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Wege aus der Krise

Rede von Gertrude Tumpel-Gugerell, Mitglied des Direktoriums der EZBBad Ischler Dialog „Wege aus der Krise“Bad Ischl, 5. Oktober 2009

I. Einleitung [1]

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist mir eine Freude am diesjährigen Bad Ischler Dialog teilnehmen zu können. Der Dialog stellt eine wichtige Standortbestimmung in der wirtschaftspolitischen Diskussion der österreichischen Sozialpartner dar.

Die diesjährige Veranstaltung findet vor dem Hintergrund der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren mit erheblichen negativen Folgen für das Wachstum der Weltwirtschaft und der Wirtschaft im Euroraum statt.

Im Verlauf der Krise sind Profite der Firmen gesunken, Firmeninsolvenzen gestiegen, Menschen wurden arbeitslos und der Konsum hat sich stark abgeschwächt. Vor allem aber hat die Krise den Bankensektor und das gesamte Finanzsystem getroffen. Liquiditätsengpässe, Eigenkapitalknappheit und ein erheblicher Anstieg in den Risikoprämien haben die Funktionsweise des Finanzsektors vor große Herausforderungen gestellt. Vor allem wurde die so wichtige Aufgabe des Bankensektors – die Realwirtschaft mit Finanzierungsmitteln zu versorgen – stark eingeschränkt.

Notenbanken und Regierungen haben rasch und entschlossen Maßnahmen ergriffen, um die Auswirkungen der Krise zu begrenzen. Heute möchte ich über die Herausforderungen sprechen, die sich auf allen Feldern der Wirtschaftspolitik stellen und vor allem die mittel- und langfristigen Strategien für Wege aus der Krise aufzeigen. Dabei möchte ich auf drei wirtschaftspolitische Säulen eingehen, die – meines Erachtens - zentral für jeden möglichen Weg aus der Krise sind: Erstens, Geldpolitik, zweitens, Fiskalpolitik und drittens, Strukturpolitik.

Es ist klar, dass wir uns nicht in einem normalen konjunkturellen Abschwung befinden, so dass die zentrale Frage lautet: Wie und wann kommen wir wieder aus der Krise?

Lassen Sie mich dazu mögliche Entwicklungspfade der Wirtschaft im Euroraum anhand eines einfachen Schaubilds illustrieren.

[Folie „Wege aus der Krise“]

Das Schaubild zeigt die Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts bis 2010 auf der Grundlage der Frühjahrsprognose der Europäischen Kommission. Deutlich ist der Einbruch im Jahr 2009 zu erkennen. Für die Jahre nach 2010 zeigt das Schaubild drei mögliche Szenarien. Die rote Linie markiert das Szenario einer nachhaltigen Wachstumsschwäche: Die Wirtschaft des Euroraums verließe die Krise so angeschlagen, dass sie langfristig deutlich schwächere Wachstumsraten hätte als im Durchschnitt der Jahre zuvor. Der Einkommensverlust durch die Krise würde dann nicht wieder aufgeholt und auch das langfristige Wachstum des Einkommens wäre deutlich niedriger als im langfristigen Durchschnitt der Jahre zuvor.

Das zweite denkbare Szenario -- die gelbe Line im Schaubild – stellt eine Erholung des Wachstums dar, so dass das langfristige Wachstum der Jahre vor der Krise wieder erreicht wird. Der Einkommensverlust, den wir durch die Krise erleiden, würde indes nicht wieder aufgeholt, aber immerhin erführen wir langfristig wieder Zuwächse, die denen der vergangenen Jahre entsprächen. Schließlich ist ein dynamisches Szenario entlang der blauen Linie denkbar, so dass wir in einigen Jahren überdurchschnittlichen Wachstums die während der Krise erlittenen Einkommensverluste wieder wettmachen können und auf den alten Entwicklungspfad zurückkehren.

Die Frage stellt sich also, auf welchen Wachstumspfad können wir unsere Ökonomie zusteuern.

Schaut man auf die derzeitige wirtschaftliche Lage im Euro-Raum, sind die jüngsten Daten ermutigend. Nach dem deutlichen Einbruch der Wirtschaftsleistung um den Jahreswechsel herum sehen wir nun mehr und mehr Zeichen einer wirtschaftlichen Stabilisierung und erwarten für das kommende Jahr einen allmählichen Aufschwung. Hierbei kommt nicht nur der Erholung im Export, sondern auch den laufenden Konjunkturprogrammen sowie den bisher ergriffenen Maßnahmen zur Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Finanzsystems eine wesentliche Bedeutung zu.

