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Die Geldpolitik der EZB im Spannungsfeld globalisierter Finanzmärkte

Hochschule für Bankwirtschaft, Frankfurt am Main
Rede von Otmar Issing, Mitglied des Direktoriums der EZB, 19. Januar 2005

Einleitung

Jegliche Politik steht heute vor Herausforderungen, die ganz allgemein mit dem Thema „Globalisierung“ verbunden sind. Die Geldpolitik ist davon nicht ausgenommen, ganz im Gegenteil. Auf keinem anderen Gebiet sind Märkte weltweit enger integriert als im Bereich der Finanzströme. Lassen Sie mich jedoch mit einigen allgemeinen Anmerkungen zur Globalisierung beginnen.

Aus rein ökonomischer Sicht heißt Globalisierung nichts anderes, als die Dimension des Marktes auf die ganze Welt auszudehnen. In „welt“-wirtschaftlichen Kategorien haben die führenden Köpfe schon immer gedacht, nur war „die Welt“ zur Zeit der Griechen und Römer eben nicht identisch mit der Realität unseres Globus. Das ist bekanntlich heute anders. Heute bedeutet Globalisierung, dass die Wirtschaftstätigkeit zunehmend auf wirklich weltweiten Märkten erfolgt. Erst in dieser weltweiten Dimension kann der Markt seine wohlfahrtsfördernden Funktionen vollständig entfalten. Im Modell einer solchen Weltwirtschaft werden die produktiven Kräfte optimal eingesetzt. Die mobilen Faktoren suchen sich ihre produktivsten Verwendungsmöglichkeiten, das Kapital wandert zum besten Wirt. In diesem Prozess werden aber auch die immobilen Faktoren, dem Prinzip der komparativen Vorteile gehorchend, nach weltweit geltenden Kriterien sinnvoll eingesetzt.

Anders als bei einem Kartenspiel wirkt die Globalisierung nicht als ein Nullsummenspiel, in dem der eine nur auf Kosten des anderen zu gewinnen vermag. Die Globalisierung trägt entscheidend zur Vermehrung des „Kuchens“ bei, der verteilt werden kann. Dieser Prozess eröffnet nicht zuletzt den in der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgebliebenen Ländern Chancen, rasch aufzuholen. Dynamisch betrachtet ist die Globalisierung daher weit mehr als ein Allokationsmechanismus; sie wirkt vielmehr über diese Funktion hinaus als ein Katalysator des Wettbewerbs, in dem sich, gemäß dem Schumpeterschen Prozess der Zerstörung und Erneuerung, die produktiven Kräfte weltweit optimal entfalten. In das von Hayek so benannte „Entdeckungsverfahren“, also die allgemeine Suche nach besseren Lösungen, ist die ganze Welt einbezogen.

Funktioniert das Modell der Ökonomen? Ja, aber nur wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind. Dies erläutert z.B. Martin Wolf eindringlich in seinem jüngsten Buch „Why globalisation works“. Er argumentiert, dass Globalisierung dann segensreich wirkt, wenn umsichtige Regierungen im Amt sind und eine solide, nachhaltige makroökonomische Politik betreiben. Er unterstreicht die Interdependenz zwischen Märkten und Staaten. Gut funktionierende Märkte benötigen einen soliden Ordnungsrahmen, der individuelle Rechte schützt, insbesondere Eigentumsrechte, und generell angemessene Rahmenbedingungen für die Wirtschaftstätigkeit verlässlich bereitstellt. Das Fortschreiten der Globalisierung verringert daher die Bedeutung des Staates keineswegs, im Gegenteil. Länder werden sich nur dann weiterentwickeln und nachhaltigen Wachstum erreichen, wenn sie sich in richtiger Weise in die Weltwirtschaft integrieren.

Im völligen Kontrast dazu identifizieren die Gegner der Globalisierung negative, ja verheerende Wirkungen auf einzelne Volkswirtschaften und die Welt insgesamt. Nach ihrer Meinung bedrohen die Globalisierung – und der damit oft gleichgesetzte Neoliberalismus – wenn nicht die Menschheit selbst, so doch die Vorstellung von einer humanen Welt.

