Suchoptionen
Startseite Medien Wissenswertes Forschung und Publikationen Statistiken Geldpolitik Der Euro Zahlungsverkehr und Märkte Karriere
Vorschläge
Sortieren nach

Interview mit Börsen-Zeitung

8. April 2015

Interview mit Yves Mersch, Mitglied des Direktoriums der EZB,
geführt von Mark Schrörs und veröffentlicht am 8. April 2015

Herr Mersch, der Start des Staatsanleihekaufprogramms der Europäischen Zentralbank (EZB) hat die Finanzmärkte mächtig beeindruckt: Die Börsen haussieren, der Euro hat stark abgewertet und die Renditen auf Euro-Staatsanleihen haben noch einmal deutlich nachgegeben. Wie sehr hat es sie überrascht, dass das Quantitative Easing (QE) so stark eingeschlagen hat?

Mersch: Es stimmt, die Langfristzinsen sind weiter gesunken, teils sogar auf historische Tiefstände. Insgesamt haben sich die Finanzierungsbedingungen für die Wirtschaft verbessert. Es gibt jetzt auch Signale, dass wir bei der Kreditvergabe bald wieder in positives Territorium vordringen. Es wäre vielleicht ein wenig verwegen zu behaupten, dass die bessere Stimmungslage in der Wirtschaft allein auf QE gründet. Aber klar ist: QE hat eine Signalwirkung gehabt, und dieser Kanal wirkt sehr erfolgreich.

Aber sind solche Erfolgsmeldungen zum QE-Effekt auf die Realwirtschaft nicht etwas verfrüht? Früher galt auch bei der EZB, dass geldpolitische Maßnahmen nach 12 bis 18 Monaten wirken.

Ja, aber die Geldpolitik wirkt eben auch über den Signalkanal, und das in diesem Fall sehr effektiv und zeitnah. Jetzt gilt es abzuwarten, wie die anderen Kanäle wirken. Die Entscheidung für QE kam aber sicherlich zum richtigen Zeitpunkt.

Weil sich die Euro-Wirtschaft an einem Wendepunkt befand, nicht zuletzt dank des billigeren Öls?

Wir hatten zu Jahresbeginn zaghafte positive Anzeichen. Diese Entwicklung hat sich mit QE verstärkt.

Aber besteht nicht auch die Gefahr überzudosieren?

Der Rat wird die Situation auch jeden Monat genau beobachten. Wir haben jetzt einen Plan gefasst, den wir vorhaben durchzuziehen: Wir kaufen jeden Monat für 60 Mrd. Euro bis September 2016. Darauf bauen unsere März-Projektionen auf, die ein langsames Heranrücken an eine Inflationsrate vorsehen, die unserem Verständnis stabiler Preise nahekommt. 2017 sind wir demnach bei 1,8%. Wenn wir allerdings sehen, dass wir überziehen, dann wäre es natürlich angebracht sich zu fragen, ob wir unseren Plan anpassen müssen.

Das heißt, wenn die neuen Projektionen im Juni für 2017 ein Überschreiten des Inflationsziels von knapp 2% vorhersagen – wie es aktuell denkbar ist–, wären Sie für eine Diskussion, die Käufe zu reduzieren oder früher zu stoppen?

Noch einmal: Wir haben jetzt einen Weg festgelegt, und daran halten wir uns. Wenn wir sehen würden, dass uns dieser Weg schneller an unser Ziel bringt, sind wir natürlich durch unsere Entscheidungen nicht derart festgelegt, dass wir ihn nicht anpassen könnten. Das gilt im Übrigen auch für den Fall, dass wir nicht an das Ziel herankommen. Wir sind in beide Richtungen nicht realitätsresistent.

Einige Beobachter argumentieren, die EZB riskiere im Fall einer Reduzierung der Käufe ihre Glaubwürdigkeit. Aber wäre es nicht auch ein Problem, wenn die Prognose über 2% stiege und Sie mit QE weitermachten und nicht reagierten?

Was Sie da ansprechen spielt hinein in die Diskussion über Preisniveausteuerung…

… bei der sich eine Zentralbank eine bestimmte Preisentwicklung vorgibt, die sie jedes Jahr aufs Neue erreichen muss. Gelingt ihr dies nicht, muss sie im Folgejahr umso heftiger gegensteuern.

