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Die globale Finanzkrise: Herausforderungen für die Europäische Zentralbank jetzt und in der Zukunft

Rede von Prof. Dr. Jürgen Stark, Mitglied des Direktoriums der EZB,
anlässlich der Erich Schneider Gedächtnisvorlesung,
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel,
26. Januar 2011

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte den Veranstaltern dieser Vorlesung recht herzlich für die Einladung danken und freue mich über die Möglichkeit zu den Herausforderungen, denen sich die Europäische Zentralbank gegenwärtig gegenübersieht, Stellung zu nehmen. Dass dies im Rahmen der Erich Schneider Gedächtnisvorlesung geschieht, ist für mich eine besondere Ehre. Erich Schneider hat mit seinem Werk das Denken vieler Generationen von Ökonomen beeinflusst und die wirtschaftspolitische Debatte nachhaltig geprägt. Mein Einstieg in das wirtschaftswissenschaftliche Studium war unter anderem durch ein „Schneider-Seminar“ geprägt. Schneider’s „Einführung in die Wirtschaftstheorie“ – damals die 12. Auflage – war Pflicht.

I. Einleitung

Die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik steht auch in Europa momentan im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion. Im Kern geht es darum, wie Länder einer Währungsraums ihre nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitiken aufeinander abzustimmen haben, um die langfristige Stabilität der Währungsunion zu wahren. Entstanden ist die Debatte, weil wir im vergangenen Jahr die Folgen verfehlter Wirtschafts- und Fiskalpolitik schmerzhaft vor Augen geführt bekommen haben. Europas Finanzmärkte sind von schweren Unruhen getrieben worden, weil Zweifel über die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte einiger Euroraum-Länder in Panikverkäufen von Staatstiteln mündeten. Was wir erleben, war also keine Krise des Euro, sondern eine Krise der Staatsfinanzen einzelner Länder und Ausdruck makroökonomischer Ungleichgewichte, die im Laufe der vergangenen Jahre im Euroraum entstanden sind. Diese Ungleichgewichte, einschließlich der hohen Staatsverschuldung, sind nicht nur ein Problem der Euroländer. Fast alle fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben mit hohen Haushaltsdefiziten und Staatsschulden zu kämpfen.

Interessanterweise ist ein Anstieg der Risikoprämien auf Staatstitel im Eurogebiet, wie wir sie im Sommer vergangenen Jahres erlebt haben, auch Ausdruck einer glaubwürdigen und stabilitätsorientierten Geldpolitik. Der Grund ist verblüffend einfach. Massive Verkäufe von Staatsanleihen von Ländern mit vermeintlich geringerer Kreditwürdigkeit reflektieren auch, dass Investoren die Monetisierung der Staatsschulden durch die Zentralbank ausschließen. Denn wenn Investoren Zweifel an der politischen Unabhängigkeit einer Zentralbank hegen, können notwendige Korrekturen an den Finanzmärkten ausbleiben. Doch diese Zweifel sind zu Recht nicht entstanden. Sie sind nicht entstanden, weil die Europäische Zentralbank aus gutem Grunde und dank ihrer geldpolitischen Verfassung nur dem Mandat der Preisstabilität im Euroraum verpflichtet ist. Deshalb kann die Antwort auf die Probleme, denen wir uns momentan in Europa gegenüber sehen, nur über Anpassungen in der Wirtschafts- und Fiskalpolitik erfolgen. Die öffentlichen Haushalte müssen konsolidiert und Ungleichgewichte im Euroraum minimiert werden.

Ursache der tatsächlich bestehenden Ungleichgewichte sind dabei nicht zwangsläufig Divergenzen zwischen den Ländern einer Währungsunion. Bereits zu Beginn der Währungsunion war zu erwarten, dass sich die Mitgliedsländer in verschiedenen Aspekten unterscheiden würden: hinsichtlich ihres Konjunkturverlaufs, den strukturellen Merkmalen ihrer Güter- und Produktmärkte und auch hinsichtlich der Fremdeinflüsse denen sie ausgesetzt sind. Folglich war auch damit zu rechnen, dass wir im Laufe der Zeit unterschiedliche Wachstums- und Inflationsraten innerhalb der Währungsunion beobachten würden.

Mit anderen Worten, niemand gab sich der Illusion hin, dass die Kriterien des optimalen Währungsraums, welche von Robert Mundell in den 60er Jahren entwickelt und in der Folgezeit weiter verfeinert worden waren, vollständig erfüllt sein würden. Die „Optimum Currency Area“ ist ein theoretisches Konstrukt, dessen Kriterien übrigens auch in den USA nicht voll erfüllt werden.

Divergenzen zwischen den Mitgliedsländern im Hinblick auf die realwirtschaftliche Dynamik und Unterschiede in den Teuerungsraten waren von Anfang an ein Merkmal der Europäischen Währungsunion. Das Ausmaß dieser Divergenzen ist im Übrigen nicht außergewöhnlich. Statistisch gesehen – gemäß Standardabweichung in Prozentpunkten – hat sich im Kontext der Krise die Streuung auf über zwei Prozentpunkte, gegenüber 1,5-1,7 Prozentpunkten vor der Krise, erhöht. Wir erwarten, dass sich dies wieder zurückentwickelt. Auf Basis dieser Messgröße waren im Übrigen die realwirtschaftlichen Divergenzen im Durchschnitt der vergangenen 10 Jahre im Eurogebiet geringer als im gleichen Zeitraum in den USA.

