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Globalisierung Zerrbild und Wirklichkeit

Professor Dr. Dr. h.c. mult. Otmar Issing, Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank, Rede anlässlich der Verleihung der Bernhard Harms Medaille am Institut für Weltwirtschaft, Kiel, 26. Juni 2004

Einleitung

In seinem neuen Buch „In Defense of Globalisation“ stellt Jagdish Bhagwati die Frage: „Does the world need yet another book on globalisation?“[1] Mit noch mehr Berechtigung könnten Sie fragen, ob es noch eines weiteren Vortrages zu diesem Thema bedarf. Gerade hier im Institut für Weltwirtschaft über Globalisierung zu sprechen heißt nun wirklich Möwen nach Kiel zu tragen.

Und doch, bei einem Thema, das an den Rändern längst ausfranst – die Nachfrage im Google-System ergab Anfang April 2004 eine Trefferquote von 1,4 Millionen – und schließlich auch im Kern im diffusen Licht einer globalen Ethik zu verschwimmen droht, mag es immer wieder einmal geboten erscheinen, die einfachen Grundsätze der Ökonomie sprechen zu lassen. Damit will ich keineswegs behaupten, Globalisierung erschöpfe sich in wirtschaftlichen Zusammenhängen. In dem mörderischen Akt am 11. März diesen Jahres hat sich nicht zuletzt auch eine andere Seite der Globalisierung offenbart. Der Terrorismus bedient sich der Mittel der modernen Technik, die sich weltweit bis in den letzten Winkel der Erde verbreitet hat. Gleichzeitig kann man nicht übersehen, dass die als Bedrohung herkömmlicher Lebensweisen empfundene rapide Ausbreitung von westlichen Ideen und wirtschaftlichen Beziehungen von religiösen Fanatikern als schreckenerregendes Motiv missbraucht wird, um die Globalisierung mit deren eigenen Mitteln zu bekämpfen.

Es bleibt für mich eine offene Frage, inwieweit unsere gegenüber solchen Terrorakten so empfindliche Welt in der Zukunft nicht mehr und mehr ihr Heil in der am Ende vermutlich doch aussichtslosen Flucht nach Abschottung und nationaler Kontrolle suchen wird. Wenn es jedenfalls nicht gelingt, die Wege der Kommunikation und des Transports zu schützen, könnte eine lange Phase der Geschichte an ihr Ende kommen, die über einen stetigen Rückgang der Transportkosten – im weitesten Sinne – den Austausch von Gütern und Leistungen zum Wohle der Menschheit befördert hat.[2]

Die Gegner der Globalisierung

Die Gegner der Globalisierung haben nicht nur ihre Kampfbereitschaft in militanten Krawallen demonstriert, sondern verfügen längst weltweit über ein dichtes Netzwerk. In aller Kürze lautet ihre Botschaft: Die Globalisierung und der damit meist kongruent gesetzte Neoliberalismus bedrohen, wenn nicht die Menschheit selbst, so doch die Vorstellung einer humanen Welt. Rund um den Erdball sind sich viele Politiker und noch mehr Intellektuelle einig in der Verdammung der Globalisierung.[3]

So argumentiert zum Beispiel William Greider in seinem Buch „One World, Ready or Not – The manic logic of Global Capitalism“, dass die globale Expansion der Märkte den sozialen Zusammenhalt unterminiert und die Welt unweigerlich in eine wirtschaftliche und politische Krise führen wird.[4] Ein Regierungschef hat in den neunziger Jahren den casus auf einen noch einfacheren Nenner gebracht: Der Staat, das ist die Zivilisation, der Markt, das ist der Dschungel. Die Politik wird, ganz in der Logik dieses Denkens aufgerufen, den „Frankenstein deregulierter globaler Märkte“ unter Kontrolle zu bringen.[5]

Bevor der Ökonom sein Handwerk beginnt, den Dingen mit rationalen Argumenten auf den Grund zu gehen, nur eine Warnung vor voreiliger Sympathie für die Globalisierungsgegner oder gar blinder Gefolgschaft: Mag sich etwa der Kampf des französischen Schafzüchters José Bové gegen die „McDonaldisierung Frankreichs“ ebenso romantisch-sympathisch ausnehmen wie der Titel „vive le Roquefort libre“ in Le Monde für den heroischen Kampf gegen die Ausbreitung des Hamburgers,[6] - die Warnung vor dem Fremden und den Fremden, die Verteufelung aller Einflüsse von außen, die heute unter dem Schlagwort „Globalisierung“ stigmatisiert werden, ist seit jeher und zuvorderst die Botschaft der Nationalisten dieser Welt.