Die Befürworter argumentieren, wir sollten das als neue Strategie ausgeben. Aus meiner Sicht wäre das aber ein falscher Weg: Es wäre eine fundamentale Änderung in einem Umfeld, in dem Standfestigkeit und die Verankerung einer bewährten Strategie sehr wichtig sind. Zudem mag dieser Ansatz in der Theorie unter gewissen Annahmen brillant sein – in der Praxis ist das aber ein äußerst fragliches Experiment.

Sie halten also nichts davon, künftig zeitweise höhere Inflationsraten zuzulassen, weil in den vergangenen Jahren die Teuerung deutlich unterhalb des 2%-Ziels lag?

Diesen Ansatz finde ich überhaupt nicht überzeugend. Ein solcher Strategiewechsel wäre für mich nicht stabilitätskonform. „Eine nachhaltige Korrektur der Inflationsentwicklung (…), die im Einklang mit seinem Ziel steht, mittelfristig Inflationsraten von unter, aber nahe 2% zu erreichen“ – so lautet die Entscheidung des EZB-Rates.

QE ist vordergründig die Antwort auf die seit langem sehr niedrige Inflation. Aber ist diese wirklich so gefährlich, wenn sie auf sinkende Ölpreise zurückgeht?

Ich unterscheide auch ein Unterschreiten der Nulllinie bei der Inflation, das hauptsächlich auf temporäre Phänomene zurückgeht wie den Ölpreis, auf die wir sowieso keinen Einfluss nehmen können, und ein allgemeines Absacken der Preise. Vor Januar war aber der Anteil der Güter, bei denen die Steigerungsrate unter 0,5% liegt, zunehmend gestiegen. Zudem waren die Inflationserwartungen durchgesackt von 1,8% auf 1,4%. Das waren die Argumente, die mich dazu bewogen haben einzusehen, dass wir zu der Ultima Ratio greifen mussten.

Das heißt, Sie hätten im Januar für QE votiert, wenn im EZB-Rat formal abgestimmt worden wäre?

Ich habe noch nie öffentlich gesagt, wie ich im Rat abstimme – weil das verboten ist und alle Abstimmenden dies respektieren.

Mitunter kann man gerade das Gefühl einer „verkehrten Welt“ haben: Die Fed, die traditionell sehr deflationsbesorgt ist, gibt sich angesichts der durch den Ölpreis gedrückten Teuerung relativ entspannt. Die EZB dagegen, die immer eher vor übertriebenen Deflationsängsten gewarnt hat, ist derart alarmiert. Wie kommt das?

Soweit ich mich erinnern kann, waren wir niemals in einer Situation, in der sich Dinge so rasant negativ entwickelt haben. Ich würde nicht behaupten, dass wir im Januar schon an dem Punkt waren, an dem Konsumenten Käufe in Erwartung sinkender Preise aufgeschoben haben. Aber die Gefahr war, dass wir auf eine solche Situation zusteuerten. Hinzu kommt: Die Kreditvergabe sinkt seit Jahren. Seit April 2014 verbessert sich die Lage, aber besorgniserregend langsam. Auch deshalb konnten wir uns nicht einfach zurücklehnen und sagen, die Sache geht von selbst gut. Wir haben ein Mandat und sollten versuchen, dieses Ziel nicht nur über einen Fünf-Jahres-Zyklus zu erreichen, sondern so schnell wie möglich.

Sie haben die Inflationserwartungen angesprochen. Ein viel beachteter Indikator ist die „5y5y“-Rate, also die Erwartungen an den Märkten in fünf Jahren für die nächsten fünf Jahre. Diese ist mit dem QE-Start gestiegen, aber nur leicht. Enttäuscht Sie das?

Wir sind keine 5y5y-Fetischisten. Wir kennen die Schwächen einzelner Indikatoren. Aber was mich umgetrieben hat, das war das Durchsacken unter eine gewisse Grenze. Als es auf 1,4% ging, war das ein freier Fall, und es bestand die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen. Mit 1,7% bis 1,8% sind wir jetzt wieder bei Erwartungen, die stärker in Einklang mit unseren mittelfristigen Prognosen sind.

Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass die EZB irgendwann nicht mehr genug Anleihen zum Ankauf findet? Sicher, am Ende ist alles eine Frage des Preises. Aber Sie können ja kein Interesse haben, überhöhte Preise zu zahlen.