Gegen den „Horror der Ökonomie“ (Forrester), den „Frankenstein deregulierter Märkte“ (Greider) gilt es Widerstand zu organisieren. Le Monde ruft unter dem Titel „Vive le Roquefort libre“ zum Kampf gegen die Ausbreitung des Hamburgers aus – der französische Schafzüchter José Bové wird in seiner Schlacht gegen die McDonaldisierung Frankreichs zum sympathischen Helden.

Die größten Gefahren drohen in dieser Sichtweise von den internationalen Finanzmärkten, auf denen in Minutenschnelle unvorstellbare Summen transferiert werden. Nationen, insbesondere Entwicklungsländer sind danach auf Gedeih und Verderb der Willkür global agierender Spekulanten ausgesetzt. Notenbanken werden nach dieser Auffassung entweder als ohnmächtige Beobachter gesehen – oder schlimmstenfalls sogar als Teilnehmer an Aktionen, die den Interessen der reichen Länder dieser Erde dienen.

Soweit das Zerrbild, dessen Vertreter sich gleichermaßen immun gegenüber theoretischen Argumenten und einer Fülle von empirischen Belegen für die positiven Wirkungen der Globalisierung zeigen. In diesen Tagen zeigt sich jedoch eine Seite der Globalisierung, vor der sogar die Kritiker verstummen; die weltweite Hilfe, die immensen finanziellen Mittel, die ausgelöst sind durch eine Anteilnahme am Schicksal ferner Länder, eine Anteilnahme, die keine Grenzen der Nationalität oder Religion kennt. Globalisierung ist eben nicht nur Ökonomie, sie erfasst – im Guten wie im Negativen so gut wie alle Bereiche unseres Lebens.

Im folgenden werde ich mich auf das gewählte Thema beschränken und dabei auf die Aspekte der Geldpolitik und der globalisierten Finanzmärkte eingehen:

  • Einige Fakten zu Nutzen und Risiken globalisierter Finanzmärkte.

  • Die Wechselwirkung zwischen den Finanzmärkten und strategischen Elementen der Geldpolitik.

  • Der Kontext zur Geldpolitik der EZB.

Globalisierung der Finanzmärkte

Einige Fakten

Die nationalen Finanzmärkte sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer stärker miteinander verbunden, „integriert“ worden. Weil dies für die meisten Länder zutrifft, kann man tatsächlich von einer zunehmenden Globalisierung der Finanzmärkte sprechen. Ausdruck der finanziellen Globalisierung ist ein deutlicher Anstieg der grenzüberschreitenden Finanzströme weltweit. Angetrieben wurde diese gestiegene De-facto-Integration im Wesentlichen durch den kontinuierlichen Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen und die Liberalisierung der nationalen Finanzmärkte – also eine stärkere De-jure-Integration der Finanzsysteme – sowie durch Fortschritte in der Informationstechnologie und die wachsende Verbreitung von Finanzinnovationen.

Um die quantitativen Dimensionen der Globalisierung zu verdeutlichen, weisen insbesondere Kritiker häufig auf das explosionsartige Wachstum der Devisenmarkttransaktionen hin. So sind die börsentäglichen Devisenmarktumsätze weltweit von etwa 70 Milliarden US-Dollar im Jahre 1970 auf mehr als 1 Billion US-Dollar heutezutage angestiegen.

Mit diesem geradezu dramatischen Anstieg der Umsätze sind die Devisenmärkte aber keineswegs entsprechend anfälliger für Schwankungen geworden. Im Gegenteil, die schnell steigenden Handelsumsätze an den Devisenmärkten spiegeln eine deutlich verbesserte Liquiditätssituation wider, die sich tendenziell sogar dämpfend auf die kurzfristige Wechselkursvolatilität auswirkt und damit allen Marktteilnehmern – also gerade auch Exporteuren und Importeuren von Waren und Dienstleistungen – verlässlichere Kalkulationsgrundlagen verschafft.

