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Interview mit Der Spiegel

Interview mit Vítor Constâncio, Vizepräsident der EZB, geführt von Stefan Kaiser und Henning Jauernig am 22. Mai 2018 und veröffentlicht am 29. Mai 2018

Herr Constancio, Sie haben 18 Jahre bei der EZB gearbeitet. Gab es jemals einen Moment, in dem sie dachten: Vielleicht war der Euro doch keine so gute Idee?

Nein. Es gab Momente, auf dem Höhepunkt der Krise, in denen es existenzielle Zweifel gab, wie es weiter geht. Aber ich habe niemals daran gezweifelt, dass die Währungsunion für die europäischen Staaten richtig ist.

Aber es gab doch sehr ernste Krisen: Etwa 2012, als die Risikoaufschläge für spanische und italienische Staatsanleihen drastisch stiegen und die Eurozone auseinanderzubrechen drohte. Oder 2015, als Griechenland kurz vor dem Bankrott stand. Hat das nicht gezeigt, dass die Eurozone schlecht funktioniert?

Die Probleme waren das Ergebnis der ursprünglichen, sehr minimalistischen Gestaltung der Eurozone. Man dachte damals, es genüge eine gemeinsame Währung, eine Zentralbank und eine Schuldenbremse. Die Entwicklungen haben aber gezeigt, dass das nicht reichte. Ein Krisenmechanismus war beispielsweise nicht vorgesehen und es gab keine Bankenaufsicht auf europäischer Ebene. Seitdem wurden viele wichtige Entscheidungen getroffen: die Bankenunion, der Rettungsfonds ESM. Die Währungsunion hat begonnen, sich zu reparieren – und wir sind noch mittendrin in diesem Prozess.

Haben die südlichen Euroländer ihrerseits genug getan, um die Währungsunion zu reparieren?

Ja. Die Länder, die in Schwierigkeiten gekommen sind, hatten zu Beginn der Krise hohe Haushaltsdefizite und hohe Leistungsbilanzdefizite. Sie haben also deutlich mehr importiert als exportiert. Mittlerweile hat sich viel getan: Alle betroffenen Länder haben inzwischen einen Primärüberschuss in ihrem Haushalt. Das heißt, sie reduzieren ihre Schulden, Stück für Stück. Alle diese Länder haben mittlerweile einen Leistungsbilanzüberschuss, sie exportieren mehr als sie importieren. Das ist ein gewaltiger Wandel.

Diese Errungenschaften stehen nun auf der Kippe, weil ein Land womöglich nicht mehr mitmachen will: Auch wenn die Regierungsbildung in Italien vorerst gescheitert ist, bleiben die dominierenden Parteien Euro-Gegner, die massiv Steuern senken und Geld ausgeben wollen, obwohl Italien mit 132 Prozent der Wirtschaftsleistung einen der höchsten Schuldenstände weltweit hat.

Das ist sicher eine Herausforderung – und zwar in erster Linie für Italien selbst. Als 2012 Finanzmärkte das Land attackiert haben, hat das gezeigt: sie können in Ihrer Wahrnehmung sprunghaft sein und die Risikoeinschätzung für einen Schuldner abrupt und schnell ändern, manchmal mit gravierenden Folgen – und das obwohl Italien auch damals schon einen Primärüberschuss hatte. Wir werden sehen, was nun passiert.

Die Risikoaufschläge für italienische Staatsanleihen sind zuletzt wieder deutlich gestiegen. Ab welcher Höhe würde die EZB – ähnlich wie 2012 – erneut eingreifen?

Ich möchte betonen, dass jede Intervention der Erfüllung unseres Mandats dienen muss und auch bestimmten Bedingungen folgt. Das Programm der Outright Monetary Transactions (OMT) zur Intervention in Märkte von Staatsanleihen von krisenbedrohten Ländern kann nur genutzt werden, wenn das betreffende Land auch einem Anpassungsprogramm zustimmt. Die Regeln sind da sehr klar. Das sollte jeder im Kopf behalten.

Wenn Italien also die Haushaltsregeln der EU umgehen will, kann es nicht unbedingt auf die Hilfe der EZB hoffen?