Hohe Kurse bedeuten im Umkehrschluss niedrige Zinsen – das ist nun genau das Ziel, das wir anstreben. Ich befürchte keinen generellen Mangel: Es sind sehr viele Euro-Anleihen begeben worden und auf dem Markt verfügbar, weil die ausländischen Investoren andere regulatorische Vorgaben haben. In einzelnen Segmenten kann es mal zu einer Verknappung kommen. Dann müssen wir schauen, wie wir damit umgehen. Allerdings ist das Universum öffentlicher Emissionen sehr breit definiert und geht über den Zentralstaat hinaus. In jedem Fall aber ist das Programm unter ständiger Beobachtung.

Einige spekulieren, die EZB könne ihren Einlagesatz von –0,2% weiter senken, um den Pool verfügbarer Anleihen zu erhöhen, da der Satz die Untergrenze bildet, bis zu der Staatstitel mit negativer Rendite gekauft werden.

Das ist sicher eine theoretische Möglichkeit. Aber wir müssen uns immer fragen, ob ein Instrument geeignet und verhältnismäßig ist. Eine solche Kosten-Nutzen-Analyse schließt nach meinem Dafürhalten aus, dass wir beim Einlagesatz weiter nach unten gehen. Wir haben zudem mehrfach gesagt: Wir haben bei den Zinsen die untere Grenze erreicht. Ich verweise da auch gerne ausdrücklich auf die jüngst veröffentlichte Zusammenfassung der geldpolitischen Beratung bei unser März-Sitzung, in der das klar zum Ausdruck kommt.

Mit dem QE-Start hat der Euro teils noch einmal stark abgewertet. Zuletzt hat er sich stabilisiert. Sind Sie darüber froh? Wann wird eine Abwertung zum Problem?

Wechselkursentwicklungen sind immer dann gefährlich, wenn sie extrem sind und nicht in Einklang mit den Fundamentaldaten stehen. Das gilt nach wie vor. Für mich ist dann höchster Alarm angesagt, wenn versucht wird, den Wechselkurs als Instrument zu nutzen – und unter dem Vorwand, zu stabilen Preisen zurückzukehren, das Ziel verfolgt wird, sich wettbewerbsmäßig zu verbessern. Das stünde absolut nicht in Einklang mit unseren Vorgaben, wie sie im EU-Vertrag festgehalten sind. Das wäre Alarmstufe Rot.

Aber sind wir nicht längst soweit, wenn man manche Kommentare aus Rom oder Paris hört?

Atavistische Reaktionen wird es immer geben. Ich will die aber nicht überbewerten. Wir als EZB haben kein Wechselkursziel, und wir benutzen den Wechselkurs auch nicht als Zwischenziel. Wir sind uns bewusst, dass er eine wichtige Rolle für die Inflation spielt. Das ist alles. Aber noch einmal: Den Wechselkurs als Instrument der allgemeinen Wirtschaftspolitik zu sehen, wäre ein Irrweg.

So wie das QE-Programm aktuell gestaltet ist, gibt es von September auf Oktober 2016 ein abruptes Ende. Die US-Notenbank hat erfahren müssen, wie schwierig der Exit ist und hat ihre Käufe allmählich auslaufen lassen. Muss die EZB da noch nachbessern?

Zunächst einmal bin ich sehr froh, dass Sie mir die Frage nach dem Exit stellen. Viele andere stellen immer nur die Frage, was die EZB noch alles tun kann. Da müssen wir noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Aber Sie haben natürlich einen Punkt: „Klippeneffekte“ müssen wir auf jeden Fall vermeiden. Die ganze Währungspolitik ist ausgerichtet auf störungsfreie Entwicklungen. Das ist also eine Frage, mit der wir uns auseinandersetzen müssen und werden, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Noch ist das aber nicht soweit.

Aber sollte man beim Einstieg in eine solche Politik nicht schon die Ausstiegsstrategie parat haben?

Ich bin überzeugt, dass wir noch nicht an einem Punkt angekommen sind, an dem wir eine öffentliche Diskussion über den Ausstieg führen müssten.

In Deutschland tobt eine Debatte über das EZB-Inflationsziel von „unter, aber nahe 2%“. Einige argumentieren, Preisstabilität sei eigentlich 0% und es sei irrsinnig, wenn die EZB mit allen Mitteln versucht, Inflation zu erzeugen.

Wir haben diese Diskussion Anfang der 2000er Jahre unter dem damaligen EZB-Chefvolkswirten Otmar Issing sehr umfassend geführt. Wir sind damals schnell zu der einhelligen Einschätzung gekommen, dass wir kein Inflationsziel von 0% anstreben sollten. Dann wären wir tendenziell deflationär ausgerichtet, nicht zuletzt wegen statistischer Verzerrungen bei der Preismessung. Eine Wirtschaft braucht daher ein wenig Inflation, um einen Puffer zu haben. Ich halte absolut nichts davon, an unserer Definition von Preisstabilität zu rütteln – genauso wie ich nichts davon halte, unsere Strategie in Frage zu stellen, wie in der Diskussion um Preisniveausteuerung.

