Interview mit Handelsblatt
Interview mit Benoît Cœuré, Mitglied des Direktoriums der EZB, geführt von Jan Mallien and Frank Wiebe am 15 November und veröffentlicht am 21. November 2017
Herr Cœuré, die Europäische Zentralbank hat in der Krise eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung der Eurozone gespielt. Wie kann Europa vermeiden, die EZB mit Aufgaben zu überfrachten, für die eigentlich die Politiker zuständig sind?
Um eine Überlastung der EZB zu vermeiden, braucht die Eurozone einen starken wirtschaftlichen und einen starken finanzpolitischen Pfeiler. Und lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung hinzufügen: Die Welt von heute ist in Unordnung geraten und braucht Europas Beitrag zu wirtschaftlicher Stabilität und politischer Orientierung. Deswegen muss Europa stark sein und eine klare Ausrichtung haben.
Um diese Stärkung zu erreichen, wird in Europa über eine Banken-Union, einen Haushalt für die Eurozone und eine Art von Europäischem Währungsfonds diskutiert. Was halten Sie davon?
Wir begrüßen, dass die Diskussion über die Zukunft Europas und des Euros wieder aufgenommen wird. Als Zentralbank sollten wir uns nicht in die Details einmischen, aber die Entwicklung Europas betrifft natürlich auch uns. Die Krise hat uns gezwungen, geldpolitische Instrumente zu entwickeln, mit denen wir auf die sehr schwierige Situation reagieren konnten. Das ist innerhalb unseres Mandats geschehen, wie der Europäische Gerichtshof bestätigt hat. Aber wir wissen nicht, wie die nächste Krise aussieht. Und wir möchten nicht, dass sie uns an die Grenzen unseres Mandats bringt.
Was ist die wichtigste Aufgabe, um das zu verhindern?
Priorität hat die Vollendung der Bankenunion. Dazu zählt eine gemeinsame Einlagensicherung und der weitere Abbau von Risiken im Bankensystem. Alle Banken sollten in derselben Weise agieren und überwacht werden. Das ist daher ein Bündel von Maßnahmen. Einige könnten Gesetzesänderungen erfordern, wie die Bankenaufsicht der EZB und die Europäische Kommission sie vorgeschlagen haben. Das wird eine Weile dauern.
Es gibt einen Streit über faule Kredite in Italien. Politiker des Landes haben den Plan der EZB zur Sanierung der Bankbilanzen kritisiert. Was halten Sie dem entgegen?
Ich bin kein Jurist, aber meiner Einschätzung nach haben die Aufseher der EZB nur klargestellt, was sie von den Banken mit Blick auf künftige faule Kredite erwarten. Würden sie das nicht tun, käme der Vorwurf, sie seien intransparent. Ich möchte aber betonen, dass das Problem der faulen Kredite weit über Fragen von Aufsicht und Kontrolle hinausgeht. Der Abbau dieser Kredite macht das System sicherer und die wirtschaftliche Erholung robuster. Messbare Fortschritte auf diesem Gebiet wären daher von großem Nutzen für die Wirtschaft in der gesamten Eurozone. Dass das Wachstum in Europa niedriger ist als in den USA, ist auch darauf zurückzuführen, dass wir zu spät die Probleme in unserem Finanzsystem in Angriff genommen haben. Die heutige Diskussion darf kein Vorwand sein, Entscheidungen zu verschieben, die wichtig für die Erholung Europas und die Vollendung der Bankenunion sind.
Lassen Sie uns über den anderen Pfeiler für das künftige Europa sprechen. Welche Veränderungen in der Finanzpolitik würden Sie begrüßen?
Zunächst einmal sollten die einzelnen Länder ihre Haushalte in Ordnung bringen und zusehen, dass sie die vereinbarten fiskalischen Regeln einhalten. So verschaffen sie sich wieder wichtigen finanziellen Spielraum. Erst danach können wir über eine gemeinsame Stabilisierungsfazilität reden.
Brauchen wir denn einen größeren gemeinsamen Haushalt?
Ich sehe da zwei separate Diskussionen, die manchmal vermengt werden. Zum einen geht es um die Frage, wie man Aufgaben finanziert, die vielleicht besser auf der Ebene der Europäischen Union geregelt werden, etwa Verteidigung und Einwanderung. Das erfordert gemeinsames Handeln, entweder mit bestehenden Instrumenten wie der Europäischen Investitionsbank oder dem Europäischen Haushalt – oder mit neuen Mitteln. Die zweite Diskussion dreht sich um die Frage, wie die Eurozone zukünftig mit großen wirtschaftlichen Krisen fertig werden kann, ohne die EZB zu überlasten. Das kann über eine Stärkung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, des ESM, geschehen. Oder über die Schaffung eines Haushalts für die Eurozone, wobei sichergestellt werden muss, dass damit nicht eine verantwortungsvolle Haushaltsführung auf nationaler Ebene untergraben wird.
