European Central Bank - eurosystem
Suchoptionen
Startseite Medien Wissenswertes Forschung und Publikationen Statistiken Geldpolitik Der Euro Zahlungsverkehr und Märkte Karriere
Vorschläge
Sortieren nach

Eine Europäische Agenda 20…

Rede von Jörg Asmussen, Mitglied des Direktoriums der EZB,
auf der WELT-Währungskonferenz "Unsere Währung und die Zukunft Europas" organisiert von DIE WELT in Kooperation mit der Stiftung Familienunternehmen,
Berlin, 21. Mai 2012

Sehr geehrter Herr Eigendorf,

sehr geehrter Herr Prof. Hennerkes,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich freue mich, heute hier im Axel-Springer-Haus anlässlich der diesjährigen WELT-Währungs-konferenz zu Ihnen zu sprechen.

Von Axel Springer stammt der Satz „Berlin ist das Herz Europas, ich kenne kein anderes.“ Zwar würden viele meiner europäischen Kollegen andere Städte und Metropolen als das Herz Europas bezeichnen. Dass ich dennoch mit diesem Zitat beginne, liegt an dem Zeitpunkt, an dem dieser Satz gefallen ist: 1973. Zu dieser Zeit war Berlin eine geteilte Stadt. Symbol für ein geteiltes Europa. Und mitten durch der Eiserne Vorhang. Heute – knapp vierzig Jahre später – ist Berlin als florierende Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschlands wieder mitten im geeinten Europa. Das Einzige, was der florierenden Hauptstadt noch fehlt, ist ein funktionierender Flughafen.

In den letzten 20 Jahren wurde Mittel- und Osteuropa integraler Bestandteil einer Europäischen Union, die über die Jahre immer enger zusammen gewachsen ist. Vor allem mit Blick auf die monetäre Integration in Europa. Heute ist der Euro die gemeinsame Währung für 17 Länder der Europäischen Union, von Estland bis Portugal, von Irland bis Zypern.

Ein Beleg dafür, wie eng Europa zusammen gewachsen ist, liegt nur zwei Wochen zurück. Am 6. Mai haben die Bürger in Griechenland und Frankreich gewählt. Die deutlichen Reaktionen in ganz Europa haben einmal mehr demonstriert, wie nahe nationale und europäische Politiken beieinander liegen – besonders in Krisenzeiten.

Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass viele der großen politischen Herausforderungen eine europäische Antwort benötigen. Die Antwort auf die Krise ist nicht weniger, sondern mehr Europa.

Zentral ist dabei, über ein handlungsfähiges Europa die unbestreitbaren Vorteile einer stabilen gemeinsamen Währung zu sichern. Die aktuelle Situation in Europa – insbesondere in Griechenland – ist schwierig. Allerdings haben wir in den zurückliegenden Jahren einige Erkenntnisse gewonnen, die mich für die weitere Entwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion optimistisch stimmen:

1. Der Euro ist ein Gewinn für Europa und für Deutschland

2. Die Geldpolitik der EZB sorgt für eine stabile Währung im Euroraum

3. Europa ist fähig, sich zu reformieren

Daran möchte ich die Frage anschließen:

4. Wie Europa weiterentwickeln? Was sollte auf die Agenda?

1. Der Euro ist ein Gewinn für Europa und für Deutschland

Die Einführung des Euro in mittlerweile 17 Mitgliedsstaaten hat klare politische und wirtschaftliche Vorteile gebracht. Auch in der Krise profitieren wir Tag für Tag von der gemeinsamen Währung. Lassen sie mich die Fakten noch einmal in aller Kürze zusammenfassen.

Der Euro ist eine stabile Währung.

Seit der Einführung der gemeinsamen Währung lag die Teuerungsrate im Eurogebiet durchschnittlich bei 2%. In Deutschland lag sie seit 1999 im Übrigen bei 1,6%. Dieses Ergebnis wurde über einen vergleichbaren Zeitraum in den 50 Jahren mit der D-Mark nicht erreicht. Das Vertrauen in die Währung spiegelt sich auch darin, dass die Inflationserwartungen im Euroraum stabil und im Einklang mit den Vorstellungen der EZB von Preisstabilität sind. Das heißt auf mittlere Sicht unter, aber nahe an 2%. Außerdem hat sich der Euro als zweite wichtige internationale Reservewährung neben dem US-Dollar etabliert. Er ist heute in seiner internationalen Bedeutung wichtiger als es die Summe der Altwährungen früher war.