Um den Offenheitsgrad der nationalen Finanzsysteme abschätzen zu können, ist es zweckmäßiger, bestimmte Positionen der Kapitalbilanzen einzelner Länder oder Ländergruppen zu betrachten, die den Kapitalverkehr zwischen In- und Ausländern als Nettoströme erfassen und sich sinnvoll mit anderen makroökonomischen Kenngrößen wie dem Bruttoinlandsprodukt vergleichen lassen. So hat der Offenheitsgrad der Industrieländer – gemessen an dem prozentualen Verhältnis der Summe der Bruttoauslandsforderungen und -verbindlichkeiten zum Bruttoinlandsprodukt – seit Anfang der Achtzigerjahre gewaltig zugenommen. Betrug diese Kennziffer im Jahre 1970 noch etwa 10 %, so ist sie im neuen Jahrhundert auf ungefähr 150 % gestiegen. Hierbei zeigen sich allerdings auch deutliche Unterschiede im Offenheitsgrad zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Die Finanzsysteme in den Entwicklungsländern sind weit weniger stark international integriert als die der entwickelten Volkswirtschaften.

Wenn ich die vorliegende empirische Evidenz zur internationalen Kapitalmarktintegration vereinfacht zusammenfasse, zeigt sich allerdings, dass die internationalen Kapitalmärkte noch weit vom idealen Zustand einer vollkommenen Integration entfernt sind. Betrachtet man etwa, ungeachtet aller Fortschritte, allein die immer noch relativ geringe internationale Diversifikation der Vermögensbestände einzelner Wirtschaftssubjekte und ganzer Volkswirtschaften, so dürften auch weiterhin noch gewaltige Spielräume für eine weitergehende Globalisierung der Finanzsysteme bestehen.

Nutzen

Alle Länder können vom internationalen Kapitalverkehr profitieren, solange die Kapitalexporteure in der Lage sind, im Ausland Renditen zu erwirtschaften, die höher sind als die Opportunitätskosten im Heimatland, und solange Kapitalimporteure diese Mittel in Projekte investieren, die tatsächlich im Durchschnitt höhere Renditen erbringen. Als Folge dieses Kapitalimports steigen Wachstum und Einkommen in den Entwicklungsländern. Aber auch die Industrieländer profitieren vom Kapitalexport durch Realeinkommensgewinne.

Ein Hauptargument für den internationalen Kapitalverkehr liegt in der Aussicht auf höheres Wachstum, das gerade Entwicklungsländer durch eine Steigerung der inländischen Investitionen erreichen können. Besonders ausgeprägt ist dieser wachstumsfördernde Effekt bei Direktinvestitionen. Neben dem direkten Effekt eines höheren Kapitalstocks führen nämlich Direktinvestitionen häufig auch zu einem Transfer von technologischem Wissen und Managementerfahrung; dies bewirkt eine zusätzliche Verbesserung der Produktionskapazitäten. Länder, deren Finanzsystem stärker international integriert ist, ziehen tatsächlich mehr Direktinvestitionen auf sich als Länder mit eher geschlossenen Finanzmärkten. Ein Grund hierfür kann der stärkere Zwang zu wirtschaftspolitischer Disziplin sein. Die Wirtschaftspolitik in Ländern mit relativ offenen Kapitalmärkten ist in der Tat tendenziell stärker auf makroökonomische Stabilität, insbesondere Preisstabilität, ausgerichtet. Die Disziplinierungsfunktion der Finanzmärkte liegt darin, dass die Marktteilnehmer sehr schnell auf Anzeichen einer falschen Wirtschaftspolitik reagieren und die betroffenen Länder mit entsprechend höheren Kapitalbeschaffungskosten als Folge gestiegener Risikoprämien „bestrafen“ würden, was diese naheliegenderweise möglichst zu vermeiden suchen.

Die Zugangsmöglichkeit zu internationalen Finanzmärkten erlaubt es der Bevölkerung in den einzelnen Ländern zudem ihre Konsumausgaben langfristig zu glätten. Die Erklärung hierfür ist einfach: Der Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten ermöglicht der Wirtschaft als Ganzes eine „intertemporale Substitution“ zwischen dem Konsum in der Gegenwart und in der Zukunft. In einer Rezession kann sich zum Beispiel eine Nation im Ausland „verschulden“ und den Konsum über die inländische Produktion hinaus erhöhen, um zu einem späteren Zeitpunkt bei höherer inländischer Produktion die Schulden zurückzuzahlen. Die Schwankungen des gesamtwirtschaftlichen Konsums sollten daher infolge einer stärkeren internationalen Integration der Finanzmärkte abnehmen.