Das klingt so, als gehe es beim ESM um eine Art Europäischen Währungsfonds, eine europäische Variante des IWF.
Ich würde lieber vom Europäischen Stabilitätsfonds sprechen. Es darf nicht so klingen, als würde der Fonds durch Geldschöpfung der Notenbank finanziert werden, weil genau das nicht möglich ist. Es muss ein finanzpolitisches Instrument sein.
Wie könnte dieser Mechanismus funktionieren?
Der ESM ist ein Erfolg, und es gibt Wege, ihn stärker und flexibler zu machen. Eine bereits bekannte Idee lautet, dass der ESM Ländern, die eine gute Finanzpolitik betreiben und sich an die Regeln der Eurozone halten, vorsorgliche Kreditlinien einräumt. Das wäre eine Absicherung gegen externe Schocks. Außerdem wäre es aus meiner Sicht wünschenswert, die Aufsicht des Europa-Parlaments über das Krisen-Management der Euro-Zone zu stärken.
Frankreich und Deutschland haben offenbar unterschiedliche Vorstellungen über die künftigen Rahmenbedingungen. Sehen Sie die Chance einer Einigung?
Frankreich und Deutschland haben die Verpflichtung sich zu einigen! In der jüngeren Geschichte der EU hatten die beiden Länder immer unterschiedliche Ausgangspunkte und haben am Ende eine Übereinkunft gefunden. Aber die anderen Länder müssen auch gehört und respektiert werden. Das wird eine langwierige Diskussion, deswegen muss sie möglichst schnell beginnen.
Wie lange wird es dauern?
Es ist aus meiner Sicht besser, ein bisschen länger zu verhandeln und ein starkes Ergebnis zu erzielen, als sich hastig auf symbolische Entscheidungen zu einigen. Die echte Frist sind die Europa-Wahlen im Frühjahr 2019.
Werfen wir jetzt einen näheren Blick auf Ihre Kernaufgabe, die Geldpolitik. In der Oktober-Sitzung hat der EZB-Rat beschlossen, die monatlichen Anleihekäufe ab nächstem Jahr zu halbieren und diese zunächst bis September laufen zu lassen. Warum streichen Sie die Käufe nicht ganz?
Die wirtschaftliche Entwicklung in Europa ist die stärkste der vergangenen zehn Jahre und breiter gestreut als in den letzten 20 Jahren. Aber die Inflation ist immer noch schwach. Es gibt Anzeichen, dass sie anzieht, doch die Preisentwicklung braucht nach wie vor die Unterstützung der Geldpolitik. Auch in Deutschland ist der Preisdruck erstaunlich niedrig. Es gibt eine sehr breite Übereinstimmung im Rat, dass die Geldpolitik weiterhin unterstützend bleiben muss, bis die Inflation nachhaltig auf das gewünschte Niveau von unter, aber nahe 2 % steigt.
Einige Ratsmitglieder haben sich dafür eingesetzt, jetzt schon einen Endtermin für die Käufe festzusetzen. Warum ist das nicht passiert?
Die Mehrheit der Ratsmitglieder war der Meinung, dass wir bezüglich des Endes flexibel sein müssen, weil bis September 2018 noch eine Menge in der Weltwirtschaft passieren kann. Allerdings glauben viele, dass die Effektivität unserer Geldpolitik nun weniger von den monatlichen Ankäufen abhängt.
Wieso?
Wie EZB-Präsident Mario Draghi gesagt hat, besteht unsere Geldpolitik aus drei Elementen: den monatlichen Zukäufen, dem Bestand an Anleihen einschließlich der Reinvestitionen und der Forward Guidance im Hinblick auf die Zinsen. Ich würde hervorheben, dass der Bestand unserer Anleihekäufe schon heute einen erheblichen Einfluss auf die Finanzierungsbedingungen hat. Das heißt, wir können Monat für Monat weniger kaufen ohne dabei die Effektivität unserer Ankäufe zu beeinträchtigen.
Können Sie das genauer erklären?
Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen reduzieren wir zwar den Umfang der Käufe, aber wir werden immer noch mehr Anleihen kaufen als im nächsten Jahr neu begeben werden. Dadurch bleiben die langfristigen Zinsen niedrig. Außerdem haben wir es mit einem anderen Typ von Investoren zu tun, die uns die Anleihen verkaufen. Am Anfang des Programms im Jahr 2015 haben wir viele Anleihen von Investoren aus Übersee gekauft. Heute kaufen wir mehr und mehr von europäischen Versicherern und Pensionsfonds, die die Papiere gekauft haben, um sie zu halten, zum Beispiel aus regulatorischen Gründen. Daher sind sie nur zu einem höheren Preis bereit zu verkaufen. Das hat zur Folge, dass jeder Euro, der in die Ankäufe fließt, einen stärkeren Effekt auf die Zinsen hat. Außerdem werden wir über einen langen Zeitraum auslaufende Anleihen reinvestieren. All das sorgt dafür, dass zusätzliche monatliche Käufe immer weniger notwendig werden.
Im Oktober hat die EZB in den einleitenden Bemerkungen zu der Ratssitzung die Klausel beibehalten, dass die Anleihekäufe weiter laufen, bis die Inflation sich nachhaltig dem gewünschten Ziel von knapp zwei Prozent nähert. Warum?
Ich erwarte, dass diese Verknüpfung geändert werden kann, wenn der EZB-Rat zuversichtlich genug ist, dass die monatlichen Zukäufe weniger notwendig werden, um das Ziel von unter, aber nahe 2 % nachhaltig zu erreichen. Wir waren im Oktober noch nicht zu diesem Schritt bereit, aber ich gehe davon aus, dass das bis zum September 2018 passiert.
Aber es gab Ratsmitglieder wie Peter Praet, die sehr stark an dieser Verknüpfung festhalten wollten. Herrscht da ein Zwist?
Ich erwarte, dass die Forward Guidance hinsichtlich unserer Zinssätze mit der Zeit an Bedeutung gewinnt, so dass diese Änderung möglich wird. Einige Mitglieder waren der Meinung, dass dies jetzt schon möglich wäre, andere waren der Meinung, das sollte später passieren. Es geht meiner Ansicht nach mehr um den Zeitpunkt als um die grundsätzliche Richtung.
Sie gehören zur ersten Gruppe?
Ich gehöre zu der großen Mehrheit der Ratsmitglieder, die der Meinung sind, dass nach wie vor eine deutliche Unterstützung durch die Geldpolitik notwendig ist. Aber ich glaube, wir können die Gewichtung unserer Instrumente noch verbessern, auch im Hinblick auf mögliche Risiken für die Finanzstabilität.
Sie haben neulich gesagt, dass Sie auf ein Ende der Anleihekäufe im September 2018 hoffen. Das klingt nach einer etwas härteren Linie im Vergleich zu der von Mario Draghi.
Aus meiner Sicht ist das die logische Schlussfolgerung. Das wirtschaftliche Umfeld verbessert sich, Preisdruck baut sich auf und wir brauchen die monatlichen Käufe immer weniger. Daher können wir hoffen, dass die im Oktober beschlossene Verlängerung des Programms die letzte war.
Glauben Sie, Anleihekäufe sollten grundsätzlich ein Mittel der Geldpolitik bleiben?
Die Anleihekäufe waren ein außerordentliches Mittel in einer außerordentlichen Situation, und sie haben gut funktioniert. Aber die Kapitalmärkte in Europa unterscheiden sich von denen in den USA. Wir haben hier nicht dieselbe Markttiefe. Deswegen glaube ich, dass Anleihekäufe die Ausnahme bleiben, aber kein ständiges Mittel unserer Geldpolitik. Irgendwann müssen wir wieder den Normalzustand erreichen, wo wir Zinsen hoch oder runter setzen.
Ein wichtiger Teil des theoretischen Modells, nach dem sich Notenbanken richten, ist die so genannte Phillips-Kurve, die unterstellt, dass niedrige Arbeitslosigkeit irgendwann zu höherer Inflation führt. Ist diese Kurve tatsächlich noch zu beobachten?
Ich glaube, dazu müssen wir uns mit einem gesunden Maß an Vorsicht äußern, weil die Welt sich verändert und wir viele Zusammenhänge noch nicht verstehen. Wir haben die schlimmste Krise seit 1929 durchlebt. Sie hat tiefe Spuren in Europa hinterlassen, hohe Arbeitslosigkeit und einen nachhaltigen Effekt auf den gesamten Arbeitsmarkt. Es ist kein Wunder, dass bestimmte Muster, an die wir 20 oder 30 Jahre lang gewöhnt waren, nicht mehr zu erkennen sind oder schwächer geworden sind. Hinzu kommen strukturelle Veränderungen und der technische Fortschritt, die die Funktionsweise des Arbeitsmarkts auf eine Art und Weise verändern, die wir noch nicht völlig verstehen.