Also: Ein gewisses Maß an Divergenz in einem großen Währungsraum ist normal. Es stellt für die gemeinsame Geldpolitik weder ein Problem noch ein Dilemma dar. Es kann kurzfristige Abweichungen oder auch gleichgewichtige Aufholprozesse zwischen Ländern mit verschiedenen ökonomischen Ausgangsbedingungen widerspiegeln. Bedenklich wird es jedoch dann, wenn Länder über längere Zeit hinweg schneller wachsen, als durch nachhaltige angebotsseitige Entwicklungen gerechtfertigt wäre. Die damit verbundene wirtschaftliche Überhitzung schlägt sich in der Regel in starken Lohn- und Preissteigerungen nieder, die über denen in anderen Ländern des Euro-Währungsgebiets liegen und somit über die Zeit zu einer zunehmenden Erosion der Wettbewerbsfähigkeit führen.

Die zurzeit beobachtbaren Divergenzen sind Spiegelbild nicht durchhaltbaren Wachstums in einer Anzahl von Ländern vor der Krise. Sie entsprechen einem Prozess der unvermeidbar ist, um auf nationaler Ebene wirtschaftliche Ungleichgewichte abzubauen.

Ein wichtiger Indikator für diesen Wettbewerbsverlust ist z.B. die Entwicklung der Lohnstückkosten, die in manchen Fällen einen starken Lohnanstieg im Verhältnis zu einem ausgesprochen schwachem Produktivitätswachstum erkennen lassen. Etwas vereinfachend gesagt, beobachten wir, dass diejenigen Mitgliedsländer, die durch überdurchschnittlich hohe Inflationsraten charakterisiert sind, in der Regel auch eine vergleichsweise hohe Zunahme der Lohnstückkosten sowie eine vergleichsweise expansive Lohnentwicklung im öffentlichen Sektor zu verzeichnen hatten.

Ich greife bewusst diese beiden Indikatoren heraus, um den Zusammenhang mit den beiden in der wirtschaftspolitischen Debatte oft parallel diskutierten „Defiziten“ plausibel zu machen: so steht zum einen die Lohnstückkostenentwicklung – als Indikator für die Wettbewerbsfähigkeit – in einem Zusammenhang mit zum Teil besorgniserregenden Verschlechterungen in der Leistungsbilanz. Und die Lohnentwicklung im öffentlichen Sektor steht vielfach in einem Zusammenhang mit strukturellen Verschlechterungen bei den Defiziten der öffentlichen Haushalte.

Hinzu kommt, dass in einigen Ländern diese Ungleichgewichte durch exzessive Immobilienpreisentwicklungen sowie die darauf aufbauende, nicht nachhaltige Kreditexpansion verschärft wurde. Der damit verbundene hohe und ebenfalls häufig schuldenfinanzierte private Verbrauch hat zusätzlich zu der Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit auch zu der Entstehung eines Außenhandels- bzw. Leistungsbilanzdefizit beigetragen.

Die Probleme, denen wir uns heute gegenüber stehen, sind also nicht plötzlich aufgetreten. Vielmehr haben sie sich über lange Zeit allmählich aufgebaut. Viele Warnsignale, die auf die Entstehung und die Konsequenzen solcher Ungleichgewichte hingedeutet hatten, sind sträflich unbeachtet geblieben. Eine Reihe von Ländern kämpft nun schon seit vielen Jahren – teilweise seit Einführung des Euro – mit anhaltenden Abweichungen der Inflation im Inland von der durchschnittlichen Inflationsentwicklung im Euroraum.

Gerade die Euroländer, die sich heute in einer kritischen Phase befinden, haben sich unzureichend an die Bedingungen der Wirtschafts- und Währungsunion angepasst. Sie haben von den sehr niedrigen Zinsen des Eurogebietes profitiert. Aber sie sind ihren Verpflichtungen auf den Gebieten der Wirtschafts- und Fiskalpolitik nicht nachgekommen. Sie haben dem Immobilienpreisboom nicht gegengesteuert und – wie im Fall Irland – eine Überdehnung des Finanzsektors gefördert.

Die jetzt erforderlichen Korrekturen mögen schmerzhaft sein, aber sie werden den Ländern, welche an den Folgen des früheren Immobilienbooms und der Überschuldung zu leiden haben, helfen, sich wirtschaftlich wieder zu erholen. Die erforderlichen Maßnahmen umfassen erstens eine glaubwürdige Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, zweitens Strukturreformen zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung und zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit, und drittens einen Abbau privater Schulden.

Die Anpassungslast liegt also vor allem bei den so genannten Defizitländern, also solchen Ländern, die Wettbewerbsfähigkeit verloren haben und durch anhaltende Leistungsbilanzdefizite und oft hohe öffentliche und private Verschuldung gekennzeichnet sind. Zwar schützt der Euro vor Währungskrisen. Aber mit dem Euro besteht nicht mehr die Möglichkeit der Abwertung der heimischen Währung. Dies ist ein Mittel, zu dem in der Vergangenheit nicht selten gegriffen worden war, um die Wettbewerbsfähigkeit temporär wiederherzustellen.

In einer Währungsunion kann Wettbewerbsfähigkeit nur durch anhaltende Phasen der Anpassung der relativen Preise zurückgewonnen werden. Zusätzlich können Strukturreformen Produktivitätszuwächse begünstigen und dadurch zu einer Senkung der Lohnstückkosten beitragen. Die damit verbundene Stärkung des Potentialwachstums kann wiederum eine Rückführung überhöhter Schuldenstände vereinfachen.