Globalisierung – die Welt ein Markt

Es liegt mir ferne, eine Semantik zum Thema „Globalisierung“ zu versuchen. Gleichwohl verlangt jeder Ansatz, Einzelaspekte zu erfassen, das Bewusstsein: Globalisierung ist ein umfassender Prozess des immer intensiveren Austausches von Menschen, Ideen, Gütern, Kapital mit dem Potential, alle Bereiche des Staates und der Gesellschaft zu beeinflussen und gegebenenfalls vollständig zu verändern.

Aus rein ökonomischer Sicht heißt Globalisierung nichts anderes, als die Dimension des Marktes auf die ganze Welt auszudehnen. Zum Global Village der Medien korrespondiert der eine Markt. Erst in dieser weltweiten Entfaltung kann der Markt seine wohlfahrtsfördernden Funktionen vollständig entwickeln. Im Modell dieser Welt-Wirtschaft werden die produktiven Kräfte optimal eingesetzt. Die mobilen Faktoren gelangen in die produktivsten Verwendungen, das Kapital wandert zum besten Wirt. In diesem Prozess werden aber auch die immobilen Faktoren unter dem Prinzip der komparativen Vorteile nach weltweit gültigen Kriterien sinnvoll geleitet.

Diese Erkenntnis kann im übrigen beileibe nicht als Errungenschaft unserer Zeit gelten. In seinem „Wohlstand der Nationen“ legt Adam Smith in umfangreichen Passagen dar, wie Marktvorgänge global ausgerichtet sind. An historischen Beispielen, die bis in die Antike zurückreichen, hebt er die – in der jeweiligen Zeit – weltweite Orientierung der Kapitalanleger hervor. Nicht von ungefähr findet man den Hinweis auf das für die Allgemeinheit positive Wirken der unsichtbaren Hand eingebettet in diese Überlegungen.[7]

Seine segensreichen Wirkungen kann der Markt, und zwar national wie international, allerdings nur entfalten, wenn entsprechende Rahmenbedingungen wie vor allem Rechtssicherheit und Garantie des Eigentums gewährleistet sind. In dieser Marktwirtschaft gelten eben gerade nicht die Gesetze des Dschungels, sondern die des wohlgeordneten Rechtes mit allen Sanktionen für Vertragsverletzungen und andere Verstöße.

Die Globalisierung wirkt nicht als Nullsummenvorgang, in dem – wie beim Kartenspiel – der eine nur auf Kosten des anderen zu gewinnen vermag. Die Globalisierung trägt entscheidend zur Vermehrung des „Kuchens“ bei, der verteilt werden kann. Dieser Prozess eröffnet nicht zuletzt den in der wirtschaftlichen Entwicklung zurückgebliebenen Ländern Chancen, rasch aufzuholen. In dynamischer Sicht ist die Globalisierung daher weit mehr als ein Allokationsmechanismus, sie wirkt über diese Funktion hinaus als Katalysator des Wettbewerbs, in dem im Schumpeterschen Prozess der Zerstörung und Erneuerung sich die produktiven Kräfte weltweit optimal entfalten. In das von Hayek so benannte „Entdeckungsverfahren“, die allgemeine Suche nach besseren Lösungen, ist die ganze Welt einbezogen

Soweit das Modell der Ökonomen. Eine Utopie, eine Illusion? Keineswegs. Zunächst: Globalisierung ist als Prozess zu verstehen, der einerseits niemals vollständig abgeschlossen ist, andererseits auch in der Vergangenheit tendenziell zu beobachten war, insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vor allem aber hat die Botschaft der Ökonomen die Empirie auf ihrer Seite. Ganz pauschal und doch richtig: In der Tabelle des Wohlstandes stehen die Länder ganz oben, die sich dem weltweiten Wettbewerb stellen, und diejenigen ganz unten, die sich abschotten oder durch politische Instabilität, durch grobe Mängel in der Rechtssicherheit und fehlende Garantie des Eigentums, ihre Chancen auf Teilhabe am globalen Wohlstandsgewinn verspielen.