Ein weiterer Vorteil einer stärkeren internationalen Integration im Finanzbereich liegt in möglichen Effizienzgewinnen für die lokalen Bankensysteme. Ursache hierfür ist der stärkere Wettbewerb, dem die Banken durch den Zugang zu internationalen Finanzierungsmöglichkeiten ausgesetzt sind. Der Wettbewerbsdruck führt zu verstärkten Investitionen in neue Technologien, die wiederum tendenziell dazu beitragen, die Kosten der Bankintermediation und damit auch die gesamtwirtschaftlichen Finanzierungskosten zu senken.

Risiken

Selbstverständlich bleibt weder Ökonomen noch Politikern verborgen, dass in der Realität viele der dem oben skizzierten neoklassischen Grundmodell zugrunde liegenden Annahmen häufig nicht erfüllt sind. Zum Beispiel verhindern oder behindern Länderrisikoprämien, die die Einschätzung der Investitionsrisiken durch ausländische Investoren widerspiegeln, einen vollständigen Ausgleich der Grenzertragsraten auf Kapital. Solche Investitionsrisiken umfassen Faktoren wie die Risiken einer Wechselkursabwertung, Konvertibilitätsrisiken („Mausefallenwährung“), mangelhafte Rechts- und Bilanzierungsvorschriften, Reputationsverluste durch Kreditausfälle sowie Risikoprämien, die andere Formen „asymmetrischer Informationen“ widerspiegeln wie zum Beispiel Probleme der adversen Selektion bei hoher Projektunsicherheit, des „moral hazard“ durch die Möglichkeit eines „strategischen Staatskonkurses“ usw.

Solche Risikoprämien können insbesondere für Entwicklungsländer rasch prohibitiv hoch werden und dadurch eine Kapitalflucht auslösen bzw. Kapitalimporte de facto blockieren, selbst wenn die Grenzproduktivität des Kapitals in den betroffenen Ländern ohne diese Risiken relativ hoch sein könnte. Im schlimmsten Fall wird ein Land von der internationalen Investorengemeinschaft von vornherein gänzlich ausgeschlossen, wenn die Investitionsrisiken durch politische Instabilität, Korruption oder unzureichende Eigentumsrechte unkalkulierbar sind. Dieser Befund trifft leider gerade auf eine Reihe der ärmsten Länder zu.

Ein anderes Risiko, das die Globalisierungskritiker anführen, besteht darin, dass die gestiegene internationale Kapitalmobilität in den Entwicklungsländern in der Vergangenheit verschiedentlich zu einer Destabilisierung der Finanzmärkte und zu einem Rückschritt in der wirtschaftlichen Entwicklung geführt hat. In der Tat kam es seit den Achtzigerjahren vor allem in diesen Ländern zu zahlreichen Währungs- und Finanzkrisen, wobei den Krisen in vielen Fällen eine weit reichende Finanzmarktliberalisierung vorausging. Zudem blieben die Finanzkrisen häufig nicht auf das Ursprungsland beschränkt, sondern wurden über verschiedene Kanäle auf Länder mit ähnlichen Strukturen übertragen. Meistens stehen derartige „Ansteckungseffekte“ tatsächlich in einem engen Zusammenhang mit einer verstärkten internationalen Finanzmarktintegration.

Solche Ansteckungseffekte spiegeln in der Regel gleichgerichtete Anlageentscheidungen weltweit agierender Finanzinvestoren wider. Ein derartiges „Herdenverhalten“ muss jedoch nicht aus irrationalen Verhaltensmustern der Anleger resultieren. Rationale, allerdings unter starker Unsicherheit getroffene Anlageentscheidungen einzelner Investorenvermögen so genannte Informationskaskaden auslösen, die sich in Krisenfällen rasch zu einem Massenphänomen ausweiten können. Die Tatsache, dass Finanzkrisen häufiger in Entwicklungsländern auftreten, kann ökonomisch vor allem damit erklärt werden, dass die vielfältigen Informationsprobleme, aus denen in aller Regel ein „Marktversagen“ abgeleitet wird, in diesen Ländern weitaus stärker ausgeprägt sind als in Industrieländern. In aller Regel sind die zugrunde liegenden Defizite politisch bedingt. Zum Beispiel ist die politische und wirtschaftliche Unsicherheit in Entwicklungsländer meist höher, was eine Bewertung von Investitionsprojekten und der Kreditwürdigkeit wesentlich erschwert. Ähnlich wirken ein mangelhaft ausgebildeter Rechts-, Regulierungs- und Aufsichtsrahmen des Finanzsystems sowie hohe und volatile Inflationsraten. Die Tatsache, dass in vielen Fällen vor Ausbruch der Krisen beträchtliche Finanzmittel in die betroffenen Länder geflossen sind, spricht allerdings dafür, dass die internationale Anlegergemeinschaft die mit diesen Anlagen verbundenen erhöhten Risiken systematisch unterschätzte.

