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Menschen sind nicht nur Sparer

Beitrag von Benoît Cœuré, Mitglied des Direktoriums der EZB,
für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1. Mai 2016

Ist die Europäische Zentralbank stur, weil wir trotz heftiger Kritik an unserer Geldpolitik festhalten? Nein. Aber wir halten uns an eine genau festgelegte Aufgabe, die uns übertragen wurde. In den EU-Verträgen wurde der EZB ein eng umrissenes Mandat zur Wahrung der Preisstabilität erteilt. Im Jahr 2003 hat der EZB-Rat klargestellt, dass die Inflation im Euro-Währungsgebiet mittelfristig unter, aber nahe 2 Prozent liegen sollte. An dieser Interpretation hat sich seither nichts geändert.

Bei der Umsetzung dieses bewusst eng gefassten Ziels verfügt die EZB über ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit, angelehnt an die erfolgreichen Erfahrungen der Deutschen Bundesbank. Diese Ausrichtung der EZB steht im Einklang mit dem ökonomischen Konzept der „monetären Dominanz“. Um das zu gewährleisten, muss den Zentralbanken ein klar definiertes Ziel zugewiesen werden. Und dabei muss ihnen für die Festlegung und Durchführung ihrer Maßnahmen ein ausreichender Ermessensspielraum eingeräumt werden.

Monetäre Dominanz impliziert, dass eine Zentralbank sich in der Wahrnehmung ihres Mandates nicht von den konkreten Entscheidungen anderer Institutionen abhängig machen darf. Eine Prämisse, die der Europäischen Währungsunion zugrunde liegt besagt daher, dass die verschiedenen Akteure im Rahmen ihrer jeweiligen Mandate unabhängig voneinander agieren müssen.

In der Vergangenheit bestand für die EZB mehrfach das Risiko, dass die Inflationsraten in einem von expansiver Wirtschaftspolitik geprägten Umfeld zu lange auf einem hohen Niveau verharren würden. Haben wir damals Maßnahmen anderer Institutionen abgewartet, bevor wir die Zinsen angehoben haben? Nein, und das war richtig so. Ähnliche Erwägungen gelten für das derzeitige Umfeld. Derzeit beträgt die Inflationsrate im Euroraum nahezu null Prozent mit der Erwartung, dass sie für eine geraume Zeit auf einem niedrigen Niveau bleiben wird.

In diesem Umfeld mussten wir entschieden handeln und wichtige geldpolitische Impulse setzen. Dies haben wir mit einer Reihe von Maßnahmen getan, die im EZB-Rat sorgfältig vorbereitet und erörtert wurden. Unser jüngstes Maßnahmenpaket, bei dem wir die Ankaufsvolumen erhöht und den Schwerpunkt auf Kredite an private Haushalte und Unternehmen gelegt haben, erweist sich als wirksam, wie unsere aktuelle Umfrage zum Kreditgeschäft (Bank Lending Survey) und allgemein die Konjunkturbelebung im Euro-Währungsgebiet bestätigen.

Wir sind zuversichtlich, dass unsere Maßnahmen die Inflation auf einen nachhaltigen Pfad zurückführen werden. Es gibt allerdings gewichtige Gründe dafür, dass die Inflationsraten im Euroraum nur nach und nach ansteigen werden.

Unter anderem ist dies einer zu hohen privaten und öffentlichen Verschuldung geschuldet, die zu einem Einbruch der Wirtschaftstätigkeit und Anstieg der Arbeitslosigkeit führte. Dazu kamen in jüngerer Zeit globale Faktoren ins Spiel, die negative Auswirkungen auf die Inflation haben. Doch selbst wenn man die mittelfristige Ausrichtung unseres Inflationsziels flexibel auslegt, hätten wir meiner Überzeugung nach unser Mandat verfehlt, wenn wir nicht gehandelt hätten.

Ohne unsere Maßnahmen wären die derzeitigen Inflationsraten deutlich niedriger und die Inflationsaussichten viel schlechter. Darüber hinaus wäre die konjunkturelle Entwicklung gedämpft, es gäbe weniger Arbeitsplätze und ein solides Haushalten der öffentlichen Hand wäre erschwert, selbst in Deutschland.

Eine stillschweigende Aufgabe des gemeinsam vereinbarten Inflationsziels, das sich seit 13 Jahren für die EZB bewährt hat, ist keine Option. Dies würde die Glaubwürdigkeit unserer Geldpolitik beeinträchtigen und Instabilität erzeugen. Wir sollten nicht zu einer Politik zurückkehren, die die Zielsetzung der Geldpolitik immer wieder, aufgrund kurzfristiger Erwägungen, neu definiert.