Aber auch Überschussländer haben eine Verpflichtung in einer Währungsunion. Um dauerhaft wettbewerbsfähig zu bleiben, sind ständige Anpassungen notwendig. So ist zwar die Leistungsbilanz des Euroraums insgesamt in etwa ausgeglichen. Aber dies wird nur so bleiben können, wenn alle Länder des Euroraums sich der Herausforderung stellen, mit ihren je spezifischen komparativen Vorteilen auf globaler Ebene konkurrenzfähig zu bleiben. Die von der Globalisierung ausgehenden Herausforderungen für Europa – die Dynamik in Ländern wie China und Indien, aber auch vereinzelt in Südamerika, mag als Stichwort ausreichen – wären in diesem Kontext ein Thema für sich, auf das ich heute jedoch nicht näher eingehen kann.

Es liegt also in der Natur der Sache, dass die einheitliche Geldpolitik in der Verantwortung der Europäischen Zentralbank bei diesen notwendigen Korrekturen nur einen indirekten Beitrag leisten kann. Dieser besteht darin, die durchschnittliche Inflationsrate für den gesamten Euroraum auch in der Zukunft verlässlich auf dem Niveau zu verankern, das unserer Definition von Preisstabilität entspricht, also bei unter 2%. Glaubwürdige Geldpolitik in einer Währungsunion souveräner Mitgliedsstaaten muss den stabilen nominalen Anker liefern, der die Voraussetzungen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum schafft. Dies gilt insbesondere dann, wenn ihre Mitgliedsländer mit vielfältigen strukturellen Herausforderungen konfrontiert sind.

Zusätzlich zu diesen Korrekturen müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass ein erneuter Aufbau von Ungleichgewichten verhindert wird. Dies lässt sich nicht ohne institutionelle Reformen auf europäischer Ebene bewältigen. Ich werde später in meinen Ausführungen auf diesen Punkt eingehen. Aber im Kern geht es darum, den Rahmen zur Koordinierung längst überfälliger Strukturreformen und zur Sicherung solider Staatsfinanzen grundlegend zu überarbeiten und zu stärken. Statt weiter zu leugnen, dass die Mitgliedschaft in einer Währungsunion auch die Souveränität der nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitik einschränkt, müssen alle Euromitgliedsstaaten die Realität des Euro akzeptieren.

Bevor ich jedoch genauer auf die Herausforderungen und die Anforderungen an die Geldpolitik, sowie an die zukünftige Wirtschafts- und Fiskalpolitik eingehe, möchte ich einen kurzen Blick auf die Geschehnisse der vergangenen, mittlerweile dreieinhalb Jahre seit dem Ausbruch der Finanzkrise werfen. Natürlich richtet sich mein Fokus dabei auf die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank.

II. Die Geldpolitik der EZB während der Krise

Die Ursachen der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise sind schon vielfach erörtert worden. Lassen Sie mich die wichtigsten Punkte kurz zusammenfassen. Im Kern ist die noch immer gegenwärtige Finanzkrise das Produkt aus Markt- und Staatsversagen. Das Finanzsystem – der Markt – war geprägt von mangelnder Transparenz, übersteigerter Komplexität, einem ungenügenden Risikomanagement und einer zügellosen Risikobereitschaft. Entfalten konnten sich diese Entwicklungen jedoch erst durch eine unzureichende Regulierung und Aufsicht der Finanzmarktakteure auf Seiten des Staates.

Hinzu kam, dass die damit verbundenen Spekulations- und Verschuldungsexzesse durch eine weltweit stark expansive Geldpolitik begünstigt wurden. Das Ergebnis ist bekannt. Die Jahre vor dem Ausbruch der Finanzkrise waren durch spektakuläre Anstiege von Vermögenswerten in vielen Ländern geprägt, verbunden mit einer beträchtlichen Ausweitung der Verschuldung privater Haushalte. Gleichzeitig entwickelten sich massive globale makroökonomische Ungleichgewichte in Form hoher Leistungsbilanzdefizite in einigen Industrieländern und entsprechend hoher Leistungsbilanzüberschüsse in vielen Schwellenländern.

Im August 2007 platzte dann diese Blase. Kreditausfälle im Subprime-Segment des US-Hypothekenmarkts führten zuerst zu einer allgemeinen Vertrauenskrise auf den Finanzmärkten, im Herbst 2008 zu einem beinahe völligen Zusammenbruch des globalen Finanzsystems und zu einer Rezession der Weltwirtschaft. Gegen Ende des Jahres 2008 kollabierte der Welthandel und die Wirtschaftsleistung im Eurogebiet sank 2009 um 4%, in Deutschland sogar um fast 5%.

Die Verwerfungen an den Finanzmärkten hätten jedoch noch ungleich schlimmer ausfallen können, wenn die Zentralbanken und Regierungen weltweit nicht vom Ausbruch der Krise an entschiedenes Krisenmanagement betrieben hätten.

Die Europäische Zentralbank reagierte sofort – noch am 9. August 2007 – auf die plötzlich auftretenden Spannungen in den Geldmärkten. Seitdem hat das Eurosystem die Stabilität am Interbankenmarkt mit umfangreicher Liquiditätszufuhr unterstützt. Die EZB senkte innerhalb von nur 7 Monaten den Leitzins um 325 Basispunkte auf ein Niveau von nur 1% und weitere wichtige Maßnahmen wurden in den vergangenen dreieinhalb Jahren ergriffen – Maßnahmen auf die ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen kann.

Die Regierungen haben durch die „Bankenrettungsschirme“ und konjunkturstimulierende Maßnahmen ihren Beitrag geleistet.

Diese Maßnahmen erwiesen sich als ein wesentlicher Faktor, der die Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeiten von Banken im Eurogebiet ermöglichte. Sie trugen damit auch entscheidend zu der wirtschaftlichen Erholung bei.