Trotz dieser hoffnungsvollen Anzeichen darf man nicht verkennen, dass ein hohes Ausmaß an Unsicherheit hinsichtlich der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung besteht. Zum einen sind einige der stabilisierenden Maßnahmen temporär angelegt. Zum anderen ist die Lage an den Finanzmärkten weiterhin angespannt, und das Ausmaß der negativen Rückkopplung mit der Realwirtschaft ist nur sehr schwer einzuschätzen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass weiterhin Anpassungsmaßnahmen im finanziellen und nichtfinanziellen Sektor erforderlich sein werden. Auch könnten sich mögliche, erneute Preissteigerungen bei Öl und anderen Rohstoffen dämpfend auf die Konjunktur auswirken.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Konjunkturlage und der weiterhin bestehenden Risiken dürfte deutlich geworden sein, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass der Weg aus der Krise nunmehr zwangsläufig eben und glatt nach oben verlaufen wird. Vielmehr stellt die aktuelle Lage nach wie vor eine große Herausforderung für die Wirtschaftspolitik dar. Finanz- und Wirtschaftspolitiker in den Regierungen und in den europäischen Institutionen und die Sozialpartner haben die Aufgabe, die Weichen so zu stellen, dass die Konjunktur wieder an Fahrt gewinnen kann und sich das Wirtschaftswachstum nachhaltig erholt.

Daher sind drei Kerngebiete zentral für einen nachhaltigen und erfolgreichen Weg aus der Krise: Geldpolitik, Fiskalpolitik und Strukturpolitik.

Lassen Sie mich im folgenden in jedem der Bereiche skizzieren, welcher Beitrag geleistet werden kann, um ein nachhaltiges Wachstumsszenario zu realisieren.

II. Geldpolitik und Finanzmarktstabilisierung

Lassen Sie mich zuerst auf die Geldpolitik eingehen. Das Eurosystem reagierte prompt und entschlossen auf die sich ausweitende Finanzkrise. Wir haben den Zinssatz für unsere Hauptrefinanzierungsgeschäfte innerhalb nur weniger Monate um 325 Basispunkte auf 1% gesenkt, so niedrig wie noch nie.

Darüber hinaus haben wir eine Reihe von Sondermaßnahmen ergriffen, um die Kreditvergabe der Banken an die Wirtschaft zusätzlich zu unterstützen und die Banken für diesen Zweck ausreichend mit Liquidität zu versorgen.

[Folie „Rolle der Banken bei der Unternehmensfinanzierung“]

Dies war und ist uns wichtig, weil im Vergleich zu vielen anderen bedeutenden Volkswirtschaften die Banken bei der Unternehmensfinanzierung im Euroraum eine besondere Rolle spielen.

[Folie „Erweiterter Ansatz um die Kreditvergabe zu unterstützen“]

Zu diesem Zweck haben wir unbegrenzt Liquidität zu einem fest gesetzten Zins zur Verfügung gestellt, das Verzeichnis der für Kreditgeschäfte des Eurosystems zugelassenen Sicherheiten erweitert, die Laufzeit unserer Refinanzierungsgeschäfte auf bis zu zwölf Monate verlängert, Liquidität auch in Fremdwährung bereit gestellt – vor allem in US Dollar – und den Ankauf von auf Euro lautenden gedeckten Schuldverschreibungen, die im Eurogebiet begeben wurden, in die Wege geleitet.