Ein anderes großes Thema ist Griechenland. Wie groß sind jede Woche Ihre Bauchschmerzen, für die Hellas-Banken die Notfallliquidität ELA – Emergency Liquidity Assistance – in Volumina von mehr als 70 Mrd. Euro durchzuwinken?

Bei den ELA-Entscheidungen wenden wir unsere Regeln streng an. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Meine Bauchschmerzen würden dann groß werden, wenn wir unser Regelwerk nicht beachten würden. Aber natürlich müssen wir aufpassen, dass es über diesen Weg nicht zu einer versteckten monetären Staatsfinanzierung kommt. Diese Gefahr steigt, wenn ein Land keinen Marktzugang hat.

Mit dem Argument lehnt die EZB auch den Vorstoß Athens ab, die Grenzen für die Begebung kurzfristiger Staatstitel, die T-Bills, anzuheben. Bundesbankpräsident Jens Weidmann dagegen geht noch einen Schritt weiter. Er sieht schon ein Problem, wenn griechische Banken T-Bills verlängern, also ein „Rollover“ machen. Hat er Recht oder ist er zu streng?

Die abschließende Meinungsbildung hat im EZB-Rat noch nicht stattgefunden. Für mich ist das ein dynamischer Prozess: Je mehr ein Staat, aber auch sein Bankensystem, den Marktzugang verliert und je mehr die Perspektive schwindet, dass dieser bald zurückerobert werden kann, desto größer ist die Gefahr einer indirekten monetären Staatsfinanzierung und desto strenger müssen wir sein. Unsere Reaktion war jetzt erst einmal, die bestehende Situation genauestens und zeitnah zu beobachten, um zu verhindern, dass das Verbot der monetären Staatsfinanzierung umgangen wird. Auch die Aufsicht hat hier ihre Rolle zu spielen.

Das heißt, die Marschrichtung ist erst einmal, es sollen nicht mehr T-Bills emittiert werden, aber zukünftig könnte es auch auf Vorgaben für Athen hinauslaufen, das Volumen sogar zu beschränken?

Wir müssen sehen, wie sich die Situation entwickelt. Ich verteidige aber auch geltendes Recht.

Die Regierung in Athen klagt, dass die EZB 2012 mit der Vorgängerregierung weniger streng war.

Nein, es sind die gleichen Regeln. Damals gab es ein Programm, eine kooperative Regierung und die Aussicht auf eine erfolgreiche Überprüfung dieses Programms und dessen Umsetzung. Derzeit sind wir weit entfernt von einer Einigung. Versprechungen alleine reichen nicht. Das gilt vor allem, wenn sie zudem in der Öffentlichkeit untergraben werden.

Wie frustriert sind Sie über die Regierung in Athen? Der zarte Aufschwung in Griechenland scheint abgewürgt, die Staatsfinanzen verschlechtern sich.

Die Daten haben sich klar verschlechtert. Das ist auch keine Überraschung. Das zeigt auch, wie gefährlich die Krise ist, wenn sie dazu führt, dass Parteien von den Extremen des politischen Spektrums in die Verantwortung gerufen werden, die keine Erfahrungen mit Regieren und auch nicht damit haben, wie Europa funktioniert. Das braucht dann eine Anpassungszeit in einer Phase, in der es keine Zeit gibt.

Wäre es aus Ihrer Sicht aktuell sinnvoll, Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, um die enormen Kapitalabflüsse zu stoppen?

Kapitalverkehrskontrollen sind ein Fremdkörper in einer Währungsunion, die man nicht ohne Not herbeireden sollte.

Oder ist es gar schon zu spät, weil viel Geld schon „geflüchtet“ ist?

Wir müssen die Situation sicherlich im Auge behalten.

Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass Griechenland bewusst oder durch einen „Unfall“ aus der Eurozone ausscheidet?

Wenn man Gestaltungsmöglichkeiten hat, geht man nicht davon aus, dass das Resultat ein Unfall sein wird. Man tut stattdessen alles, um einen Unfall zu vermeiden. Das ist unsere Einstellung, und das ist, glaube ich, die Einstellung in ganz Europa. Aber man kann auch ganz klar sagen: Wir haben unsere Regeln in Europa, und an die muss sich jeder halten.