Inzwischen belegen zahlreiche empirische Studien diese These. Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit hat sich die Lebenssituation so vieler Menschen in so kurzer Zeit so deutlich verbessert wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Erfolg gilt allgemein in einem doppelten Sinne. Zum einen ist nicht nur der Lebensstandard gemessen am Realeinkommen gestiegen, sondern andere Indikatoren wie Lebenserwartung etc. weisen in die gleiche Richtung. Zum anderen bleibt dieser Fortschritt keineswegs auf die westlichen Industrieländer beschränkt, gerade eine ganze Reihe ehemals extrem armer Länder haben besonders große Fortschritte erzielt.[8]

Freilich nicht alle. Die Globalisierung selbst schafft nicht quasi automatisch Wohlstand allerorts. Sie eröffnet das Potential für wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Aufstieg. Länder, die dieses Potential genutzt haben, können auf teilweise geradezu atemberaubende Erfolge verweisen. An anderen ist diese Entwicklung weitgehend vorbeigegangen.[9] Im einzelnen sind die Gründe dafür ganz unterschiedlich. Ein Element dürfte jedoch allen Fällen gemeinsam sein, nämlich das Ausbleiben ausländischer Investitionen. Das private Kapital macht insbesondere um Länder mit unsicheren politischen Verhältnissen einen weiten Bogen, Direktinvestitionen werden eben nicht im „Dschungel“ getätigt.

Unter diesen Bedingungen bewirkt die Globalisierung wachsende Ungleichheit zwischen den Nationen, wie denn überhaupt rascher Fortschritt kaum jemals alle Länder gleichzeitig wie gleichmäßig und in den einzelnen Ländern alle Gruppen gleichgewichtig erfasst.

Im Übrigen sprechen gute Gründe, theoretische und empirische, dafür, dass der Wachstumsprozess als globale Erscheinung nur vorübergehend die Ungleichheit erhöht, auf längere Sicht aber die Konvergenz befördert.[10]

Zunehmende Ungleichheit zwischen den Nationen, zu der noch ähnliche Entwicklungen innerhalb der Staaten treten, schaffen jedoch ein Umfeld, das erwartungsgemäß, man möchte sagen fast zwangsläufig Widerstand erzeugt. In diesem Zusammenhang geht dann auch die absurde Seite der Argumentationskette unter, nach der eigentlich die Länder an der wachsenden internationalen Ungleichheit „Schuld“ tragen sollen, die im Interesse ihrer Bürger die Chance der Globalisierung am besten genutzt haben.

Widerstand gegen die Globalisierung

Muss sich der Ökonom über die vielfach geradezu fanatische Ablehnung der Globalisierung wundern? Wohl kaum. Schon allein deshalb nicht, weil die im ökonomischen Modell beschriebenen Vorteile der Globalisierung alles andere als paradiesische Zustände verheißen. Die Wohlstandsmehrung ist vielmehr nur im ständigen Suchen nach besseren Lösungen zu erreichen. In diesem Prozess werden laufend alte Strukturen zerstört, das Neue, aus der Warte des globalen Marktes Überlegene, verdrängt das gestern noch Gute.

Eine neue Erkenntnis, eine neue Entwicklung? Keineswegs. Verdrängung alter Institutionen durch neue, Wandlung und Zerstörung überkommener Strukturen durch Innovationen aller Art haben die Menschheit seit ihrem Beginn begleitet. Und nicht immer war das Neue gleich das Bessere. Der Verdrängungsprozess verläuft selten gradlinig und kaum jemals schmerzfrei, oft bedarf es eines weiten Umwegs hin zur besseren Welt.

Der am besten geeignete Weg lässt sich grundsätzlich nicht planen, sondern nur im Wettbewerb herausfinden. Historisch orientierte Studien der neuen Institutionenökonomie sehen gerade deshalb den Wettbewerb zwischen den Staaten und ihren Institutionen als entscheidenden Faktor für die Überlegenheit Europas über viele Jahrhunderte hinweg. Die Europäer genießen die Segnungen eines vorangegangenen Prozesses, der heute als selbstverständlich, geradezu unvermeidlich erscheint. Wie lange aber ist es erst her, dass der größte Teil der Bevölkerung auf dem Lande und von der Landwirtschaft lebte, die Eliten in Adel und Kirche konzentriert waren – wie die Macht? Insbesondere das neunzehnte Jahrhundert war geprägt von Landflucht, Industrialisierung und Proletarisierung, bitterer Armut verbunden mit gewaltigen gesellschaftlichen Spannungen. Am Ende stehen politisch der Sieg der parlamentarischen Demokratie und wirtschaftlich allgemeiner Wohlstand vorher unvorstellbaren Ausmaßes. Was wundert, dass sich heute viele Kräfte zur Verteidigung des status quo versammeln, nach dem Motto: Verweile doch, Du bist so schön.