Der Euro hat die wirtschaftliche Integration in Europa unterstützt

Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung ist das Wechselkursrisiko beim grenzüberschreitenden Handel innerhalb des Euroraums weggefallen. Unternehmen und Private müssen sich nicht mehr gegen dieses Risiko absichern. Schätzungen über den Beitrag der gemeinsamen europäischen Währung zum innereuropäischen Handel schwanken zwischen 5% und 20% beim Zuwachs des Handelsvolumens. Selbst wenn man von vorsichtigen Schätzungen ausgeht, ist diese Steigerung bemerkenswert. Die Belebung des innereuropäischen Handels hat sich vor allem für Deutschland bemerkbar gemacht. So stiegen etwa in den ersten zehn Jahren der Währungsunion die realen Exporte deutscher Unternehmer in andere Länder des Währungsraums von rund 13% auf 20% des deutschen Bruttoinlandsprodukts.

Der Euro ist ein Stabilitätsanker in der Krise

Ohne den Euro wäre es im europäischen Währungsgefüge während der Krise zu starken Wechselkursschwankungen gekommen. In der Vergangenheit werteten die europäischen Handelspartner Deutschlands zum Erhalt ihrer preislichen Wettbewerbsfähigkeit wiederholt ihre Währungen ab. Zum Beispiel erhöhte sich der Außenwert der D-Mark gegenüber der italienischen Lira während der Ölkrise der 1970er Jahre innerhalb von nur 5 Jahren um 50%. Erfahrungen haben gezeigt, dass solche Schwankungen regelmäßig hohe realwirtschaftliche Anpassungskosten nach sich ziehen. Werfen Sie nur einen Blick auf die Schweiz, die derzeit mit einer starken Aufwertung des Schweizer Franken kämpfen muss.

Damit möchte ich auf die Institution zu sprechen kommen, die untrennbar mit dem Erfolg des Euro verbunden ist: die EZB.

2. Die Geldpolitik der EZB sorgt für eine stabile Währung im Euroraum

Die EZB hat in dieser Krise entschlossen gehandelt, um die Preisstabilität im Eurogebiet gemäß ihrem Mandat und in voller Unabhängigkeit zu gewährleisten. So war die EZB am 9. August 2007 die erste Zentralbank weltweit, die auf die entstehenden Turbulenzen an den Finanzmärkten entschieden reagiert hat.

Allerdings verschlechterte sich die Situation an den Finanzmärkten im Laufe des Jahres 2008 so dramatisch, dass die Transmission der Geldpolitik stark gestört wurde. Zentralbanken in der ganzen Welt sahen sich wiederholt mit der Situation konfrontiert, dass die Liquidität in den kurz- und längerfristigen Geldmärkten auszutrocknen drohte. Damit stieß auch die konventionelle Geldpolitik des Eurosystems an die Grenzen ihrer Wirkung. In dieser außergewöhnlichen Situation ergriff die EZB eine Reihe von geldpolitischen „Sondermaßnahmen“. Hierunter fallen vor allem die Refinanzierungsgeschäfte mit vollständiger Zuteilung gegen Sicherheiten, Refinanzierungsgeschäfte mit längerer Laufzeit sowie die Erweiterung des Katalogs der als Sicherheiten zugelassenen Wertpapiere. All diese Sondermaßnahmen sind zeitlich befristet und ein Ausstieg ist prinzipiell jederzeit möglich, wenn wir Aufwärtsrisiken für die Preisstabilität sehen.

In Deutschland gerieten insbesondere die beiden 3-Jahresrefinanzierungsgeschäfte der EZB in die Schlagzeilen.

