Interview mit Neue Zürcher Zeitung
Interview mit Peter Praet, Mitglied des Direktoriums der EZB,
geführt von Claudia Aebersold Szalay und Peter A. Fischer
Herr Praet, Sie sind nun seit vier Jahren Chefökonom der EZB. In dieser Zeit hat sich an der Politik der EZB einiges geändert. Macht es einen Unterschied, wer Chefökonom der EZB ist?
Sowohl der Präsident als auch der Chefökonom haben gewechselt, aber was sich in dieser Zeit vor allem geändert hat, ist das wirtschaftliche Umfeld, in dem wir uns befinden. Als die Krise 2007 ausbrach, dachte man noch, man habe es lediglich mit einem externen Liquiditätsschock zu tun. Entsprechend haben die Notenbanken weltweit reagiert, auch die EZB hat sich damals darauf konzentriert, den Banken Liquidität zur Verfügung zu stellen. Ich erinnere mich noch an die Schlagzeilen von damals. 100 Mrd. € Liquidität stellte die EZB zur Verfügung, das schien zu jener Zeit eine unglaubliche Summe zu sein.
Die Krise weitete sich aber trotzdem aus.
Ja, sie wurde schnell zu einer Kreditkrise, die sich im Jahr 2012 zu einer Krise des Euro steigerte. Um auf Ihre erste Frage zurückzukommen: Die Umstände haben sich dramatisch verändert, die Person des Chefökonomen spielt da nur eine untergeordnete Rolle. EZB-Entscheidungen sind keine One-Man-Show, sondern das Resultat der Diskussionen unter den Ratsmitgliedern. Das ist ein offener, professioneller und kollegialer Austausch, und auf dieser Basis fällt der EZB-Rat seine Entscheidungen.
Es macht aber den Eindruck, als verfolgten Sie einen eher angelsächsisch geprägten Ansatz, während Ihre beiden Vorgänger, Issing und Stark, in der Tradition der Deutschen Bundesbank standen und mehr stabilitätsorientiert dachten.
Dem widerspreche ich mit Nachdruck. Ich und das gesamte EZB-Direktorium haben uns ganz und gar der Preisstabilität verpflichtet; das ist unser Mandat, der in den Europäischen Verträgen festgeschriebene Auftrag. Wir verstehen Preisstabilität symmetrisch; sie gilt in beide Richtungen. Inflation, also zu hohe Preissteigerungsraten, bekämpfen wir ebenso entschieden wie eine zu niedrige Teuerung. Und wir waren mit unserer Politik durchaus erfolgreich darin, den Ängsten vor Deflation entgegenzutreten, möchte ich meinen. Unsere ganze Politik, auch die unkonventionelle, zielt darauf, Preisstabilität zu gewährleisten. Übrigens hat die EZB unter der Ägide meines Vorgängers Otmar Issing näher definiert, was unter Preisstabilität zu verstehen ist: unter, aber nahe 2 Prozent.
Aber beim Thema Staatsanleihekauf ist es doch zu einem wahrhaftigen Bruch gekommen. Ihre Vorgänger waren strikt dagegen, Sie und Präsident Draghi sind klare Befürworter der Käufe.
Wer weiss, was meine Vorgänger an meiner Stelle getan hätten. Sie waren nicht in der Situation, bei den Leitzinsen am unteren Ende angekommen zu sein und somit bei den Zinsen kaum noch Handlungsspielraum zu haben. Ganz sicher bin ich mir aber, dass auch sie alles Notwendige getan hätten, um dem Mandat gerecht zu werden. Zudem hat es auch unter dem früheren Präsidenten Trichet ein Programm zum Kauf von Staatsanleihen gegeben, nur halt ein viel kleineres als das heutige.
Kritiker sagen, die EZB ist zu weit gegangen und hat mit ihrer Politik den Nährboden für die nächste Krise gelegt.
Dass eine expansive Geldpolitik immer auch Risiken für die Finanzstabilität birgt, ist uns sehr bewusst. Trotzdem sind wir überzeugt, richtig gehandelt zu haben, da wir uns an unserem Mandat orientiert haben. Weil wir keinen starken Anstieg der Kreditvergabe sehen und auch keine Anzeichen für weit verbreitete Spekulationsblasen, sind die Risiken für die Finanzstabilität derzeit begrenzt.
Die Geldpolitik hat der Politik in der Krise aber zu viel abgenommen.
Dass im Krisenmanagement zu viel Gewicht auf die Geldpolitik gelegt worden ist, ist richtig. Auch ich hätte mir gewünscht, dass andere Akteure mehr Verantwortung übernommen hätten. Das ändert aber nichts daran, dass die EZB zuallererst handeln muss, um ihr Mandat zu erfüllen.
Die Euro-Zone hat in der Krise eine schlechte Figur gemacht?