Alle Maßnahmen der Zentralbanken aber natürlich auch die, der Regierungen haben maßgeblich dazu beigetragen, die bilanziellen Restriktionen der Banken zu lockern und sowohl die Zinssätze als auch die Zinsspannen am Geldmarkt deutlich abzubauen. Durch dieses Maßnahmenbündel konnte verhindert werden, dass sich eine Liquiditäts- und Vertrauenskrise zu einer systemischen Krise ausweitet. Damit haben diese Maßnahmen eine positive und stabilisierende Wirkung auf Finanzsektor und Gesamtwirtschaft im Euroraum entfaltet.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Lage und dem Beitrag von Geldpolitik auf den zukünftigen Entwicklungspfad der Ökonomie, ist unser geldpolitischer Kurs angemessen und auch unsere ergriffenen Sondermaßnahmen sind nach wie vor gerechtfertigt. Die Teuerungsraten sind derzeit niedrig und wir erwarten, dass die verhaltene Nachfrage und Wachstumsaussichten zu einer gedämpften Preis und Kostenentwicklung führen werden. Außerdem sind die mittel- bis längerfristigen Inflationserwartungen nach wie vor fest bei der vom Rat der Europäischen Zentralbank angestrebten Preissteigerungsrate von nahe, aber unter 2 % verankert. Die Kreditentwicklung ist jedoch nach wie vor sehr schwach.

Die Verlangsamung der Kreditentwicklung an private Haushalte und Unternehmen ist auf einen erheblichen Rückgang der Kreditnachfrage zurückzuführen. Gleichzeitig gibt es Hinweise auf Hemmnisse von Seiten der Banken. Nicht nur Umfragen unter potentiell betroffenen Unternehmen deuten zum Teil auf Finanzierungsrestriktionen hin, auch die Banken berichten im Rahmen der vom Eurosystem durchgeführten Umfrage zum Kreditgeschäft der Banken – dem Bank Lending Survey – von Verschärfungen ihrer Vergabestandards im Zuge der Finanzmarktturbulenzen. Diese Verschärfungen wurden auch von den Banken selbst zunehmend auf bankseitige Faktoren, wie ihre Kapitalkosten, ihre Refinanzierungsmöglichkeiten und ihre Liquiditätsposition, zurückgeführt.

Insgesamt, müssen die Banken noch stärker als bisher die von der EZB festgelegten Zinsen und die großzügige Liquiditätsbereitstellung an ihre Kunden, Haushalte und Unternehmen, weitergeben. Eine reibungslose Kreditversorgung durch die Banken ist für die Wirtschaft im Euroraum wichtig und damit für einen nachhaltigen Weg aus der Krise essentiell.

Bei einer nachhaltigen Rückkehr auf den Wachstumspfad können wir unsere außerordentlichen Maßnahmen jederzeit rückgängig machen, wenn es die Umstände erfordern. Dabei lassen wir uns von zwei Themen leiten. Erstens, unsere Einschätzung der mittelfristigen Risiken für die Preisstabilität. Zweitens, unsere Einschätzung der Lage an den Finanzmärkten. Und zwar in dieser Reihenfolge. Dank unserer Unabhängigkeit und der Glaubwürdigkeit unserer Geldpolitik sind wir gut gerüstet, um Aufwärtsrisiken für die Preisstabilität rechtzeitig mit Zinsschritten zu begegnen.

III. Fiskalstimulus und Exit-Strategien

Die Finanz- und Wirtschaftskrise veranlasste zahlreiche Regierungen - nicht nur in Europa - dazu, neben den Rettungspaketen für den Finanzsektor auch umfangreiche Konjunkturpakete zur Abfederung des realwirtschaftlichen Abschwungs zu beschließen.

Die Euro-Mitgliedstaaten haben im Herbst letzten Jahres in Form von Staatsgarantien und Kapitalbereitstellung rasch und konsequent auf die sich zuspitzende Krise auf den internationalen Finanzmärkten reagiert. Das Ausmaß an staatlicher Intervention war erheblich. So wurden in den Ländern des Euroraums bisher staatliche Garantien in Höhe von fast 8% der Wirtschaftskraft gewährt. Kapitalspritzen und andere Kapitalisierungsmaßnahmen beliefen sich auf rund 3% Bruttosozialprodukts. Auch in Österreich wurde der Bankensektor – nicht zuletzt wegen des Engagements im Osteuropageschäft – unterstützt.