Anders als in der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts haben Zentralbanken und Regierungen entschlossen gehandelt. Es wurden zum einen Lehren aus der damaligen Krise gezogen, zum anderen standen nunmehr zusätzliche geld- und wirtschaftspolitische Instrumente zur Verfügung. Zur Zeit der „Großen Depression“ hinderte die Goldbindung die politisch Verantwortlichen daran, der Bankenkrise zu begegnen und den Rückgang von Geldmenge und Krediten – und somit den realwirtschaftlichen Einbruch – abzuwenden. Erst durch das Abstreifen dieser „goldenen Fesseln“ (Barry Eichengreen), der Aufgabe der Goldbindung, konnten Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise ergriffen werden. Dies führte in den 1930er Jahren jedoch zu einem vollständigen Zusammenbruch der internationalen Währungsordnung, verbunden mit Abwertungswettläufen, Protektionismus und Devisenbewirtschaftung.

Aber auch die seit 2007 von Zentralbanken und Regierungen ergriffenen Maßnahmen haben ihren Preis. Die Zentralbanken haben ihre Bilanzen beträchtlich ausgeweitet – zum Teil mehr als verdoppelt und damit auch zusätzliche Risiken übernommen. Die Regierungen fortgeschrittener Volkswirtschaften sind mit einer Explosion der Staatsschulden konfrontiert, was in einigen Ländern sowohl zur Krisenverschärfung als auch Krisenverlängerung geführt hat. Die Rücknahme all dieser Maßnahmen ist daher ständig zu prüfen.

Die Dimension des Einschreitens von Zentralbanken und Regierungen ist nur durch die außergewöhnliche Lage gerechtfertigt gewesen. Die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte ist nun unabdingbar, sonst droht das Vertrauen in die Solidität der öffentlichen Finanzen verloren zu gehen. Das gilt für beide Seiten des Atlantiks.

Eine der Herausforderungen für die Geldpolitik ist die Rücknahme der Nicht-Standardmaßnahmen. Wie schon gesagt, alle Maßnahmen sind temporärer Natur und nur solange gerechtfertigt, wie außergewöhnliche Umstände dies erfordern. Die Entscheidungen der EZB während der Krise folgten dem unumstößlichen Grundsatz, stabilitätsorientiert zu handeln. Stabilitätsorientiert, weil wir unser vorrangiges Ziel der Preisstabilität auf mittlere Frist auch und vor allem in Zeiten der Krise nicht aus den Augen verlieren. Wir haben ein klares Mandat, mittelfristig Preisstabilität zu gewährleisten. Daran werden wir gemessen. Bestätigung für glaubwürdiges Handeln findet sich in den längerfristigen Inflationserwartungen für das Eurogebiet. Sie liegen fest verankert auf einem niedrigen und mit unserer Definition von Preisstabilität zu vereinbarenden Niveau. Dies ist eine bemerkenswerte Errungenschaft vor dem Hintergrund der turbulenten Zeit, die hinter uns liegt.

Wir haben bereits sehr viele unsere Sondermaßnahmen zurückgenommen. Allerdings hat die staatliche Schuldenkrise im Frühjahr und gegen Ende 2010 den Ausstieg verzögert, aber nicht blockiert. Die Überschussliquidität in den Geldmärkten wurde von knapp 350 Milliarden Euro Ende Juni 2010 auf unter 40 Milliarden vergangene Woche reduziert. Im gleichen Zeitraum ist das Volumen unserer Operationen von knapp 970 Milliarden Euro auf etwa 540 Milliarden Euro gesunken. Und da das Volumen unserer Sondermaßnahmen weitestgehend von der Nachfrage der Banken im Euroraum abhängig ist, deuten diese Rückgänge auf eine verbesserte Marktsituation hin. Die verbliebenen Maßnahmen werden wir der Lage angemessen zurückführen und keineswegs länger beibehalten, als es die Gewährleistung stabiler Preise im Euroraum im Einklang mit unserer Definition von Preisstabilität erlaubt. Wir werden weiterhin regelmäßig die Angemessenheit der Geldpolitik überprüfen und im Falle einer veränderten Einschätzung handeln. Es ist wichtig, sich der Risiken einer zu lange beibehaltenen expansiven Geldpolitik bewusst zu werden.

Zu Beginn habe ich bereits erwähnt, dass die Niedrigzins-Politik vieler großer Zentralbanken zwischen den Jahren 2002 bis 2005 zu den Marktübertreibungen und zur Finanzkrise beigetragen hat. Der Grund hierfür ist, dass eine lange Phase sehr niedriger Zinsen das Risikoempfinden vieler Finanzmarktakteure trübt. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Banken in solchen Phasen bei ihren Investitionsanlagen ein höheres Risiko eingehen, da die Opportunitätskosten gering sind. Auch fallen die Renditeunterschiede zwischen festverzinslichten Finanzprodukten und frei handelbaren Vermögenswerten für gewöhnlich höher aus. Also ist die Gefahr einer inflationären Entwicklung von Vermögenswerten höher bei einem sehr niedrigen Zinsniveau. Und damit wächst auch die Gefahr von Preisblasen auf bestimmten Teilmärkten (wie beispielsweise dem Immobilienmarkt), die wiederum eine Gefahr für die Stabilität des gesamten Finanzsystems darstellen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen zögern zu niedrige Refinanzierungskosten unvermeidbare Bilanzbereinigungen und Anpassungsprozesse im privaten wie im öffentlichen Bereich hinaus. Die zukünftige Ausrichtung der Geldpolitik der EZB wird diesen Risiken Rechnung tragen. Sie wird in der Kontinuität der vergangenen Jahre stehen und Preisstabilität gewährleisten.