Eines der grössten Probleme war, dass die Architektur des Euro-Raums noch nicht vollständig war. Es waren einfach noch nicht alle Institutionen vorhanden, die für eine rasche und effektive Krisenbewältigung notwendig sind. Die Währungsunion hatte schon wichtige Grundsätze wie die Nichtbeistandsklausel, das Verbot der monetären Staatsfinanzierung oder auch die Nicht-Exit-Klausel. Aber es zeigten sich auch schwerwiegende Konstruktionsfehler, welche Übertreibungen Vorschub leisteten und die zum Ausmass der Krise beigetragen haben.
Und als dann mehrere Mitgliedstaaten in Finanzierungsengpässe gerieten …
… hatte man nicht die richtigen Strukturen, um damit umzugehen. Keinen funktionierenden Mechanismus, um notfalls öffentliche und private Schulden umzuschulden und Problembanken zu restrukturieren oder abzuwickeln. Auch keine länderübergreifenden Institutionen, die dazu in der Lage waren.
Ausser dem IMF.
Ja, es gab den IMF, viele in Europa sahen es ja zu Beginn gar nicht gern, dass der IMF im Euro-Raum involviert wurde. Ich war immer dafür, ihn mit an Bord zu haben, denn wir in Europa hatten schlicht keine Institution, die diese Rolle hätte übernehmen können.
Hat sich inzwischen der institutionelle Rahmen in der Union verbessert?
Ja, sehr. Inzwischen haben wir den Europäischen Stabilitätsmechanismus, sind bei der Bankenunion weit vorangekommen, wir haben eine europäische Bankenaufsicht. Das ist ein wichtiger Schritt, und es werden weitere folgen. Der Euro-Raum braucht mehr Integration.
War der fehlende institutionelle Rahmen das Hauptproblem der Krise?
Eines der Hauptprobleme. Das andere war, dass die Regierungen im Euro-Raum wenig fiskalischen Spielraum hatten, um auf die Krise zu reagieren.
Genau, die Regierungen mussten sparen. War die Austerität falsch, weil sie die Staaten zwang zu sparen?
Nein, die Rückkehr zu soliden Staatshaushalten war eine Notwendigkeit, denn es ging ja während der Staatsschuldenkrise gerade darum, das Vertrauen in die Staatsfinanzen in der Union zurückzugewinnen, um Spekulationen auf ein Auseinanderbrechen der Währungsunion einzudämmen. Aber klar, die Tatsache, dass die Regierungen so wenig fiskalischen Spielraum hatten, hat dazu geführt, dass sich die Krise verschärft hat und die Notenbank umso mehr tun musste, um dennoch ihrem Auftrag gerecht zu werden.
Nun betreibt die EZB sogar Quantitative Easing und kauft seit einem halben Jahr Staatsanleihen. Bisher hat die EZB für gut 400 Mrd. € Aktiva gekauft, bis Herbst 2016 sollen es über 1 Bio. € werden. Welche Bilanz ziehen Sie nach 6 Monaten?
Das Ankaufsprogramm der EZB ist ein Erfolg. Es zeigt bereits Wirkung, etwa bei den Inflationserwartungen, die sich wieder erholt haben, oder bei den Finanzierungsbedingungen ganz allgemein, die sich etwas entspannt haben.
Präsident Draghi spricht aber bereits davon, das Programm auszudehnen.
Er wiederholt das, was wir von Anfang an gesagt haben, nämlich, dass das Programm flexibel ist und bei Bedarf angepasst werden kann.
Hat es einen Sinn, heute bereits über eine Ausdehnung nachzudenken?
Wichtig ist nur, unsere Bereitschaft und unsere Entschlossenheit hervorzuheben, falls nötig zu handeln. Noch wäre dies verfrüht, aber die Risiken in der Weltwirtschaft haben deutlich zugenommen, wir mussten unsere Konjunkturprognosen nach unten korrigieren, und wir wollen einfach bereit sein zu handeln, falls es die Umstände verlangen.
Waren Sie bei Ihren Konjunkturprognosen im Frühling zu optimistisch?
Das wurde uns vorgeworfen, doch ich glaube nicht. Die Anpassung nach unten im September war nicht gross und war vor allem der Korrektur in den Schwellenländern geschuldet. Die wirtschaftliche Erholung im Euro-Raum selbst ist intakt.
Die US-Notenbank Fed hat sich am Donnerstag gegen eine Zinserhöhung entschieden. Macht dies der EZB das Leben eher leichter oder schwerer?
Die Euro-Zone ist im Vergleich zur amerikanischen Wirtschaft in einer anderen Phase des Konjunkturzyklus, deshalb verlaufen auch die geldpolitischen Zyklen nicht synchron. Nichtsdestoweniger teilen wir die Sorgen über die Aussichten für die Weltwirtschaft. Wir würden nicht zögern zu handeln, wenn wir zu dem Schluss kämen, dass die Schocks so schwerwiegend und fortdauernd sind, dass dies zu einer geringeren Inflationsprognose im Euro-Raum führen würde.
