds gilt es im Falle massiver Mittelabzüge, einen übermäßigen Preisverfall durch sogenannte Fire Sales – also Notverkäufe von Vermögenswerten zu Schleuderpreisen – zu verhindern.
Die Notenbanken der Welt haben am Sonntag umfangreiche gemeinsame Maßnahmen beschlossen. Ein erstes großes Paket der EZB gab es am Donnerstag. Wozu das, wenn die Finanzkrise noch gar nicht da ist?
Die Lage auf den Finanzmärkten ist bereits sehr angespannt. Wir haben am vergangenen Donnerstag dem Bankensystem reichlich und sehr günstig Liquidität bereitgestellt. Das ist aktuell die wichtigste Aufgabe der Zentralbanken. Am Sonntag haben wir zusätzlich in einer koordinierten Aktion mit den wichtigsten internationalen Zentralbanken Maßnahmen ergriffen, um den Banken günstig Liquidität in US-Dollar bereitzustellen. Denn in einigen Ländern, vor allem in Japan, war es für die Banken schwieriger geworden, sich US-Dollar zu beschaffen.
Die amerikanische Notenbank hat außerdem deutlich die Zinsen gesenkt, die EZB hat ihre Anleihekäufe aufgestockt. Doch das alles scheint nicht zu verfangen. Die Aktienkurse sind weiter abgesackt. Was läuft da schief?
Das Paket der EZB war sehr umfangreich. Aber die Volatilität der Märkte überdeckt zum Teil die Wirkungen. Außerdem scheint es, dass nicht alle Marktteilnehmer sämtliche Komponenten des Programms sofort verstanden haben. Gerade die Aufstockung der Anleihekäufe wird helfen, selbstverstärkenden Dynamiken an den Anleihemärkten entgegenzuwirken. Dabei hilft uns die Flexibilität des Anleihekaufprogramms, die wir bereits jetzt voll ausnutzen
Die EZB hat also schlecht kommuniziert?
Die entscheidende Botschaft des Programms sollte klar sein: Die EZB ist bereit, im Rahmen ihres Mandats alles zu tun, um Marktverwerfungen entgegenzutreten, die die geldpolitische Transmission stören, denn sonst kann die Geldpolitik nicht funktionieren. Darin ist sich der gesamte EZB-Rat einig.
Sind die Notenbanken in dieser Krise vielleicht einfach machtlos?
Schnabel: Nein, aber die Geldpolitik kann diese Krise nicht allein beheben. Wir benötigen zusätzlich eine starke fiskalische Antwort, idealerweise auf europäischer Ebene. Die meisten Ökonomen sind sich einig, dass die Fiskalpolitik derzeit das wichtigste Instrument ist, um der Krise zu begegnen.
Warum?
Die EZB kann den Banken Liquidität bereitstellen. Aber das führt nicht unbedingt dazu, dass die Banken wirklich Kredite an Unternehmen vergeben, die wegen des Virus in Schwierigkeiten sind. Da kommt der Staat ins Spiel. Er kann die Wirtschaft unterstützen, indem er zum Beispiel Kreditgarantien gibt. Die deutsche Regierung hat solche Garantien in ihrem Paket vom Freitag beschlossen. Ähnliche Beschlüsse gibt es in anderen Mitgliedsstaaten.
International wirkt die fiskalische Antwort nicht gerade koordiniert. Ist das ein Problem?
Auf jeden Fall. Wir benötigen in Europa eine starke gemeinsame Antwort in der Fiskalpolitik. Diese Krise ist nicht auf einzelne Mitgliedsstaaten begrenzt. Alle sind betroffen, und was in einem Mitgliedsstaat passiert, betrifft auch alle anderen. Ich hoffe, dass das den Entscheidungsträgern bewusst ist. In der Geldpolitik werden wir dazu beitragen, eine Fragmentierung im Euro-Raum zu verhindern.
Derzeit sieht es angesichts der Grenzschließungen und jeder Menge nationaler Regelungen eher nach einem »Jeder für sich selbst« aus.