Zielsetzung dieser Operationen war es, die Refinanzierung des Bankensystems auf längere Zeit sicher zu stellen, um so den Kreditfluss von den Banken in die Realwirtschaft zu unterstützen. Die Nachfrage seitens der Banken war groß: An der ersten Operation im Dezember 2011 nahmen rund 500 Institute teil. Bei gewöhnlichen Langfristoperationen sind es um die 100. Bei der zweiten Operation im März 2012 waren es rund 800 Institute, darunter auch viele kleine Institute, mehr als die Hälfte davon aus Deutschland: diese Banken vergeben häufig Kredite an Mittelständler, die das Rückgrat von Wachstum und Beschäftigung im Euroraum bilden.

Im Rahmen dieser beiden Operationen hat das Eurosystem je rund eine halbe Billion Euro verliehen, wobei der Nettozufluss von Liquidität nur ungefähr halb so groß war. Das sind große Beträge. Ich bitte Sie aber Folgendes zu beachten:

Erstens – der Zinssatz dieser beiden Operationen ist an den Hauptrefinanzierungssatz der EZB gekoppelt. Wenn die EZB ihren Zinssatz erhöht, steigen auch die Kosten für die Finanzinstitute über den Rest der Laufzeit.

Zweitens ist die EZB in der Lage, diese Liquidität jederzeit durch sogenannte liquiditätsabsorbierende Instrumente wieder abzuschöpfen. Hinzu kommt, dass die Institute die Liquidität nach einem Jahr auch vorzeitig an die EZB zurückzahlen können.

Trotzdem fürchten einige, dass angesichts der großzügigen Zentralbankliquidität eine erhebliche Geldentwertung bevorsteht. Lassen Sie mich an dieser Stelle betonen, dass zur Beurteilung der Liquiditätssituation in der Wirtschaft nicht die Bilanz der Zentralbank sondern die aggregierte Bilanz des Bankensektors im Eurogebiet herangezogen werden sollte. EZB-Liquidität ist eine sehr spezielle Form von Geld. Sie kann zunächst einmal lediglich dazu genutzt werden, um Zahlungen zwischen Banken mit Konten bei der EZB abzuwickeln oder um Mindestreserveverpflichtungen zu erfüllen.

Es existiert kein automatischer Mechanismus, der diese Liquidität in Kredite oder Aktiva-Käufe umsetzt. Kredit- oder Kaufentscheidungen werden von den Banken selbstständig getroffen, abhängig von ihrer Finanzsituation, ihrer Risikoaversion und der Kreditnachfrage von Realwirtschaft und Privathaushalten. So sehen wir auch, dass die Inflationserwartungen im Euroraum nach wie vor den 3-Jahresoperationen stabil sind.

Wahr ist allerdings, dass alle Zentralbank-Geschäfte ein Kreditrisiko bergen. Dies gilt für Standard- und Sondermaßnahmen, in wirtschaftlich guten wie in schlechten Zeiten. Deshalb ist jedes Zentralbankgeschäft durch Sicherheiten gedeckt. Die Qualität dieser Sicherheiten wird von unserem internen Risikomanagement ständig neu und sehr vorsichtig bewertet. Es werden großzügige Abschläge vorgenommen und die Kreditsumme somit übersichert. Bei den zuletzt neu als Sicherheit zugelassenen Kreditforderungen liegt der Abschlag durchschnittlich bei 53%, in Einzelfällen sogar bei bis zu 75%.

Wahr ist auch, dass die Sondermaßnahmen zu einer Zunahme der mittlerweile viel diskutierten TARGET2-Salden bei manchen nationalen Zentralbanken des Eurosystems geführt haben. So auch bei der Deutschen Bundesbank. Der TARGET2-Nettosaldo der Deutschen Bundesbank gegenüber der EZB betrug im April 644 Milliarden Euro. Anders als manchmal behauptet, sind die TARGET2-Ungleichgewichte aber kein Indikator für das Abfließen von dringend benötigten Mitteln aus Ländern wie Deutschland. Im Gegenteil: bei den Banken Deutschlands steht überschüssige Liquidität zur Verfügung. Missverständnisse können hier also zu falschen Schlussfolgerungen führen. So wurde beispielsweise vorgeschlagen, die TARGET2-Salden nach oben hin zu deckeln. Dies würde jedoch bedeuten, dass der in den Europäischen Verträgen garantierte freie Kapitelverkehr zwischen den Banken innerhalb der Eurozone zum Erliegen käme.