Wie viel ihres Potenzialwachstums hat die Euro-Zone während der Krise verloren?
Das Potenzial hat schon vor Ausbruch der Krise nachgelassen, weil sich das Produktivitätswachstum verlangsamt hatte. Die Krise hat dann alles noch verschlimmert, so dass sich der Euro-Raum heute auf einem deutlich tieferen Wachstumspfad befindet.
Die Geldpolitik kann da nichts ändern.
Die Geldpolitik kann das Problem nur abfedern, indem sie beispielsweise Liquidität bereitstellt und dadurch hilft, eine Bankenkrise zu vermeiden. Geldpolitik kann kein nachhaltiges Wachstum schaffen. Dafür sind kluge Strukturreformen notwendig, die die Wachstumskräfte der Wirtschaft stärken. Das ist aber nicht die Aufgabe der Zentralbank, sondern die der Regierungen.
Was sollten Letztere konkret tun?
Sie müssen Strukturreformen anpacken, um die Grundlage für mehr Produktivität und Wachstum zu legen. Europa braucht kluge Reformen.
Diese lassen aber auf sich warten.
Sie sehen das zu schwarz. Wir sehen ermunternde Zeichen im Euro-Raum und besonders in Ländern wie Spanien und Irland, aber auch in Portugal. Italien hat zwar spät angefangen mit Reformen, ist nun aber auf gutem Weg.
Sehen Sie auch Griechenland so positiv?
Die Situation in Griechenland ist immer noch schwierig, aber mit dem neuen Programm sind wir einen Schritt vorangekommen.
Und das neue Programm bringt Abhilfe?
Das Programm ist zwar anspruchsvoll, aber wir sind überzeugt, dass die Reformen Griechenland helfen werden, wieder Wachstum zu schaffen und aus der Krise herauszukommen. Mehr möchte ich dazu angesichts der anstehenden Wahlen aber nicht sagen.
Dann kommen wir zur Schweiz. Es ist offensichtlich, dass die Politik der EZB auf eine kleine, offene Volkswirtschaft wie die Schweiz grossen Einfluss hat. Ist es für die Schweizerische Nationalbank überhaupt noch möglich, eine eigenständige Geldpolitik zu betreiben?
Es steht ausser Zweifel, dass jede Geldpolitik auch Nebenwirkungen für andere Währungsräume hat. Die grösste Auswirkung auf die Schweiz hat aber nicht die EZB, sondern die Politik der Euro-Staaten. Das schwache Krisenmanagement der Politik im Euro-Raum hat dazu geführt, dass die Investoren in sichere Häfen wie die Schweiz geflohen sind, was den Franken stark aufgewertet hat.
Und die expansive Politik der EZB hat keine Rolle gespielt?
Ich glaube, unsere Politik hat geholfen, Ängste zu dämpfen, und damit die Flucht in den Franken eher verringert. Geht es dem Euro-Raum besser, steht der Franken weniger unter Aufwertungsdruck.
Machen Sie es sich da nicht zu einfach?
Die EZB hat in der Krise Verantwortung übernommen und dabei geholfen, Unsicherheiten an den Finanzmärkten zu vermindern, ja sogar Panik zu vermeiden. Dadurch hat sie auch den Druck von Währungen wie dem Franken genommen. Natürlich wäre dies alles viel wirkungsvoller gewesen, wenn auch die europäischen Regierungen in ihrem Krisenmanagement besser gewesen wären.
Das Quantitative Easing der EZB hat doch aber auch den Euro geschwächt und somit den Franken aufgewertet?
Bedenken Sie, auch die SNB hat eine Art von Quantitative Easing eingeführt und ihre Bilanz ausgeweitet – lange vor uns übrigens. Trotz dieser Politik ist die Inflationsrate in der Schweiz seit langem noch niedriger als im Euro-Raum. Es ist schwierig für eine Zentralbank, in einer solchen Situation die Aufwertung ihrer Währung auf Dauer zu vermeiden.
Muss ein geordneter Austritt aus der Währungsunion geregelt werden?
Ich glaube, es braucht ein Krisenmanagement und einen Abwicklungsmechanismus für überschuldete Institutionen, seien dies private oder öffentliche.
Wie wird die Währungsunion am Ende Ihrer Amtszeit bei der EZB aussehen?
Wir werden wieder Inflationsraten von unter, aber nahe 2 Prozent haben, weil unsere Politik ihr Ziel erreichen wird. Und die Bankenunion wird vollendet sein, das heisst, auch das Abwicklungsregime und der Einlagenschutz werden voll europäisiert sein. Für mich ist dies eine Voraussetzung für eine gut funktionierende Währungsunion. Europa wird in vier Jahren viel gesünder dastehen als heute.
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