Das primäre Ziel muss sein, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Grenzschließungen mögen aus dieser Sicht angemessen sein. Das können am besten die Virologen beurteilen. Aber natürlich gehen alle Schutzmaßnahmen mit wirtschaftlichen Kosten einher. Gerade deshalb benötigen wir koordinierte Maßnahmen, um eine Verschärfung der Krise zu vermeiden.
Die kann sich nicht jedes Land leisten.
Das stimmt, und gerade dafür benötigen wir die europäische Zusammenarbeit. Es braucht jetzt europäische Solidarität, auch finanziell. Das ist im Interesse aller Länder Europas.
Lässt sich eine Rezession als Folge der Viruskrise überhaupt noch verhindern?
Wir erleben einen sehr schweren ökonomischen Schock. Zum einen kommt es zu einer Störung der Lieferketten, zum anderen führen die Schutzmaßnahmen der Regierungen zu starken Einschränkungen der Nachfrage: Man kann nicht mehr im gleichen Maß reisen oder in Restaurants und Bars gehen. Außerdem kann ein Rückgang des Vertrauens Konsum und Investitionen dämpfen. Und wenn die Leute nicht zur Arbeit kommen können, hat das je nach Branche Auswirkungen auf die Produktion. Es treten also ganz viele Effekte gleichzeitig auf – und das weltweit. Die Rezessionswahrscheinlichkeit ist daher spürbar gestiegen.
Was ist Ihre Prognose?
Schnabel: Unsere letzte Prognose des Wachstums für die Euro-Zone lag für dieses Jahr bei 0,8 Prozent. Das ist überholt. Wir werden die Prognose mit Sicherheit deutlich nach unten korrigieren müssen.
Unter null Prozent?
Das wissen wir noch nicht. Die große Unsicherheit besteht darin, wie lang die Krise anhält. Ursprünglich haben viele Ökonomen gedacht, dass es eine kurze, schwere Krise wird und dass es danach wieder schnell nach oben geht. Das hängt wesentlich davon ab, wie schnell es gelingt, die Ausbreitung des Virus einzudämmen, aber auch davon, wie die Wirtschaftspolitik reagiert.
Sie haben intensiv historische Finanzkrisen erforscht. Gab es eine Krise, die ähnlich verlief?
Mit der Finanzkrise von 2008 lässt sich die derzeitige Situation nicht vergleichen. Damals hatte die Krise ihren Ursprung im Finanzsystem. Heute handelt es sich um einen realwirtschaftlichen Schock, der viele Länder gleichzeitig trifft und gerade deshalb für die Weltwirtschaft so verheerend ist. Wenn man einen Vergleich anstellen will, sollte man sich eher andere Pandemien anschauen.
Die Spanische Grippe?
Zum Beispiel, die war tatsächlich verheerend. Die genauen Zahlen kennt man nicht, aber damals sind zwischen 20 und 100 Millionen Menschen gestorben. Heute befinden wir uns allerdings in einer deutlich besseren Situation: zum einen, weil wir medizinisch sehr viel weiter sind. Bei der Spanischen Grippe sind viele Menschen an bakteriellen Sekundärinfektionen gestorben, die können wir heute besser behandeln. Zum anderen sind wir wirtschaftlich besser in der Lage, mit einem solchen Schock umzugehen.
Warum?
Wir haben mit dem Internet ganz andere technische Möglichkeiten weiterzuarbeiten. Wir haben viel bessere Sozialsysteme. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist eine Bedingung dafür, dass die Leute zu Hause bleiben, wenn sie krank sind. Andererseits ist die internationale Arbeitsteilung heute ausgeprägter als damals, sodass wir es stärker spüren, wenn Lieferketten nicht mehr funktionieren.
Bei der Spanischen Grippe soll die Wirtschaft um sechs Prozent eingebrochen sein. Ist diese Viruskrise ökonomisch weniger schlimm?
Das kann keiner sagen, aber wir werden unseren Teil dazu beitragen, die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise einzudämmen.
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