Breite Staatsanleihekäufe durch die EZB, neue Flexibilität beim Stabilitätspakt – vollzieht sich in diesen Tagen ein fundamentaler Wandel der Währungsunion, weg von der Idee der Stabilitätsunion?

Es wäre mir natürlich lieber, wenn wir kein Land im Defizitverfahren hätten, und wenn der Abbau der Verschuldung schneller ginge. Aber verglichen mit anderen Regionen in der Welt stehen wir nicht so schlecht da. Wir müssen aber viel mehr tun, um unser Potenzialwachstum zu erhöhen. Dafür braucht es dringend Strukturreformen. Da hat jedes Land – und ich betone: jedes Land – noch viel zu tun. Einige Länder haben auch immer noch keine Antworten auf die Alterung der Gesellschaften. Ich bin aber nicht der Meinung, dass wir uns grundsätzlich von einer Stabilitätsunion verabschiedet haben. Wir haben immer noch das entsprechende Regelwerk. Ich würde es aber auch gerne sehen, wenn das zielbewusster angewendet würde.

Und wie gelingt das?

Es hat sich gezeigt, dass gemeinsame Regeln alleine nicht reichen, für die nötige Disziplin zu sorgen. Es braucht meiner Erachtens deshalb stärkere Institutionen auf europäischer Ebene, eine Vertiefung der Währungsunion. Die Gretchenfrage ist dann: Was können wir noch tun, ohne den EU-Vertrag zu ändern? Da sehe ich nicht mehr viel Spielraum.

Sie sind aber nach wie vor überzeugt, dass der Euro mehr Nutzen stiftet als Schaden anrichtet, ja? Einige Beobachter argumentieren längst, dass er nur noch Zwist sät.

Ich stehe nach wie vor dazu: Der Euro hat Europa viel gebracht – wirtschaftlich und weit darüber hinaus. Ich kann nur davor warnen, dass wir uns als Europäer auseinander dividieren lassen. Ich bin froh, dass es der politische Wille in nahezu allen Ländern ist zusammenzustehen. Das zeigt auch, wie fest der Zement des Zusammenhalts über die gemeinsame Währung geworden ist. Das erfüllt mich auch mit Zuversicht, dass wir gemeinsam aus dieser Krise herausfinden werden.

In der geldpolitischen Community gibt es eine hitzige Debatte über eine „neue Normalität“. Sind unkonventionelle Instrumente sowie Mini- und Negativzinsen die neue Normalität für Notenbanken?

Nein, wir sind ganz klar im unkonventionellen Bereich. Deswegen sind diese Maßnahmen auch zeitlich befristet. Bei einigen Instrumenten wird sich die Frage stellen, ob sie künftig dauerhaft zum „normalen“ Instrumentenkasten gehören werden. Was unsere Käufe von Staatsanleihen der Euro-Länder betrifft, sehe ich das aber nicht. Vielleicht ergibt sich irgendwann über ein System neuer europäischer Schuldverschreibungen ein neues, permanentes geldpolitisches Instrument für die EZB. Aber so etwas kann ich mir nicht ohne Vertragsänderung vorstellen.

Und was ist mit Negativzinsen?

Auch die sehe ich nicht als auf Dauer gerechtfertigt an. Wir alle haben diese Maßnahmen ergriffen, um so schnell wie möglich wieder zu unserem normalen Instrument zurückzukommen: dem – positiven – Leitzins. Es sind aber Strukturreformen, die uns in ein wirtschaftliches Umfeld ohne negative Realzinsen zurückführen sollten.

Sie glauben also daran, dass wir irgendwann mal wieder Leitzinsen von 3% oder 4% haben werden? Viele Beobachter können sich das kaum noch vorstellen, und die Probleme der Fed mit der Zinswende verstärken solche Eindrücke.

Keine Frage: Wenn wir es nicht schaffen, das Potenzialwachstum zu erhöhen, werden auch die Zinsen nicht dauerhaft steigen können. Deswegen ist es so zentral, dass die Politik und die Wirtschaft die nötigen Anpassungen vornehmen. Nullzinsen sind ganz sicher nicht normal und sollten es auch nicht sein. Und deshalb kommt auch der Diskussion um ein höheres Investitionsaufkommen eine so große Bedeutung zu.

KONTAKT

Europäische Zentralbank

Generaldirektion Kommunikation

Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.

Ansprechpartner für Medienvertreter