Die TARGET2-Salden sind ein Symptom und zeigen vielmehr, dass der Interbankenmarkt nicht wie in der Zeit vor August 2007 reibungslos funktioniert und dass die Zentralbanken des Eurosystems dafür sorgen müssen, dass die Liquidität auch dort ankommt, wo die Geldmärkte beeinträchtigt sind.

In dysfunktionalen Geldmärkten wäre es für die EZB nicht möglich, ihre Geldpolitik erfolgreich durchzusetzen. Durch ihre Interventionen in den Geld- und geldnahen Finanzmärkten hat die EZB – völlig im Einklang mit ihrem Mandat – auch eine aktive und erfolgreiche Rolle bei der Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise im Euroraum gespielt. So konnten Auf- und Abwärtsrisiken für die Preisstabilität jederzeit adäquat eingedämmt werden.

Mit dieser Feststellung möchte ich mich der Rolle der Regierungen und der Politik in der aktuellen Krise zuwenden. Die Krise hat eine Reihe von Schwächen im Rahmenwerk der wirtschaftspolitischen Steuerung der Eurozone aufgedeckt.

3. Europa ist fähig, sich zu reformieren

  • Europa hat seit Ausbruch der Finanzkrise unter Beweis gestellt, dass es fähig ist, sich zu reformieren und seine Handlungsfähigkeit zu erhöhen:

  • Mit dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (englisch kurz ESRB) und den drei europäischen Finanzaufsichtsbehörden ist eine neue Finanzaufsichtsarchitektur geschaffen worden. So wird der Notwendigkeit einer makro- und mikroprudentiellen Aufsicht auf europäischer Ebene Rechnung getragen.

  • Der Stabilitäts- und Wachstumspakt wurde gestärkt und innerhalb sehr kurzer Zeit ein Fiskalpakt vereinbart. Es ist jetzt wichtig, den Fiskalpakt unverändert mindestens in allen Staaten des Eurogebiets rasch umzusetzen.

  • Es wurde ein Verfahren eingeführt, um makroökonomische Ungleichgewichte früher zu erkennen und zurückzuführen.

  • Die Einigung auf den ESM, seine Aufstockung und sein vorzeitiges Inkrafttreten werden die Handlungsfähigkeit des europäischen Krisenmanagements weiter verbessern. Der ESM muss dringend zum 1. Juli einsatzfähig sein.

Der Fiskalpakt kann durch wachstumsfördernde Maßnahmen ergänzt werden. Das ist sinnvoll als Ergänzung, aber der Fiskalpakt darf nicht neu verhandelt oder aufgeweicht werden.

Die Diskussion Haushaltskonsolidierung versus Wachstum ist eine falsche Debatte. Wir brauchen beides. Wenn es jetzt eine Diskussion um mehr Wachstum gibt, dann ist das keine Abkehr von der bisherigen fiskalpolitischen Strategie. Es geht nicht darum, das Wachstum in den nächsten ein bis zwei Quartalen mit Hilfe von kreditfinanzierten Ausgabeprogrammen aufzublähen. Es geht darum, das Potentialwachstum zu steigern. Niemand ist gegen Wachstum. Entscheidend ist es aber die nicht so einfache Frage zu beantworten, wie man in alternden Gesellschaften das Potentialwachstum erhöht.

Ich denke, der Fiskalpakt kann durch ein Wachstumspaket ergänzt werden, das aus drei Komponenten besteht:

  • Reformen auf Produkt- und Gütermärkten

  • Reformen auf Arbeitsmärkten

  • Finanzierung von Reformen

Die Reform auf Produkt- und Gütermärkten könnte z. B. die Vollendung des Binnenmarktes für Dienstleistungen umfassen. 70 % des BIP der EU bestehen aus Dienstleistungen, aber nur 20 % werden grenzüberschreitend erbracht.

Die Reform der Arbeitsmärkte könnte von der Agenda 2010 in Deutschland inspiriert werden. Insbesondere die Mobilität der Arbeitskräfte in der Währungsunion sind zu erhöhen (man erinnere sich: in der Theorie setzt ein optimaler Währungsraum die vollständige Mobilität des Faktors Arbeit voraus). Die Mobilität könnte erhöht werden durch: verbesserte Anerkennung von Bildungsabschlüssen innerhalb Europas, verbesserte Portabilität der Altersversorgung, Sprachkurse und ein europäisches Netzwerk der Arbeitsvermittlung.