Dazu möchte ich nur sagen: Italien kennt die Regeln. Sie sollten diese vielleicht noch einmal genau lesen.

Zeigt sich nicht auch jetzt wieder der Kernkonflikt in der Eurozone? Auf der einen Seite stehen die stabilitätsorientierten Nordländer wie Deutschland, auf der anderen der Süden. Sie haben diese Diskussionen nun so viele Jahre verfolgt. Können Sie erklären, warum sich die Finanzkultur der Länder so fundamental unterscheidet?

Es gibt gewiss kulturelle Unterschiede, die in der Geschichte wurzeln und nicht verschwunden sind. Es gibt Länder, die gegen Kredite und hohe Verschuldung sind – und andere, die darin kein großes Problem sehen. Es ist zum Beispiel verblüffend, dass Deutschland das Land in Europa mit der geringsten Immobilieneigentumsquote ist. Warum ist das so? In anderen Ländern bauen die Menschen Häuser und nutzen dafür Kredite – gerade jetzt, wo die Zinsen so niedrig sind. In Deutschland merkt man fast nichts davon. Die Kulturen liegen also teilweise weit auseinander, aber die Realität lehrt uns, dass man nun mal Kompromisse schließen muss. Und die gibt es ja auch.

Wäre die Lösung der Krise einfacher gewesen, wenn der deutsche Ansatz nicht so dominant gewesen wäre?

Ja, das denke ich. Deutschland ist ein ausgesprochen erfolgreiches Land, dessen Erfolg auf einem festen Regelwerk und dem Respekt vor diesen Regeln beruht. Seit dem Zweiten Weltkrieg lief auch alles sehr gut für Deutschland. Dieser strikte Ansatz hat aber in Krisenzeiten auch eine Schwäche, umso mehr wenn eine rasche und flexible Reaktion notwendig ist. Die Reaktion auf die Finanz- und Schuldenkrise hätte schneller sein können – und flexibler. Das ist meine persönliche Meinung. Wir haben aus der Krise gelernt und sind dabei, die Währungsunion zu reparieren. Es fehlen aber noch ein paar Schritte. Vor allem bräuchte es eine viel engere Koordination der Haushaltspolitik. Und einen Stabilisierungsfonds, der plötzliche, schwere Schocks abfangen kann. Auch die Bankenunion ist noch nicht vollendet.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will genau diese Defizite beseitigen – und die Eurozone damit in ihren Grundzügen verändern. Seine Pläne sehen einen gemeinsamen europäischen Haushalt, einen europäischen Finanzminister und eine gemeinsame Einlagensicherung für die europäischen Banken vor. Können Sie nachvollziehen, dass sich die deutsche Regierung gegen viele dieser Pläne stemmt?

Ein Grund für die Zögerlichkeit vieler Regierungen in Europa scheint mir zu sein, dass die Eurozone gerade eine Phase mit sehr robustem Wirtschaftswachstum durchläuft. In guten Zeiten ist es immer schwierig, Reformen anzustoßen, weil es dafür keinen Anlass zu geben scheint. In der Vergangenheit wurden wichtige EU-Reformen immer auf dem Höhepunkt einer Krise beschlossen. Dann werden sie allerdings auch teurer.

Also braucht es eine nächste Eurokrise bevor wir etwa eine gemeinsame Bankenunion haben werden?

Man sollte meinen, dass die Bankenunion die einfachste dieser Reformen wäre. Es bräuchte dazu vor allem noch die Einführung eines gemeinsamen Europäischen Einlagensicherungssystems, damit die Ersparnisse von Bankkunden im Falle einer Bankinsolvenz auf europäischer Ebene abgesichert sind. Das würde das Vertrauen in den Euro zusätzlich stärken, weil unser Geld nun mal im Wesentlichen aus Bankeinlagen besteht.

Vor einer solchen Vergemeinschaftung scheut Deutschland doch gerade zurück – unter anderem, weil in den Bilanzen vieler italienischer Banken noch haufenweise faule Kredite schlummern. Dafür will niemand hierzulande haften. Wie kann dieses Problem gelöst werden?