Die Weltwirtschaft hat sich nach dem Einbruch 2008 Q4 – 2009 Q1 positiv entwickelt. Dies geschah rascher als erwartet. Auch das Welthandelsvolumen wächst wieder deutlich. Zwar gab es in der zweiten Jahreshälfte 2010 die erwartete leichte Abschwächung, aber das letzte Quartal 2010 brachte erneut stärkeres Momentum. Internationale Institutionen erwarten ein Wirtschaftswachstum von rund 4% für 2011 und 2012. Aber der Aufschwung ist von 2 Geschwindigkeiten geprägt: das Wachstum der Weltwirtschaft wird in erster Linie von den Schwellenländern Asiens und zum Teil Südamerikas getrieben, während das Wachstum in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften im Durchschnitt moderat ausfällt.

Das Anziehen der Weltwirtschaft ist auch auf den Rohstoffmärkten zu erkennen. Das starke Wachstum in energieintensiven Volkswirtschaften ist mit verantwortlich für den Anstieg der Ölpreise, wie der Rohstoffpreise generell. Dies hat zu einem Anstieg der globalen Inflation geführt, insbesondere in Asien und Lateinamerika (China 5%, Indien >7%, Brasilien >5%). Hinzu kommt ein politisch sensibler Anstieg der Nahrungsmittelpreise infolge schlechter Ernten, aber auch verstärkter Nachfrage nach Nahrungsmitteln höherer Qualität infolge der gestiegenen Einkommen in den Schwellenländern.

Auch im Euroraum ist die wirtschaftliche Entwicklung besser verlaufen als erwartet. Wiederholt verzeichneten wir positive Überraschungen nach dem Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität 2009. Deutschland, zum Beispiel, wurde vor noch wenigen Jahren als der kranke Mann Europas bezeichnet. Lohnmoderation und strukturelle Reformen auf dem Arbeitsmarkt verhalfen der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren wieder zu neuem Schwung. Heute ist Deutschland einer der dynamischsten Industriestaaten und „Lokomotive“ der europäischen Wirtschaft. Letzte Schätzungen deuten auf ein reales Wachstum von 3.6% im Jahr 2010 hin. Aber weil andere Länder im Euroraum den politisch opportunen Weg gegangen sind und strukturelle Reformen bewusst gemieden haben, stehen wir heute einem Europa gegenüber, dessen Länder sich uneinheitlich auf den europäischen und internationalen Märkten behaupten können.

Insgesamt sehen wir uns heute einem günstigeren wirtschaftlichen Ausblick für das Eurogebiet gegenüber als noch vor 12 bis 15 Monaten. Nach den meisten Projektionen ist für 2011 ein Wachstum von rund 1.5 % und eine graduelle Beschleunigung in 2012 von 1.5 – 2 % zu erwarten. Dieses Wachstum träg sich zunehmend selbst und ist immer weniger abhängig von staatlichen Stützungsmaßnahmen. Dennoch heißt es wachsam zu sein. Die Unsicherheit global und in der Peripherie des Eurogebiets besteht nach wie vor. Die Krise ist nicht vorbei und es können sich bei verzögerter Sanierung der öffentlichen Haushalte erneut negative Rückwirkungen auf die Bankensysteme ergeben.

Hinsichtlich der Preisentwicklung sind die Inflationsraten zuletzt höher ausgefallen als von uns erwartet. Die jährliche am HVPI gemessene Inflationsrate des Eurogebiets lag nach Vorausschätzung von Eurostat bei 2,2% im Dezember 2010, nach 1,9% im Vormonat. Dies lässt sich vor allem auf die Energieverteuerung zurückführen. Aufgrund der Rohstoffpreisentwicklung dürften sich die Teuerungsraten weiterhin um 2% bewegen, oder etwas darüber – ein Beleg für zumindest kurzfristigen Aufwärtsdruck bei der Gesamtinflation. Die Entwicklung der industriellen Erzeugerpreise und Umfragedaten deuten darauf hin, dass der Inflationsdruck innerhalb der Produktionskette zunimmt. Inputpreise im verarbeitenden Gewerbe haben weiter angezogen und wir sehen eine Neigung diese über die Verkaufspreise weiterzureichen.

Dennoch ist ungeachtet dieser Entwicklung bisher der zugrunde liegende Inflationsdruck noch gering geblieben. Die Kerninflationsrate, die Preise für Nahrungsmittel und Energie ausschließt, bewegte sich zuletzt bei knapp über 1 % jährlich. Allerdings wäre es irreführend, der Kerninflationsrate zuviel Aufmerksamkeit zu schenken. Wie ein Kollege von mir einmal sagte, ist dieses Konzept sehr gut geeignet for central bankers who don’t eat and drive. Unser Auftrag ist es aber für die Stabilität der gesamten Kaufkraft des Euro zu sorgen, also auch für Bürger die essen und Verkehrsmittel benutzen.

Die derzeitige Geldpolitik der EZB ist nach wie vor akkomodierend – und ist angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung eher noch akkomodierender geworden. Unser Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsoperationen liegt seit Mai 2009 bei 1%.Wir kamen in unseren Beratungen vor zwei Wochen zu dem Schluss, dass das derzeitige Zinsniveau noch angemessen ist und dass die Entwicklung der Preise mittelfristig im Rahmen von Preisstabilität verbleiben sollte.