In einer Währungsunion gewährleistet die einheitliche Geldpolitik durch ihre Ausrichtung auf stabile Preise die unabdingbare Verankerung für eine Vielfalt von wirtschaftspolitischen Entscheidungen, die auf nationaler und regionaler Ebene angesiedelt sind. Dies macht es besonders wichtig, dass die Geldpolitik verlässlich agiert. Wenn die Verankerung der Inflationserwartungen verloren ginge, wäre dies schon für sich genommen ein destabilisierender Faktor. Angesichts der zahlreichen Herausforderungen, mit denen Europa konfrontiert ist, wäre dies kontraproduktiv.

An diesem Stabilitätsgrundsatz muss trotz der mancherorts geäußerten, oftmals eindimensionalen und zu kurz greifenden Kritik an den Maßnahmen der EZB festgehalten werden. In Deutschland wurde der EZB zuletzt wiederholt vorgehalten, dass die Sparer durch die derzeit sehr niedrigen Zinssätze benachteiligt werden. Doch Menschen sind nicht nur Sparer, sondern auch Arbeitnehmer, Steuerzahler und Kreditnehmer, die als solche von den niedrigen Zinsen profitieren. Dank der verbesserten Wirtschaftslage, nicht zuletzt beflügelt durch die Geldpolitik, sind die Realeinkommen und die Beschäftigung in Deutschland in den letzten Jahren gestiegen. Anders gesagt: Wir brauchen jetzt niedrige Zinssätze, um eine Normalisierung der Wirtschaftslage - einschließlich künftiger höherer Zinsen für Spareinlagen - zu gewährleisten.

Die aktuell weltweit niedrigen Zinsen haben allerdings auch nicht monetäre Ursachen. Der Euroraum zum Beispiel erzielt ein Überschuss an Ersparnissen in Höhe von über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das erhöht weltweit den Abwärtsdruck auf die Zinssätze. Niedrige Zinsen sind ein Symptom gesamtwirtschaftlicher Zusammenhänge, die weit über die Geldpolitik hinausgehen.

Sicherlich wäre die Geldpolitik wirksamer, wenn die anderen Politikbereiche im Euroraum mehr für ein solides und nachhaltiges Wachstum tun würden, eingebettet in ein glaubwürdiges Regelwerk.

Ein erstes Maßnahmenpaket sollte in den jeweiligen Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für nachhaltiges Wachstum schaffen. Zunächst sollten die gemeinsam vereinbarten Fiskalregeln durchgesetzt werden, unter Ausschöpfung des haushaltspolitischen Spielraums. Und in allen Ländern sollten die öffentlichen Haushalte wachstumsfreundlicher gestaltet werden, zum Beispiel durch mehr Ausgaben in den Bereichen Forschung und Bildung und eine Verringerung der Abgaben auf Arbeitseinkommen. Ferner sind wachstumsfördernde Strukturreformen wichtig. Das Tempo bei der Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen der EU ist ernüchternd, und das Verfahren zur Überwachung makroökonomischer Ungleichgewichte wird kaum genutzt. Aber Europa ist nur dann glaubwürdig, wenn wir uns an die getroffenen Vereinbarungen halten.

Das zweite Maßnahmenpaket betrifft gemeinsames Handeln der Euro-Länder. Wir brauchen eine bessere Governance-Struktur, um zu verhindern, dass sich im Euroraum allmählich ein Regime der fiskalischen oder finanziellen Dominanz durchsetzt. Im schlimmsten Fall käme es zu einer Kombination dieser beiden Regime, wenn wir keine klare Lösung finden für das Problem der unheilvollen Verflechtung von Risiken zwischen Staaten und Banken. Wir müssen uns konsequent gegen solche Entwicklungen absichern. Daher muss die Vollendung der Bankenunion und die Schaffung der Kapitalmarktunion Priorität haben, ebenso wie ein klarer regulatorischer Rahmen zur Vermeidung übermäßiger Risikokonzentrationen in den Bilanzen der Banken. Längerfristig können weiterreichende institutionelle Veränderungen erwogen werden, wie sie 2015 im Bericht der fünf Präsidenten vorgeschlagen wurden.

Das sind die Voraussetzungen für stabiles Wachstum in einem stabilen Umfeld. Dies wird der Investitionstätigkeit Vorschub leisten, die unser Kontinent braucht, damit sich seine langfristige Wachstumsrate erhöht und seine Zukunft gesichert ist. Dies ist die denkbar beste Unterstützung für die europäischen Sparer. Und um das zu gewährleisten, wird die Geldpolitik der EZB weiterhin dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet bleiben.

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