Die Finanzierung der Reformen könnte erfolgen über Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB) oder EIB-Projektbonds (diese sind nicht gleichzusetzen mit Eurobonds). Die Voraussetzung aber sind sinnvolle Projekte. Es gibt in weiten Teilen Europas keinen flächendeckenden Mangel an klassischer Infrastruktur, aber es fehlt vielerorts moderne digitale Infrastruktur. Man könnte auch vorhandene Struktur- und Regionalfondsmittel der EU umwidmen.

Diese wachstumsfördernden Maßnahmen werden nur Wirkung zeigen, wenn eine kritische Masse von Elementen umgesetzt wird. Die Form der Wachstumselemente ist nicht so wichtig.

Zur Erinnerung: der Fiskalpakt ist von 25 Ländern unterzeichnet. Um die EIB oder den EU-Haushalt zu nutzen, braucht man alle 27 Mitgliedstaaten. Das bedeutet, die Form des Fiskalpaktes ist nicht einfach durch einen vergleichbaren Wachstumspakt zu wiederholen.

Die Erfolge solcher wachstumsfördernder Maßnahmen werden sich erst nach einiger Zeit einstellen. In der Zwischenzeit halte ich persönlich den Einsatz von aktiver Arbeitsmarktpolitik für notwendig, damit die sozialen Spannungen nicht zu groß werden. Die Jugendarbeitslosigkeit im Euroraum lag im März 2012 bei 22 %.

4. Wie Europa weiterentwickeln? Was sollte auf die Agenda?

Sie kennen das berühmte Zitat von Jacques Delors: „Europa ist wie ein Fahrrad. Hält man es an, fällt es um.“

Aber die europäische Integration ist kein Selbstzweck. Sie muss für den Bürger von Nutzen sein, sie muss ihm Wohlstand Sicherheit und Freiheit bieten.

Die europäische Integration war in Deutschland bisher weitgehend ein Projekt der Eilten: der politischen, wirtschaftlichen und akademischen. Unsere Verfassung sieht keine direkten Volksentscheide vor, folglich sagen viele Menschen heute: „Dazu hat man mich gar nicht gefragt.“ Das ist umso bedeutsamer, da eine Währungsunion faktisch in Teilen auch eine politische Union ist.

Daher schlage ich vor, jetzt eine offene politische Debatte zu führen: Wie soll Europa in 10 Jahren aussehen? Dabei stehen wir vor einem Trilemma, das Martin Höppner, Armin Schaefer und Hubert Zimmermann in der FAZ am 27. April gut beschrieben haben: „Erweiterung, Vertiefung und Demokratie – das Trilemma der europäischen Integration“. Von den drei Zielen der EU lassen sich stets nur zwei gleichzeitig erreichen, auf Kosten des jeweils dritten Ziels.

Meine Wahl wäre dabei die Vertiefung (des Eurogebiets) und die Demokratie. Andere mögen andere Vorstellungen haben. Darüber kann und darüber muss man streiten.

Die Vorteile der Währungsunion sind so überragend, dass man sie durch eine Vertiefung stabilisieren sollte. Das bedeutet eine Fiskalunion und eine Finanzmarktunion (Banking Union) sowie eine demokratisch legitimierte politische Union.

Meine ersten Ideen hierzu sind:

i) Im Bereich der Finanzmarktunion steht Europa vor zwei zentralen Herausforderungen:

Erstens hat die starke finanzielle Verschränkung zwischen Bankensektoren und Staatsfinanzen in einem Umfeld von Wachstumsverlangsamung oft zu einer Abwärtsspirale geführt. Eine kaum wachsende Wirtschaft oder Rezession hat Auswirkungen auf die Haushaltslage und, in der Folge, auch auf die Kurs- und Renditeentwicklung der betreffenden Staatsanleihen, die sich zu einem großen Teil in den Bilanzen der Banken befinden. Zugleich verschlechtern sich die Rahmenbedingungen für die Banken. All dies führt zu den bereits erwähnten Liquiditätsengpässen auf den Interbankenmärkten. Diese können wiederum Solvenzprobleme verursachen. Durch den Vertrauensverlust gibt es aber immer weniger Privatanleger, die bereit sind, den Banken das nötige Kapital zu geben. Gleichzeitig hat der Staat inzwischen immer weniger Spielraum, selber die Rekapitalisierung oder Restrukturiering der Banken voranzutreiben – und somit dreht sich die Spirale weiter nach unten.