Aber es ist doch erstaunlich, dass die Inflation nicht steigt, obwohl die Arbeitslosigkeit immer weiter sinkt.
Ich sehe da in Europa weniger ein Rätsel als in den USA, weil die Erwerbsquote in Europa während der Krise gewachsen ist, zum Teil durch die Erhöhung des Rentenalters. In Europa ist die Arbeitslosigkeit noch höher und viele suchen einen Job, sind also noch Teil des Arbeitsmarktes. Das zieht die Löhne runter. In den USA sind dagegen viele Arbeiter ganz aus dem Markt gedrängt worden und kommen nicht mehr zurück. Der Arbeitsmarkt ist daher nahe der Vollbeschäftigung. Das sollte Lohndruck erzeugen – aber den sehen wir nicht.
Aber was steckt hinter dem schwachen Lohnwachstum in den USA?
Es muss mit strukturellen und technischen Veränderungen zu tun haben, weltweiten Einflüssen und der schwachen Entwicklung der Produktivität. Die USA sind ein Warnzeichen für uns: Selbst wenn der Druck am Arbeitsmarkt in der Eurozone steigt, bleiben die Löhne wegen der schwachen Fortschritte bei der Produktivität möglicherweise niedrig. Das können wir jetzt schon in Deutschland beobachten.
Über viele Jahre haben die Notenbanken vergeblich versucht, die Inflation stärker anzuschieben. Zugleich läuft die Wirtschaft gut. Warum gibt man sich nicht damit zufrieden und betrachtet die niedrige Inflation etwas entspannter?
Ich verstehe, dass Politiker so denken. Aber als Notenbanker dürfen wir das nicht. Wir haben ein eng definiertes Mandat, und das ist die Erhaltung der Preisstabilität.
In den USA wird offen über eine mögliche Veränderung des Inflationsziels diskutiert. Sollte die Debatte darüber nicht auch in Europa geführt werden?
Ich glaube wirklich nicht, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, über eine Veränderung der Definition von Preisstabilität bei der EZB zu diskutieren, weder in die eine noch in die andere Richtung. In der Krise waren wir ein Anker der Stabilität. Die langfristigen Inflationserwartungen sind sehr stabil, und das hat geholfen, Deflation, also ein Abrutschen der Preise, zu verhindern. Dieser Anker wird immer noch gebraucht, weil die Eurozone nach wie vor die Folgen der Krise spürt.
Ein anderes heißes Thema sind zurzeit Bitcoins als möglicher Ersatz für Bargeld. Wie wichtig ist das für die EZB?
Es gibt unterschiedliche Formen von digitalen Währungen. Bitcoins sind keine Währung. Sie sind ein finanzielles Instrument, das mit seinen hohen Wertschwankungen große Risiken für die Anleger mit sich bringt, ganz abgesehen von Aspekten wie der Steuerhinterziehung und der Kriminalität. Das hat nichts mit Geldpolitik zu tun. Auf der anderen Seite werden neue Technologien für die Kapitalmärkte entwickelt, etwa der Gebrauch der Blockchain für die Abwicklung von Geschäften. Das kann eines Tages dazu führen, dass digitales Geld benötigt wird, um Transaktionen durchzuführen. Wir beobachten das, weil wir alle technischen Entwicklungen im Blick behalten müssen. Eine ganz andere Diskussion betrifft die Frage, ob digitale Währungen, die von Notenbanken geschaffen werden, das Bargeld ersetzen sollten.
Was ist ihre Meinung dazu?
Ich glaube, Notenbanken sollten äußerst vorsichtig mit dem Thema umgehen, weil es das Vertrauen in die Währung betrifft. Es gibt unterschiedliche Einstellungen zum Bargeld. In Deutschland zum Beispiel ist Bargeld sehr beliebt. Andere Gesellschaften werden dazu andere Meinungen haben.
Europäische Zentralbank
Generaldirektion Kommunikation
- Sonnemannstraße 20
- 60314 Frankfurt am Main, Deutschland
- +49 69 1344 7455
- media@ecb.europa.eu
Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.
Ansprechpartner für Medienvertreter