Aber wir werden die weitere Entwicklung sehr genau beobachten. Derzeit resultieren aus unserer monetären Analyse keine Anhaltspunkte für mittelfristigen Inflationsdruck. Sollte sich unsere Einschätzung jedoch ändern, werden wir handeln. Dabei möchte ich die Unterscheidung, die Präsident Trichet vorgenommen hat, untersteichen: die Zinspolitik dient der Sicherung der Preisstabilität, während die Sondermaßnahmen der Förderung des Transmissionsmechanismus der Geldpolitik dienen, d.h. dass die geldpolitischen Impulse auch an Firmen und Haushalte im Euroraum weitergeleitet werden. Je nach der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung – gobal wie regional – und der Lage an einzelnen Finanzmärkten, die für die Geldpolitik relevant sind, werden wir handeln.

Ein mögliches Szenario ist, dass die schwierige Marktsituation in einzelnen Euroländern noch anhält, während die wirtschaftliche Aktivität im Euroraum insgesamt weiter positiv verläuft und die Gefahr höherer Kosten- und Preissteigerungen entstehen könnte. Dann ist es unsere Aufgabe, dieser Gefahr entgegenzuwirken. Allerdings ist die Notwendigkeit des Handelns von der Ursache des Inflationsanstiegs abhängig. So genannte Erstrundeneffekte hat eine Zentralbank zu akzeptieren. Wenn jedoch Veränderungen relativer Preise zu Zweitrundeneffekten, also zu einem generellen Anstieg des Preisniveaus führen, muss eine Zentralbank reagieren.

Die Geldpolitik muss Lehren aus den Ursachen der Krise und dem Krisenmanagement selbst ziehen. Dabei sind die folgenden Punkte von zentraler Bedeutung:

Eine Konstante ist die Unabhängigkeit der Zentralbank von politischer Einflussnahme. Dies ist eine große Errungenschaft für das Eurosystem.

Der zweite Punkt betrifft unser Mandat. Bei allem Erfolg der Liquiditätsmaßnahmen, welche wir ergriffen haben, um Marktverwerfungen zu begegnen, darf die Geldpolitik nicht überfordert werden. Die EZB hat ein primäres Mandat, Preisstabilität mittelfristig zu sichern – und dies aus guten Gründen. Die „Neutralität des Geldes“ besagt, dass eine Veränderung in der Geldmenge in einer Volkswirtschaft sich nur in einer Veränderung des allgemeinen Preisniveaus widerspiegelt und keine dauerhafte Veränderung der realen Variablen wie Produktion und Beschäftigung mit sich bringt.

In diesen Kontext müssen wir auch darauf achten, Preisstabilität und Finanzstabilität nicht zu vermengen. Die EZB überwacht im Rahmen ihres Mandats systematisch die zyklischen und strukturellen Entwicklungen im Bankensektor des Euroraums und der EU sowie in anderen Finanzsektoren, um Schwachstellen zu erkennen und die Widerstandsfähigkeit des Systems zu prüfen. Finanzstabilität ist somit im Hinblick auf die Wahrung der Preisstabilität ein entscheidender Faktor, aber es ist nicht das primäre Mandat der EZB.

Alleine vor diesem Hintergrund sind unsere Maßnahmen zu sehen – auch dass das Programm zum Kauf von Anleihen geldpolitisch begründet ist: Es zielt darauf ab, Störungen der Transmission der Geldpolitik in bestimmten Marktsegmenten zu begegnen, es handelt sich dabei also nicht um eine Monetisierung von Staatsschulden, etwa indem wir auf eine höhere Inflationsrate abzielten, um damit die reale Schuldenlast zu senken. Die Ankäufe von Anleihen lassen den Schuldenstand der europäischen Staaten gänzlich unberührt, erfolgen ausschließlich am Sekundärmarkt und der dadurch entstehende Liquiditätseffekt wird neutralisiert.

III. Herausforderungen an die Fiskalpolitik im Euroraum

So weit zu den Herausforderungen für die Geldpolitik. Fakt ist jedoch, dass die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion auf zwei Pfeilern beruht. Einem verlässlichen und berechenbaren geldpolitischen Pfeiler und einem wirtschaftspolitischen Pfeiler. Dieser wirtschaftspolitische Pfeiler ist letztes Jahr ins Wanken geraten, weil sein Fundament – der Stabilitäts- und Wachstumspakt – untergraben worden ist und viele Mitgliedsländer des Euroraums in den „guten“ Zeiten keine Vorsorge betrieben haben.

Institutionelle Reformen auf europäischer Ebene sind nötig. Die EZB hat im Juni letzten Jahres im Rahmen der Arbeitsgruppe unter Leitung von EU-Ratspräsident Herman van Rompuy detaillierte Vorschläge hierzu gemacht. Im Abschlussbericht dieser Arbeitsgruppe, der letzten Oktober vom Europäischen Rat gebilligt wurde, wurden unsere Vorschläge nur zum Teil aufgegriffen. Aus unserer Sicht ist das, was derzeit in Brüssel auf dem Tisch liegt, nicht weit reichend genug. Solange potentielle Sünder über tatsächliche Sünder urteilen, lässt sich kein hinreichender Druck aufbauen, um auf Dauer angelegte fiskalische Konsolidierungsschritte einzufordern.

Um die wirtschaftlichen Vorteile der gemeinsamen Währung voll zum Tragen kommen zu lassen und um zukünftige Verschuldungskrisen zu vermeiden, benötigen wir einen Quantensprung in der Koordinierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik der Euromitgliedsländer untereinander. Hierzu müssen der Stabilitäts- und Wachstumspakt und die makroökonomische Überwachung entpolitisiert und gestärkt werden.