Höhere Volatilität der internationalen Kapitalströme bedeutet jedoch keineswegs, dass die Entwicklungsländer – über einen längeren Zeitraum hinweg gesehen – nicht von der Einbindung in die Weltwirtschaft profitieren. Im Gegenteil, die empirische Evidenz legt nahe, dass das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in den stärker finanziell integrierten Ländern höher ist.

Finanzmärkte und strategische Aspekte der Geldpolitik

Globalisierte Finanzmärkte und Geldpolitik hängen eng miteinander zusammen. Jede Zentralbank, die in einer offenen Marktwirtschaft agiert, übt mit der Durchführung ihrer Geldpolitik einen – mehr oder weniger direkten – Einfluss auf einige sehr kurzfristige Zinssätze aus; diese wirken sich wiederum auf die Renditen anderer im internationalen Finanzsystem gehandelter Vermögenswerte aus. Umgekehrt hat die Geldpolitik bei ihren Entscheidungen die internationalen Interdependenzen zu berücksichtigen.

In diesem Zusammenhang wird mitunter die Meinung vorgebracht, dass es in einer Welt, in der Finanzmärkte Informationen immer effizienter verarbeiten und aggregieren, die internationalen Finanzmärkte sind, die die Führung übernehmen, und nicht die Geldpolitik. Gemäß dieser Argumentation hat sich die Funktion der Währungsbehörden darauf zu beschränken, die Erwartungen der Finanzmärkte zu bestätigen – da diese bereits in den Marktpreisen vor allem der festverzinslichen Instrumente enthalten sind. Entsprächen die Währungsbehörden nicht dem, was die Märkte von ihnen in absehbarer Zukunft erwarten, würden die Finanzmärkte sie „abstrafen“ – beispielsweise indem sie aufgrund der höheren Unsicherheit höhere Risikoprämien verlangten.

Die Behauptung, dass die Zentralbanken in der Realität möglicherweise nur Markterwartungen „vollziehen“, resultiert wohl aus der einfachen Beobachtung heraus, dass die vom Markt bestimmten Nominalzinsen langfristiger Anleihen häufig den von der Zentralbank festgesetzten kurzfristigen Zinssätzen vorausgehen.

Diese Argumentation beruht auf zwei Fehlschlüssen.

Zum einen mag es zwar manchmal den Anschein haben, als ob die Finanzmärkte die Führung übernähmen und die Währungsbehörden nachfolgten, während in Wirklichkeit genau das Gegenteil zutrifft. Die Marktteilnehmer bilden ihre Erwartungen über die künftigen Zinssätze nicht zuletzt auf der Annahme eines bestimmten Verhaltens der Notenbank. Wenn aber die Geldpolitik transparent und glaubwürdig durchgeführt wird, – die „Reaktionsfunktion“ der Geldpolitik also mehr oder weniger bekannt ist - sind die Märkte in der Lage, zukünftige geldpolitische Entscheidungen in Kenntnis der Strategie und auf der Grundlage aktueller wirtschaftlicher Entwicklungen ziemlich genau abzuleiten. Indem sie die Geldpolitik der Notenbank (richtig) antizipieren, reagieren sie daher auf die erwartete Geldpolitik – und tragen zu deren Erfolg entscheidend bei.

Die EZB hat diese Zusammenhänge von Anfang an berücksichtigt und in einer klaren Ausrichtung und Kommunikation ihrer Strategie Rechnung getragen. Die Finanzmärkte haben unsere Entscheidungen weitgehend antizipiert und damit zum Erfolg unserer Politik beigetragen. So wichtig die Interaktion mit den Märkten ist, so muss die Notenbank doch darauf achten, am Ende nicht in den Schlepptau der Markterwartungen zu geraten.