[Folie zur Fiskalischer Stimulus im Euroraum]

Insgesamt werden laut Schätzungen der Europäischen Kommission die Stimuluspakete in 2009 eine Größenordnung von rund 1.0% der Wirtschaftsleistung im Euroraum erreichen. Österreich liegt hier mit einem Maßnahmenpaket von geschätzten 1.8% des Bruttoinlandprodukts in 2009 sogar deutlich über dem Durchschnitt des Euro Währungsraums. In den Konjunkturpaketen der Euroländer halten sich ausgaben- und einnahmeseitige Maßnahmen in etwa die Waage. Im Durchschnitt wurden rund 60% der zusätzlichen Ausgaben für öffentliche Investitionen eingesetzt, 20% für Arbeitsmarktmaßnahmen. Auf der Einnahmeseite zielen die Maßnahmen größtenteils auf eine Entlastung der Haushalte durch Steuersenkungen sowie niedrigere Sozialversicherungsbeiträge ab.

Die entscheidende Frage ist nun: Wie viel zusätzliches Wirtschaftswachstum kann mithilfe der Finanzpolitik generiert werden? Basierend auf der konkreten Zusammensetzung der spezifischen Maßnahmenpakete geht die Europäische Kommission davon aus, dass der aktive Fiskalimpuls das Wachstum im Euroraum dieses Jahr real um rund ¾ Prozentpunkte erhöht. Ein zusätzlicher Impuls von ⅓ Prozentpunkten ist im Jahr 2010 zu erwarten.

Dabei ist die Wirkung der automatischen Stabilisatoren in den öffentlichen Haushalten, die sich aus der konjunkturell bedingten Abnahme der Steuereinnahmen sowie des zyklischen Anstiegs der Transferausgaben ergibt, noch nicht berücksichtigt. In der Tat ist diese Stabilisierungswirkung von deutlich größerer Bedeutung als die diskretionären Maßnahmen, und sie fällt in Europa mit seinen stark ausgeprägten Sozialsystemen auch höher aus als in anderen Ländern, etwa den USA.

Insgesamt, zeigt sich also, dass die europäischen Regierungen mit ihren Maßnahmenpaketen einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung geleistet haben.

[Folie Die fiskalischen Kosten der Krise]

Fiskalische Kosten der Krise

Finanzpolitik kann allerdings langfristig nur erfolgreich sein, wenn sie nachhaltig angelegt ist. Daher kann man nicht über die fiskalischen Kosten, die sich aus der massiven finanzpolitischen Expansion ergeben, hinwegsehen.

Die Europäische Kommission geht in ihrer Frühjahrsprognose davon aus, dass das Budgetdefizit im Euroraum dieses Jahr wegen der Stimuluspakete aber auch konjunkturell bedingt um rund 3½ Prozentpunkte auf 5.3% des BIP ansteigen wird. Dabei macht der Anteil der Stimulusmaßnahmen am Defizit weniger als ein Fünftel aus – also rund 1 % -Punkt.

Für 2010 wird ein weiterer Anstieg des Budgetdefizits auf dann 6.5% der Wirtschaftsleistung im Euroraum prognostiziert. Auch die Staatsverschuldung der Euroländer wird laut Kommission als Folge der Defizite aber auch infolge der Kapitalmaßnahmen im Bankensektor [2] drastisch steigen, nämlich von rund 70% des BIP Ende 2008 auf knapp 84% der Wirtschaftskraft im Jahr 2010.

[Folie zur Entwicklung der Staatsverschuldung im Euroraum]

Im Vergleich mit früheren Schuldenständen bedeutet dies, dass das derzeitige Schuldenstandsniveau mit Niveaus vor der Währungsunion Mitte der 90er Jahre vergleichbar ist.

Die Zahlen verdeutlichen bereits, dass viele Länder in Europa im Zuge der Finanzkrise von einem Pfad tragfähiger Finanzpolitik abgekommen sind. Fünf Länder der Eurozone befinden sich aufgrund von Staatsdefiziten oberhalb der Maastrichtgrenze von 3% des BIP bereits in einem Defizitverfahren. Viele weitere (wahrscheinlich auch Österreich) werden aufgrund geplanter Defizite oberhalb des Referenzwerts noch in diesem Jahr folgen. Legt man die Frühjahrsprognose der Kommission zugrunde, werden sich im Jahr 2010 zwölf der sechzehn Euroländer in einem Brüsseler Defizitverfahren befinden. Nur fünf der sechzehn Euroländer werden noch Schuldenstände unterhalb des Referenzwerts von 60% der Wirtschaftskraft aufweisen.