Weniger Diskretion und mehr Automatismus sind der Schlüssel zu einem stabileren Währungsraum und einem glaubwürdigeren Stabilitäts- und Wachstumspakt. Sanktionen sollten durch einen Beschluss des ECOFIN-Rates ohne unverhältnismäßige politische Einflussnahme eintreten. Eine Stärkung der entsprechenden Mehrheitsregeln bei den Entscheidungen könnte hier helfen. Die Sanktion selbst sollte nach der Schwere des Regelverstoßes bestimmt werden. Grundsätzlich sollten Sanktionen auch nicht-finanzielle Elemente beinhalten und graduell verschärft werden, je länger Regelverstöße andauern und je schwerer sie sind. Bei besonders schweren Verstößen sollte man auch nicht vor einer zeitlich befristeten Aussetzung der Stimmrechte im Europäischen Rat zurückschrecken.

Eine stärkere Regelbindung erfordert auch eine engere Bindung der Neuverschuldungsgrenze an den Schuldenstand, so dass sich Länder mit höheren Schuldenstandsquoten schärferen Restriktionen gegenübersehen.

Die Umsetzung dieser europäischen Regeln in nationales Recht würde die disziplinierende Wirkung des Pakts noch einmal deutlich erhöhen. Durch rechtlich bindende nationale Zielvorgaben können Regierungen sich selbst – und nachfolgende Regierungen – zusätzlich zu einer disziplinierten Haushaltsführung verpflichten. Deutschland geht hier mit gutem Beispiel voran. Die im Grundgesetz fest verankerte Schuldenbremse soll auf Dauer fiskalpolitische Disziplin, frei von politischem Opportunismus, garantieren.

Parallel zur Stärkung der Budgetregeln sollte auch die Haushaltsüberwachung deutlich intensiviert werden. Dies lässt sich am besten durch die Schaffung eines unabhängigen Gremiums von Experten erreichen, welches die Haushaltspläne der Mitgliedstaaten prüft. Bedauerlicherweise herrscht hierüber kein politischer Konsens und der entsprechende Vorschlag der EZB wurde nicht in den Abschlussbericht der EU-Arbeitsgruppe aufgenommen. Um die Folgen dieses Versäumnisses möglichst gering zu halten, sollte zumindest sichergestellt werden, dass die Unabhängigkeit der europäischen Kommission bei der Bewertung von Haushaltsplänen gestärkt wird.

IV. Herausforderungen an die Wirtschaftspolitik im Euroraum

Neben fiskalpolitischer Disziplin und einem strengeren Regelwerk wird ein anderer wichtiger Bestandteil die bessere Abstimmung und gegenseitige Überprüfung der nationalen Wirtschaftspolitiken sein. Viele Mitgliedsländer müssen ihre Wirtschaftspolitik grundlegend neu ausrichten - wie anfangs erwähnt – und Versäumnisse der Vergangenheit ausgleichen. Ziel jedes Mitgliedslandes muss es sein, wettbewerbsfähig zu werden.

Den Rahmen hierfür muss die EU vorgeben. Durch die Überwachung einer überschaubaren, aber klar definierten Anzahl an makroökonomischen Indikatoren können wir die Entwicklung der einzelnen Mitgliedsländer genauer kontrollieren und frühzeitig auf Fehlentwicklungen reagieren. Die Leistungsbilanz, die Lohnstückkosten, der Verschuldungsgrad privater Haushalte oder nationale Vermögenspreisentwicklungen sind solche Kennzahlen, die in die Bewertung eines Landes einfließen sollten. Bei Fehlentwicklungen sollten auch hier rechtzeitig Empfehlungen ausgesprochen werden und bei Missachtung Sanktionen verhängt werden.

Die Effektivität dieses neuen makroökonomischen Überwachungsrahmens wird an seiner Glaubwürdigkeit gemessen werden. Die Glaubwürdigkeit wird von zwei Aspekten abhängig sein: Transparenz und verlässliche Daten. Sowohl die regelmäßige Überprüfung der makroökonomischen Entwicklungen, als auch die Verfahrenseinleitung bei Regelverstößen muss transparent und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar geschehen. Und die Daten, die der Überprüfung zu Grunde liegen, müssen über jeden Zweifel erhaben sein. Einiges an Glaubwürdigkeit ist hier in der Vergangenheit verloren gegangen.

Es ist Zeit, den Ernst und die Dringlichkeit der Lage zu erkennen. Mit dem Abschlußbericht der van Rompuy Arbeitsgruppe ist das letzte Wort in der Debatte über die Koordinierung längst überfälliger Strukturreformen und zur Sicherung solider Staatsfinanzen in der Europäischen Währungsunion noch nicht gesprochen. Die momentane Krise muss als Möglichkeit begriffen werden, den institutionellen Rahmen grundsätzlich zu überarbeiten.

Die derzeitige Debatte deutet dabei darauf hin, dass eine dauerhafte Institution mit Zuständigkeit für Krisenmanagement auf europäischer Ebene geschaffen werden soll. Aus meiner Sicht steht die Begrenzung von möglichen Fehlanreizen, die von der bloßen Existenz einer solchen Institution ausgehen, an vorderster Stelle. Es ist kein Geheimnis, dass eine Versicherung Handlungen begünstigt, die den Versicherungsfall wahrscheinlicher werden lassen („moral hazard“). Auch dürfen die bestehenden Vertragsgrundlagen der Währungsunion, vor allem die „No-bail-out“-Klausel und das Verbot von Finanztransfers, durch die neu zu schaffende Institution nicht unterlaufen werden. Ansonsten droht eine Aushöhlung der stabilitätspolitischen Basis des Euro mit nicht absehbaren wirtschaftlichen und politischen Folgen.