Märkte können sich irren. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang Bemerkungen Alan Blinder’s zitieren, auch wenn ich seine Skepsis zum Funktionieren der Finanzmärkte nicht völlig teile:

„... Den Märkten zu folgen, mag eine nette Methode sein, um böse finanzielle Überraschungen zu vermeiden, was ein legitimes Ziel an sich ist. Ich befürchte aber, dass dies zu einer eher schlechten Geldpolitik führen kann, und zwar aus mehreren Gründen. Ein Grund ist, dass spekulative Märkte dazu neigen, dem Herdentrieb zu folgen und auf fast alles überzureagieren. Zentralbanker hingegen müssen vorsichtiger und überlegter vorgehen. Ein weiterer Grund ist, dass Finanzmärkte äußerst empfänglich für Launen und spekulative Blasen zu sein scheinen, die mitunter stark von den Fundamentaldaten abweichen. Die Zentralbanker müssen selbst dafür sorgen, dass sie gegen Launen immun sind und ihren Blick stets auf die Fundamentaldaten richten. Schließlich verhalten sich Händler an Finanzmärkten – selbst diejenigen, die mit langfristigen Finanzinstrumenten handeln – oft so, als ob sie einen lächerlich kurzen Zeithorizont hätten; dabei ist es für ein angemessenes Zentralbankwesen gerade wesentlich, lange zeitliche Horizonte beizubehalten.“ Und – möchte ich hinzufügen – Notenbanken dürfen niemals ihr eigentliches Ziel, die Erhaltung des Geldwertes, aus den Augen verlieren.

Szenarien, in denen Wellen von Herdenverhalten und spekulativem Handel die Marktdynamik beherrschen, werfen eine doppelte Frage auf: Sind finanzielle Extremsituationen für die Wirtschaft von Bedeutung, und wenn dies der Fall ist, wie soll sich eine Zentralbank in einer Situation verhalten, in der die Märkte ihre Effizienz bei der Allokation der Ressourcen verloren zu haben scheinen?

Historisch betrachtet gab es immer wieder Episoden, in denen ein Preisverfall bei den Vermögenswerten nachhaltige deflationäre Tendenzen und Probleme finanzieller Instabilität hervorgerufen hat. Beide Phänomene sind für die Wirtschaft von großer Bedeutung.

In dieser Welt können und sollten die Zentralbanken gegenüber dem Markt eine führende Rolle spielen, indem sie besonders in Zeiten finanzieller Unruhe die Richtung vorgeben und für eine klare Orientierung sorgen. In dieser Hinsicht ist die geldpolitische Strategie des Eurosystems und vor allem die Bedeutung der monetären Analyse in besonderem Maße angemessen. Es dürfte kaum eine längere Phase eines starken Anstiegs der Vermögenspreise gegeben haben, die nicht von einer erheblichen Ausweitung der Geldmenge und/oder der Kreditvergabe begleitet war. In dieser schwierigen Situation wird die Bedeutung der Kommunikation bei der Durchführung der Geldpolitik umso größer. Der Markt, der darauf brennt, neue Informationen zu erhalten, wird die Rolle der Zentralbank als „Leuchtturm“ verstehen.

Die Geldpolitik der EZB

Lassen Sie mich abschließend kurz erläutern, wie es der EZB gelungen ist die Funktion eines „Leuchtturms“ für die Finanzmärkte erfolgreich zu erfüllen. Der Erfolg, den die EZB in der Stabilisierung der Inflationserwartungen und der Vorhersagbarkeit geldpolitischer Entscheidungen verzeichnen kann, ist zu einem großen Teil das Ergebnis eine konsistenten und transparenten Handelns auf der Basis einer klaren geldpolitischen Strategie.