Es wird bereits gelöst. Wir haben begonnen, diese sogenannten notleidenden Kredite in der Eurozone erheblich zu reduzieren – seit 2014 um mehr als 300 Milliarden Euro. Dieser Abbau ist ein Ergebnis des Drucks durch die EZB-Bankenaufsicht. Und dieser Druck wird hoch bleiben.

Es gibt noch einen weiteren Punkt, in dem Deutschland relativ allein gegen die meisten anderen Euro-Länder steht: die Zinsen. Die deutschen Sparer warten darauf, dass sie wieder Zinsen auf ihr Geld bei der Bank bekommen.

Ich kann diese Sorge gut nachvollziehen. Doch früher ging es deutschen Sparern nicht gerade besser: Vor der Einführung des Euro haben sie auf ihre Einlagen zwar einen Zins von 2,25 Prozent bekommen, gleichzeitig war die Inflation damals viel höher und lag bei 2,4 Prozent. Der sogenannte Realzins war also auch damals negativ.

Das Geld der Sparer wurde aufgefressen.

Aber hinzu kommt die zweite Seite der Medaille: Die Niedrigzinsen helfen den öffentlichen sowie den privaten Kreditnehmern. Die Deutschen nutzen das nicht. Wie ich schon sagte: Der Anteil der Immobilieneigentümer ist sehr gering – und er ist in den vergangenen Jahren sogar noch gesunken.

Das dürfte vor allem an den deutlich gestiegenen Immobilienpreisen liegen.

Ja, aber nur in den Großstädten, nicht überall. Die Deutschen könnten die niedrigen Kreditzinsen für sich nutzen. Dafür müssten sie sich etwas mehr verschulden, aber das mögen viele einfach nicht. Sie hätten viel stärker von der Situation profitieren können.

Gilt das auch für Sparer und Anleger?

Ja, die Deutschen lassen zu viel Geld einfach auf dem Konto liegen, statt es in andere Anlagen mit höheren Erträgen zu investieren.

Dennoch: Können Sie den deutschen Sparern Hoffnung machen, dass die Zinsen 2019 endlich wieder steigen?

Der Rat der EZB hat entschieden, dass die Notenbank bis Ende September weiterhin Anleihen in Höhe von 30 Milliarden Euro pro Monat kaufen will, und dass die Leitzinsen bis nach Ende dieses Kaufprogramms auf dem aktuellen Niveau liegen sollen. Die Marktteilnehmer gehen derzeit davon aus, dass sich der Leitzins Mitte nächsten Jahres bewegen wird.

Angetrieben durch die ultralockere Geldpolitik der Zentralbanken steigen die Kurse an den Aktienmärkten nun das neunte Jahr in Folge. Kann das ohne Crash enden?

Ein Crash ist keine Notwendigkeit. Die Geschichte zeigt aber, dass es an den Börsen nicht immer nur aufwärts gehen kann. Irgendwann wird die Wirtschaft wieder in eine Rezession kommen, dann wird es auch an den Börsen eine Korrektur geben. Wie groß diese ausfallen wird, weiß niemand. Aber niemand geht von einer großen Krise aus – es sei denn, es kommt zu einer wirklich großen geopolitischen Krise. Das wäre ein anderes Szenario.

Eine Bedrohung für die Märkte könnte auch der drohende Handelskrieg sein. Am 1. Juni läuft die Frist ab, zu der die von US-Präsident Donald Trump angekündigten Strafzölle auf europäische Produkte wie Stahl und Aluminium in Kraft treten sollen. Zudem droht Trump bereits mit weiteren Zöllen auf Autoimporte. Was würde ein Handelskrieg für die Wirtschaft bedeuten?

Das würde die Spannungen weiter verstärken und wäre schlecht für die ganze Welt – nicht nur für uns, auch für die USA. Die bisher konkret angekündigten Strafzölle auf Stahl- und Aluminium sind aber sehr begrenzt. Die betroffenen Produkte machen gerade mal zwei Prozent der US-Importe aus. Das Problem ist: Wenn sich der Streit so entwickelt wie etwa zwischen den beiden Weltkriegen, dann könnte das fatale Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben.

Erwarten Sie, dass es soweit kommt?

Ich glaube, dass niemand einen wirklichen Handelskrieg will, weil alle wissen, dass es nur Verlierer gäbe.

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