Fiskalische Exit-Strategien

Die Herausforderung für die Zukunft liegt also darin, einerseits den Aufschwung fiskalpolitisch zu unterstützen, und anderseits eine fiskalpolitische Konsolidierung einzuleiten, um nachhaltiges Wachstum nicht durch hohe Schuldenstände zu gefährden.

Es ist wichtig, diesen fiskalischen Ausblick offen zu diskutieren und Korrekturmaßnahmen zu planen, vor allem wenn man bedenkt, dass die öffentlichen Haushalte in Europa mittel- und langfristige weiteren erheblichen Risiken ausgesetzt sein werden. Zum einen ist derzeit nur ganz schwer einzuschätzen, ob und in welcher Höhe in Zukunft weitere budgetäre Belastungen aus den Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzmärkte entstehen werden. Zudem wird der demographische Wandel in vielen Ländern Europas zu einem deutlichen Anstieg der altersbedingten Ausgaben, etwa im Bereich der Gesundheits- und der Rentenversicherung, führen. Dies wird die finanzpolitischen Spielräume weiter einschränken.

Wie sieht also eine Erfolg versprechende fiskalpolitische Exit-Strategie aus? Die Probleme in den öffentlichen Haushalten werden sich nicht von alleine lösen. Ein Teil des Anstiegs in den Defiziten ist zwar konjunkturell bedingt und sollte daher bei einsetzender wirtschaftlicher Erholung wieder abschmelzen. Laut Schätzung der Europäischen Kommission ist jedoch weniger als ein Drittel des Defizits im Euroraum zyklisch. Es muss außerdem berücksichtigt werden, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise auch einen Rückgang des langfristigen Wachstumspotenzials in den europäischen Volkswirtschaften nach sich ziehen kann. Dies wird die strukturelle Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte nachhaltig beeinträchtigen. Zu guter Letzt laufen viele der Maßnahmen, die im Rahmen der Stimuluspakete aufgelegt wurden, nicht automatisch aus.

Die Regierungen in Europa werden also ambitionierte und klar umrissene Konsolidierungsstrategien implementieren müssen, um ein weiteres Ausufern der Staatsverschuldung zu verhindern und um zu einer tragfähigen Finanzpolitik zurückzukehren. Die notwendige Konsolidierung darf keinesfalls auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Der koordinierende Mechanismus auf europäischer Ebene muss dabei der Stabilitäts- und Wachstumspakt sein. Im Hinblick auf die wichtige Funktion des Stabilitäts- und Wachstumspakts als Anker für die Stabilität der öffentlichen Finanzen in Europa ist eine strikte Implementierung des Regelwerks auf nationalstaatlicher Ebene unerlässlich. Länder mit übermäßigen Defiziten im Sinne des Maastrichtvertrags sind angehalten, diese im Einklang mit den ECOFIN Ratsbeschlüssen zu beseitigen. Generell sollten die Regierungen in Europa – sobald es die wirtschaftliche Situation zulässt – wieder einen Konsolidierungspfad in Richtung ihrer mittelfristigen Budgetziele einschlagen. Die Erfahrung zeigt, dass vor allem ausgabenseitige Konsolidierungstrategien nachhaltigen Erfolg versprechen. Dabei sollte auch die Qualität der öffentlichen Finanzen verbessert werden, indem die Ausgaben mehr auf wachstums- und effizienz- steigernde Aktivitäten fokussiert werden. Steuererhöhungen hingegen sind aufgrund der Möglichkeiten zur Steuervermeidung – insbesondere bei mobilen Steuerbemessungsgrundlagen – wenig Erfolg versprechend und wegen ihrer verzerrenden Wirkung auch nicht zu begrüßen.

Lassen Sie mich zusammenfassend sagen, dass der fiskalische Stimulus in der Krise – der absolut notwendig war um den Abfall im privaten Konsum abzumildern – langfristig mit einer nachhaltigen fiskalischen Konsolidierung einhergehen muss, damit die private Nachfrage angekurbelt wird und langfristig die öffentliche Nachfrage wieder ersetzen kann.