Die EZB hat sich von Beginn an auf eine verbindliche Definition von Preisstabilität festgelegt, die ihrem Mandat Rechung trägt und andererseits den Gefahren von Inflation und Deflation vorbeugt. Damit hat sie den Finanzmärkten und der Öffentlichkeit eine glaubwürdige Richtschnur für ihre geldpolitische Ausrichtung vorgegeben. Zudem wurde ein analytischer Rahmen geldpolitischer Entscheidungen definiert und stetig weiterentwickelt. Dieser analytische Rahmen hilft auch, Informationen effektiv nach außen zu kommunizieren. Er gibt insofern ein Instrument an die Hand, das beiden Seiten, sowohl der EZB als auch der Öffentlichkeit hilft, Informationen angemessen zu gewichten und zu deuten. Außerdem unterstreicht die Hervorhebung monetärer Entwicklungen, die in einem langfristigen Zusammenhang mit der Inflation zu sehen sind, die mittelfristige Orientierung der Strategie der EZB.

Die Effektivität der Geldpolitik wird durch eine transparente Kommunikation geldpolitischer Entscheidungen unterstützt. Hierzu trägt neben viele anderen Kommunikationskanälen auch die Pressekonferenz bei, auf der der Präsident und Vizepräsident quasi in Echtzeit die Entscheidung des Rates erläutern. Von zentraler Bedeutung ist und bleibt jedoch der track record einer konsistenten Geldpolitik. Er unterstützt die „Leuchtturmfunktion”. Allerdings macht er Kommunikation nicht hinfällig. Vorübergehende Abweichungen von der Definition der Preisstabilität müssen überzeugend erklärt werden, damit die Finanzmärkte und die Öffentlichkeit den Kurs der Geldpolitik verstehen und vorhersagen können.

Zusammenfassend gilt: Eine glaubwürdige Strategie, einschließlich der quantitativen Definition der Preisstabilität, ein überzeugender track record und eine entsprechende Kommunikation ergänzen sich gegenseitig und kennzeichnen eine effiziente Geldpolitik. Dabei besteht eine wichtige Aufgabe der Notenbank, und gerade einer erfolgreichen Notenbank, auch darin, der Öffentlichkeit die Grenzen ihres Auftrages und ihrer Möglichkeiten überzeugend darzulegen. Ansonsten werden notwendigerweise Erwartungen enttäuscht und die Glaubwürdigkeit der Notenbank nimmt Schaden. In diesem Kontext spielen die Beschränkungen aufgrund der noch unvollständigen Finanzmarktintegration in Europa wie auch die Unwägbarkeiten einer zunehmenden Globalisierung der Finanzmärkte eine wichtige Rolle.

Schlussbetrachtungen

Die Globalisierung hat der Welt einen gewaltigen Zuwachs an Wohlstand beschert – freilich nicht allen Ländern und allen Schichten. Die internationalen Finanzmärkte haben Kreditnehmern den Zugang zum weltweiten Kapitalangebot erleichtert und die Anlagemöglichkeiten für Sparer auf der ganzen Welt verbessert. In einer Welt, in der die Demographie gewaltige Herausforderungen bereithält, wird der weltweite Ausgleich von Sparen und Entsparen wichtiger denn je. Angesichts der Vorteile, die der verbesserte Zugang zu globalen Finanzmärkten insgesamt mit sich bringt, wäre es der falsche Weg, die Freiheit der Kapitalflüsse zu beschränken. Die beste Möglichkeit, den aus der Globalisierung der Finanzmärkte entstehenden Nutzen zu maximieren und das Risiko von Störungen der nationalen Wirtschaftspolitik zu verringern, besteht in einer solide und nachhaltig gestalteten Politik „zu Hause“. Darüber hinaus müssen die Finanzsysteme umsichtig reguliert und beaufsichtigt werden, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene.

Zentralbanker können zwei wichtige Beiträge leisten, um den wichtigen Motor des Weltwirtschaftswachstums – die Globalisierung – zu unterstützen und zu fördern. Zum einen sollten wir nicht zögern, unsere Mitmenschen auf die tatsächlichen Vorteile aufmerksam zu machen, die längerfristig durch einen weltweit freien Handel mit Waren, Dienstleistungen und finanziellen Vermögenswerten entsteht. Dieser Nutzenzuwachs kann nicht nur im Durchschnitt allen Handelspartnern zugute kommen, sondern gerade auch den am stärksten Benachteiligten innerhalb dieser am Handel beteiligten Gesellschaften. Zum anderen müssen geldpolitische Entscheidungsträger die Kontrolle über den Anker der Preisstabilität behalten, um langfristig ein maximales nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu unterstützen.

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