V. Herausforderungen an die Finanzaufsicht und -regulierung

Das vergangene Jahr stand also ganz im Zeichen der Krise der Staatsfinanzen. Aber es hat auch gezeigt: neue Krisen verdrängen alte Probleme. So hat die Krise um die öffentlichen Haushalte im Euroraum die Diskussion um die notwendige Reformierung des Finanzsektors in den Hintergrund gedrängt. Obwohl schon einiges in diesem Bereich erreicht worden ist, bleibt noch immer vieles zu tun. Ich möchte noch kurz auf die Herausforderungen in den Aufsichts- und Regulierungsfragen eingehen.

Die aktuellen Bemühungen im Bereich der EU-weiten Finanzaufsicht haben vier neue Institutionen hervorgebracht: den Europäischen Rat für Systemische Risiken (ERSR), verantwortlich für die Identifizierung and Analyse von makro-prudentiellen Risiken, sowie drei weitere EU-weite Aufsichtsbehörden, mit spezifischer, sektoraler Verantwortlichkeit.

Angesichts der starken Verflechtungen der Banken im Euroraum, des gemeinsamen Binnenmarktes und einer einheitlichen Wettbewerbspolitik ist die EU-weite Koordinierung der Finanzaufsicht ein konsequenter Schritt. Vereinfacht gesagt werden damit erstmals die Vorraussetzungen geschaffen, um global agierende Finanzinstitute effektiv zu beaufsichtigen und zu regulieren.

Lassen Sie mich kurz drei besonders dringliche Finanzmarktfragen nennen.

Erstens: Ein erhebliches Problem, welches in der Krise sichtbar wurde, ist die Intransparenz vieler Finanzmarktprodukte. Hier sind die Regulierungsbehörden gefordert, klare Richtlinien zu schaffen, um Transparenz dort wieder herzustellen, wo sie verloren gegangen ist.

Zweitens: Mangelnde Transparenz betrifft auch die Bilanzen vieler Geschäftsbanken. Die zuständigen Aufsichtsbehörden sind gefordert, Finanzinstitute auf die Tragfähigkeit der Geschäftsmodelle zu durchleuchten, einen eventuellen Rekapitalisierungsbedarf zu ermitteln, und in Problemsituationen schnelle Lösungen zu finden.

Drittens: Die bisherigen Kapitalanforderungen und Liquiditätskennzahlen der Finanzinstitute müssen gestärkt werden. In diesem Bereich sind bereits wichtige Fortschritte im Baseler Ausschuss erzielt worden.

Die Zielsetzung der genannten Maβnahmen ist eindeutig. Es geht darum, das Bankensystem widerstandsfähiger zu machen. Und das Finanzsystem muss so reguliert werden, dass es einen gesunden Beitrag zu einem nachhaltigen Wachstum liefern kann.

VI. Abschließende Bemerkungen

Europa hat eine anspruchsvolle und umfassende Reformagenda zu bewältigen. Viele Versäumnisse der Vergangenheit müssen heute korrigiert werden, vor allem im Bereich der Fiskalpolitik und der Finanzaufsicht und -regulierung. Diese Probleme lassen sich nicht nur für das Eurogebiet ausmachen. Die Finanzkrise hat ihren Ursprung nicht in Europa. Aber sie hat die Anfälligkeit des globalen Finanzsystems wie der Weltwirtschaft deutlich gemacht.

Eine entscheidende Korrektur der haushaltspolitischen Fehler in den Ländern des Eurogebiets ist eine der Grundvorrausetzungen für ein reibungsloses Funktionieren der Währungsunion. Die Mitgliedsstaaten müssen einen ambitionierten Konsolidierungskurs einschlagen, um Bedenken hinsichtlich der Tragfähigkeit der Staatsfinanzen schnellstmöglich abzuwenden.

Dass viele Dinge während der Krise nicht noch schlimmer gekommen sind, liegt sicher auch am Euro. Der Euro bietet Sicherheit, Stabilität und Schutz, gerade in Zeiten der Krise. Aber auch rückblickend ist der Euro ein Erfolg. Die Inflationsrate des Euroraums liegt im Durchschnitt der vergangenen 12 Jahre bei 1.97%, und damit im Einklang mit der Definition von Preisstabilität. In Deutschland lag die durchschnittliche Inflationsrate sogar noch niedriger, bei nur 1.5% von 1999 bis 2010. Den Vergleich mit der D-Mark muss der Euro also nicht scheuen. Denn vor der Einführung des Euro – in den 90iger Jahren – lag die durchschnittliche Inflationsrate in Deutschland bei 2.2%. In den 80iger Jahren sogar bei 2.8%. Es überrascht mich, dass diese zentrale Errungenschaft der Geldpolitik der EZB gerade in Deutschland nicht klarer erkannt wird.

Im Ergebnis bedeutet dies, dass wir die Kaufkraft von 331 Millionen Bürgern effektiver denn je zuvor bewahren konnten und den realen, also inflationsbereinigten, Gegenwert ihrer Ersparnisse und Investitionen steigern konnten. Dieser Erfolg begünstigt vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten. Zu verdanken ist dies der soliden geldpolitischen Verfassung im Euroraum, die der EZB ein klares Mandat und politische Unabhängigkeit zusichert. Auf der Grundlage dieser Verfassung ist die Europäische Zentralbank in kurzer Zeit zu einer glaubwürdigen, berechenbaren und verlässlichen Institution herangewachsen. Diese Werte sollten auch die Grundlage für die zukünftige Ausrichtung der europäischen Wirtschafts- und Fiskalpolitik bilden.

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