IV. Strukturpolitik

Damit komme ich zum dritten Aspekt einer nachhaltigen Strategie für den Weg aus der Krise. Zur Überwindung der gegenwärtigen Krise ist ganz wesentlich, dass auch die Strukturen auf den Arbeits- und Produktmärkten in Europa und insbesondere im Euroraum verbessert werden. Der geldpolitische und fiskalpolitische Stimulus muss strukturpolitisch begleitet werden, damit diese Stimuli ihre größtmögliche Wirkung erzielen können. Vor allem aber kann Strukturpolitik unsere Wirtschaften produktiver machen, was für den Weg auf einen dynamischen Wachstumspfad unerlässlich ist.

Der Blick auf die Wirkung von vergangenen strukturpolitischen Maßnahmen stimmt vorsichtig optimistisch. Verschiedene strukturpolische Maßnahmen, besonders am Arbeitsmarkt haben zu einer deutlich erhöhten Erwerbsbeteiligung und Beschäftigung von weiblichen und älteren Erwerbspersonen geführt. [3] Außerdem gibt es hoffnungsvolle Anzeichen dafür, dass durch Arbeitsmarktreformen, welche die Arbeitsanreize erhöht und die Maßnahmen zur Qualifizierung von Arbeitslosen verbessert haben, das für die Eurozone typische Muster einer sich von Abschwung zu Abschwung verfestigenden Arbeitslosigkeit durchbrochen werden konnte.

Trotz dieser partiellen Fortschritte, bleibt das Gesamtergebnis strukturpolitischer Maßnahmen im Hinblick auf nachhaltige Produktivitätssteigerungen eher ernüchternd:

[Folie Wirtschaftswachstum pro Beschäftigen im Euroraum und in den USA]

Das folgende Schaubild zeigt das Wachstum des realen BIP pro Beschäftigten in der Eurozone und in den USA im Zeitraum von 1997-2008. Es verdeutlicht, dass im längerfristigen Vergleich die Produktivität der Beschäftigten in den Ländern der Eurozone nicht nachhaltig gesteigert werden konnte und auch im internationalen Vergleich niedrig ausfällt.

[Folie Wachstum es realen BIP und Wachstumsbeiträge im Euroraum 1998-2009]

Und hier stellt uns der aktuelle Einbruch im Wachstum vor zusätzliche, enorme Herausforderungen, wie im folgenden Schaubild erkennbar ist. Es dokumentiert auf der Grundlage der Daten der Europäschen Kommission und ihrer Juniprognose für das laufende Jahr die Entwicklung des realen Wirtschaftswachstums im Euroraum in den Jahren 1998-2009 sowie das durchschnittliche Wachstum in den Jahren vor der Krise. Das Schaubild zeigt auch, wie sich das jährliche Wirtschaftswachstum aus den verschiedenen Komponenten, also den jährlichen Änderungen der Zahl der Erwerbspersonen, der Arbeitsmarktpartizipation, der Arbeitslosigkeit, der Arbeitsstunden pro Person und der Arbeitsproduktivität zusammensetzt.

In der Prognose für dieses Jahr sind deutlich die außerordentliche Zunahme der Arbeitslosigkeit, der im längerfristigen Vergleich außergewöhnliche Rückgang der Arbeitsproduktivität und auch der Rückgang der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen – im wesentlichen ein Effekt der Kurzarbeit – erkennbar, und man sieht deutlich den daraus resultierenden Einbruch im Wirtschaftswachstum. Vor diesem Hintergrund kommt es ganz wesentlich auf die weiteren Weichenstellungen in der Arbeitsmarktpolitik an, inwieweit der Zuwachs der Arbeitslosigkeit zeitlich begrenzt werden kann. Insbesondere sollten Schritte vermieden werden, welche die früheren Maßnahmen zur Erhöhung der Beschäftigung konterkarieren.

Lassen Sie mich daher drei strukturpolitische Maßnahmen herausgreifen, die ich für besonders zentral für einen nachhaltigen Beitrag für das Produktivitätswachstum ansehe.

Erstens, die Erhöhung von Arbeitsanreizen und eine der individuellen Arbeitsproduktivität entsprechende Entlohnung.

Zweitens, stärkere Investitionen in Bildung und Forschung.

Und drittens, Produktmarktreformen zu mehr Wettbewerb, die nicht zuletzt die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöht.

Was die strukturpolitischen Maßnahmen im Arbeitsmarkt angeht, so können Beschäftigung und Einkommen nachhaltig nur dann gesichert werden können, wenn die Entlohnung sich an der Produktivität der Beschäftigten orientiert, und wenn dabei auch die firmenspezifische Wettbewerbsfähigkeit berücksichtigt wird.