Zweitens leiden die europäische Finanzmarktregulierung und das Krisenmanagement unter einem potentiellen Interessenkonflikt. Während die nationalen Aufsichtsbehörden das Funktionieren des gemeinsamen europäischen Finanzmarktes gewährleisten sollen, sind sie politisch letztendlich gegenüber ihrem heimischen Steuerzahler verantwortlich. Eine nationale Aufsichtsbehörde wird deshalb im Ernstfall geneigt sein, das Interesse des eigenen Steuerzahlers über das reibungslose Funktionieren des gemeinsamen Finanzmarkts zu stellen.

Um in einer möglichen zukünftigen Krise besser gewappnet zu sein, muss daher die finanzielle Verschränkung zwischen Bankensektoren und Staatsfinanzen gelockert, sowie der Interessenkonflikt zwischen nationalem Krisenmanagement und europäischem Regelwerk ausgeräumt werden. Dazu muss zunächst die Arbeit an einem europaweit einheitlichen Regulierungsrahmen abgeschlossen werden; insbesondere für die europaweiten Eigenkapitalvorschriften. Nach der Einigung der Finanzminister zur CRD IV vom 15. Mai sind wir einer Lösung in dieser Frage ein Stück näher gekommen.

Zur Finanzmarktunion gehören weiter eine gemeinsame Finanzmarktaufsicht für systemrelevante, grenzüberschreitend tätige Finanzinstitute im Eurogebiet sowie eine Abwicklungseinrichtung für die gleichen Finanzinstitute.

ii) Zur Fiskalunion: bisher ist die Geldpolitik zentralisiert. Die Fiskalunion ist dezentral in den 17 Mitgliedstaaten organisiert, koordiniert durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Wir müssen die Fiskalpolitik derart ausrichten, dass sie den Stabilitätserfordernissen einer Währungsunion genügt. Das betrifft die Ausrichtung der Institutionen wie auch die inhaltliche Ausgestaltung der Fiskalpolitik. Ein erster Schritt wird hier durch den ESM getan, weiter folgen könnte ein Sonderfonds des EU-Haushalts für das Eurogebiet.

iii) Zur politischen Union: hier möchte ich mich weniger auf die Exekutive fokussieren, sondern auf die demokratische Legitimation. Das Krisenmanagement der letzten zwei Jahre war rein intergouvernemental organisiert. Das war richtig, um schnell handeln zu können, aber jetzt ist es an der Zeit, das Europäische Parlament zu stärken. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seinen Urteilsbegründungen im Kern, das Europäische Parlament sei kein „richtiges“ Parlament, da ihm das Initiativrecht fehle. Das könnte man ändern. Weiter ist immer der Vorwurf zu hören, das Europäische Parlament sei ein reines Ausgabenparlament. Üblicherweise geht man mit Ausgaben vorsichtiger um, wenn man auch Verantwortung dafür trägt, die notwendigen Einnahmen dafür zu besorgen. Das könnte schrittweise für das Europäische Parlament erfolgen, z. B. könnte eine Finanztransaktionssteuer die bereits erwähnten Sonderfonds neben dem EU-Haushalt füllen, wenn diese Steuer allein im Eurogebiet erhoben wird. Eine weitere Idee, die schnell und praktisch umsetzbar ist, ist, dass der Wirtschafts- und Finanzausschuss des Europäischen Parlaments in der Zusammensetzung seiner Mitglieder aus den Ländern des Eurogebiets tagt.

Das sind erste Ideen, und ich denke eine offene Diskussion, darüber wo Europa in 10 Jahren stehen soll, wäre lohnend.

Herzlichen Dank!

KONTAKT

Europäische Zentralbank

Generaldirektion Kommunikation

Nachdruck nur mit Quellenangabe gestattet.

Ansprechpartner für Medienvertreter