Nachhaltige Beschäftigungsgewinne erfordern auch, dass die Arbeitsanreize dauerhaft erhöht werden. Zum anderen muss der Bezug von Arbeitslosenleistungen mit der Bereitschaft und Initiative verknüpft sein, alles zu unternehmen um wieder in Beschäftigung zu kommen. Hier kommen auch Investitionen in Umschulungs- und Trainingsmaßnahmen eine bedeutende Rolle zu. Zusätzlich sind Maßnahmen zu begrüßen, die die Mobilität der Arbeitnehmer unterstützt, um Beschäftigungsanpassungen zu erleichtern.

Ein zweite wichtige strukturpolitische Säule sind Investitionen in Bildung und Forschung. Gerade in der Krise ist es von entscheidender Bedeutung Forschung und Innovation zu unterstützen, um mit innovativen Produkten und Produktionsverfahren den Weg aus der Krise zu erleichtern. Ebenso ist es außerordentlich wichtig, die Qualität der schulischen, universitären und berufsbegleitenden Ausbildung zu verbessern. Mit gut ausgebildeten Arbeitskräften kann die Produktivität gesteigert werden und so auf lange Sicht das Einkommen wirkungsvoll gesichert und vermehrt werden.

Beschäftigung und Realeinkommen können aber nicht alleine durch Arbeitsmarktreformen und bessere Ausbildung gesichert werden. Vielmehr müssen diese Maßnahmen durch einen funktionierenden Wettbewerb auf den Produktmärkten flankiert werden. Wettbewerb ist unerlässlich für Effizienz und niedrige Preise und gibt den Unternehmen Anreize, Qualität und Vielfalt der von Ihnen angebotenen Güter und Dienstleistungen zu erhöhen. Ein Beispiel für die Erfolge, die so erzielt werden können, ist sicherlich die Deregulierung und Wettbewerbsintensivierung in den Märkten der Telekommunikationsleistungen, die in den neunziger Jahren einsetzte. Niedrigere Produktpreise und bessere Qualitäten erhöhen die Kaufkraft der Löhne und kommen so auch den Arbeitnehmern zugute.

In anderen Märkten haben sich jedoch die bisherigen Fortschritte in der Förderung des Binnenmarkts und des Wettbewerbs leider sehr in Grenzen gehalten.

Darüberhinaus dürfen die aufgrund der Finanzkrise ergriffenen fiskalischen Maßnahmen langfristig nicht den Wettbewerb verzerren. Es muss klar sein, dass die Maßnahmen industriepolitisch nur auf eine kurzfristige Belebung der Nachfrage und auf die Stabilisierung spezifischer Branchen und einzelner Unternehmen abzielen. Auf längere Sicht bergen Staatshilfen die Gefahr, dass das Funktionieren des Europäischen Binnenmarkts beeinträchtigt und der Wettbewerb verzerrt wird und so notwendige wirtschaftliche Umstrukturierungen verzögert werden.

Wenn wir den Ausweg aus der Krise erfolgreich wirtschaftspolitisch flankieren wollen, müssen wir aber weiter nach vorne sehen und diese längerfristigen Folgen im Blick behalten. Eine vorausschauende Politik sollte daher den Schwerpunkt auf wettbewerbs- und innovationsfördernde Maßnahmen legen, denn diese erhöhen das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung nachhaltig.

V. Schlussfolgerungen

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die nationalen Regierungen und Notenbanken haben in der Krise entschlossen reagiert und notwendige Maßnahmen zur Stabilisierung getroffen. Insbesondere hat die Europäische Zentralbank eine Reihe von außergewöhnlichen Maßnahmen reagiert, ohne dabei ihr Ziel der mittelfristigen Preisstabilität aus den Augen zu verlieren.

Doch welchen Weg aus der Krise können wir einschlagen, um unsere Ökonomie auf einen dynamischen Wachstumspfad zu steuern?

Erstens müssen wir dafür sorgen, dass die für die Euro-Region so wichtige Kreditbereitstellung durch den Bankensektor wiederhergestellt wird.

Zweitens, ist eine ambitionierte und klar umrissene fiskalische Konsolidierung in den kommenden Jahren unerlässlich, damit der zur Krise notwendig gewordene fiskalische Stimulus private Nachfrage ankurbeln kann und langfristig die öffentliche Nachfrage wieder durch private ersetzt wird.

Und drittens, sollten wir Chancen in der Strukturpolitik nutzen, damit der krisenbedingte Anstieg der Arbeitslosigkeit rasch und dauerhaft wieder abgebaut werden kann und die Produktivität der Wirtschaft im Euroraum sich verbessert.

Die Krise hat uns aber auch gelehrt, dass Geld-, Fiskal-, und Strukturpolitik nicht hinreichend sind, um Wachstum zu garantieren. Was wir zusätzlich gewährleisten müssen, ist die Stabilität unseres Finanzsystems. Die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten haben von kurzem ein Programm zur Reform der Finanzmärkte beschlossen. Es gilt nun, diese Maßnahmen praktisch umzusetzen. Die bisher erzielte Stabilisierung der Finanzmärkte darf nicht zum Anlass genommen werden, Reformen zu verzögern oder zu verwässern. Der Europäische Rat hat die Voraussetzungen für den Aufbau einer neuen Finanzstabilitätsarchitektur geschaffen, die jetzt rasch umgesetzt werden muss. Um in der Zukunft besser gegen Risiken für die Stabilität der Finanzmärkte gewappnet zu sein, wurde die Einrichtung eines Europäischen Ausschuss für Systemrisiken („European Systemic Risk Board“) beschlossen. Seine Aufgabe wird es sein, die Entwicklung sowohl auf den Finanzmärkten als auch in der Realwirtschaft laufend zu beobachten, regelmäßig Einschätzungen über mögliche Gefahren für die Finanzstabilität zu geben, vor möglichen Risiken zu warnen und gegebenenfalls Handlungsempfehlungen zu geben, um diesen Risiken zu begegnen. Die Europäische Zentralbank wurde in diesem Zusammenhang um analytische, statistische und logistische Unterstützung gebeten. Der Ausschuss wird aus den Notenbankgouverneuren der 27 EU Staaten, den Vertretern der Aufsichtsbehörden, der EU Kommission und dem Vorsitzenden des Wirtschafts- und Finanzausschusses bestehen.

Meine Damen und Herren, wenn es uns gelingt nachhaltige Geld-, Finanz-, und Strukturpolitik in einem Umfeld von Finanzmarktstabilität durchzuführen, dann, bin ich mir sicher, werden die Menschen wieder volles Zutrauen in die Marktwirtschaft finden, und Unternehmer werden weiterhin unternehmerische Risiken eingehen und das notwendige Kapital finden um neue Produkte und Produktionsweisen auf den Märkten zu etablieren. Dann kann das Wirtschaftswachstum im Euroraum sich auch nachhaltig erholen, und wir einen dynamischen, „blauen“ Ausweg aus der Krise realisieren, der die in der Krise erlittenen Einkommensverluste wieder wettmacht und uns auf den Wachstumspfad vor der Krise zurückbringt. Meine Damen und Herren, Ich danke Ihnen sehr

  1. [1] Ich danke Tobias Linzert, Matthias Mohr, Sebastian Hauptmeier, Hannah Hempell, Alexander Al-Haschimi, Guido Wolswijk und Pedro Gustavo Teixeira für ihren Beitrag zur Vorbereitung dieser Rede. Diese Bemerkungen sollten nicht in Zusammenhang mit der in dieser Woche anstehenden geldpolitischen Entscheidung gesehen werden.

  2. [2] Anmerkung: Liquiditätsspritzen und Kapitalbeihilfen des Staates an Banken wirken sich aufgrund der EUROSTAT-Entscheidung vom 15. Juli 2009 zur statistischen Behandlung von Stützungsmaßnahmen im Bankenbereich als finanziell neutrale Transaktionen nicht auf das Defizit aus. Im Gegensatz dazu werden aber im Schuldenstand nach der Maastricht-Abgrenzung Rekapitalisierungsmaßnahmen und Kapitalerhöhungen erfasst.

  3. [3] So erhöhte sich die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den Ländern der Europäischen Union von 53.7% im Jahr 2000 auf gut 59% im Jahr 2008. Region: EU-27; Quelle: EUROSTAT Structural Indicators.

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