So wenig wie in der Vergangenheit kann man heute erwarten, dass die potenziellen und vermeintlichen Verlierer das weitere bzw. erneute Wirken des Prozesses von Zerstörung und Erneuerung willkommen heißen. Im Gegenteil ist mit kräftigem Widerstand zu rechnen. Die Verlierer werden Verbündete suchen und kollektiven Widerstand organisieren wollen. Über die Bedrohung der materiellen Situation hinaus erzeugt die Globalisierung Angst gegenüber Vorgängen, die unkontrolliert und unbegreiflich die eigene Existenz bedrohen. Globalisierung steht für das Fremde, das in die überschaubare Umwelt einbricht, Mobilität erzwingt, Bindungen zerstört.

Zur Rolle der Politik

Wenn das Bild vom Januskopf einmal wirklich passt, dann für die Globalisierung, ihr Wirken und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Die eine Seite verheißt Chancen, Fortschritt und Wohlstand, die andere Unsicherheit, Risiken und Bedrohung zentraler ethischer Werte.

Offenbar eine besondere Stunde der Politik. Die nationalen Grenzen haben jedoch immer mehr ihre Bedeutung für viele Bereiche der Politik verloren. Einst konnte Hegel kategorisch erklären: „… es liegt nicht in der Willkür der Individuen, sich vom Staate zu trennen, da man schon Bürger desselben nach der Naturseite hin ist. Ein Staat muss eben die Erlaubnis dazu geben, dass man in ihn trete oder ihn verlasse; dies ist also nicht von der Willkür der Einzelnen abhängig, und der Staat beruht nicht auf Vertrag, der Willkür voraussetzt.“[11]

Diktaturen erzwingen die „Mitgliedschaft“ im Staat notfalls durch Gewalt. Als sinnfälliger Ausdruck des auf alle Lebensbereiche ausgedehnten Gewaltmonopols stehen der Bau einer Mauer oder drakonische Strafen für Devisenvergehen. Der demokratische Staat konnte einerseits auf die Akzeptanz der Gesetze durch die Bürger, andererseits aber lange Zeit auch auf den faktischen Zwang vertrauen – Auswanderung war in der Vergangenheit meist getrieben von existenzieller Not.

Heute agieren immer mehr Unternehmen in verschiedenen Ländern oder gar weltweit. Nationale Auflagen, Verordnungen aller Art stoßen auf Widerstand, mit der Verlagerung der Produktion entziehen sich die Unternehmen der staatlichen Bevormundung. Nicht nur das Kapital flieht vor überhöhter Besteuerung, eine wachsende Schicht gut Verdienender wählt zunehmend den Wohnort nach Kriterien der Besteuerung und der Qualität öffentlicher Institutionen.

Erstmals in der Geschichte erwächst damit für eine breite Führungsschicht in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur eine Alternative zum konkreten Staat.

Nach der Wirtschaft erhält auch die Gesellschaft in wichtigen Teilen eine zunehmend internationale Dimension, die Bindung zum nationalen Kontext wird schwächer, die Umrisse einer „internationalen Gesellschaft“ bilden sich heraus. Das Spannungsverhältnis im Dreieck „Staat-Wirtschaft-Gesellschaft“ lässt sich längst nicht mehr nach bewährtem Muster erklären. Der durch die Globalisierung ausgelöste rasche Wandel erschwert die Analyse des Zustands außerordentlich, kein Wunder, dass selbst wichtige Beiträge nur Teilaspekte behandeln.

Wenn die Politik etwa den Anleger, der sein Kapital ins Ausland bringt, quasi zum Vaterlandsverräter abstempelt, bekundet sie im Grunde nur ihr eigenes Versagen, attraktive Bedingungen für Investitionen im Inland zu gewährleisten. Im Zeitalter der Globalisierung sind Staat und Politik mehr denn je auf Akzeptanz ihrer Existenz und ihrer Maßnahmen angewiesen. Und zwar Akzeptanz auch gerade bei den mobilen Teilen der Gesellschaft, den Eliten, den Jungen. Kein Staat kann es sich leisten, die Eliten und die Jungen zu verlieren, ihr Verlust bedeutet den Verlust der Zukunft, zuerst und vor allem für die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft. Die Globalisierung stellt also Institutionen aller Art auf den Prüfstand bis hin zu ihrer Existenzberechtigung. Sinnvolle Regulierungen tragen zum Wohlstand bei und werden überleben.[12] Ebenso wird die Gesellschaft die mit der Globalisierung zwangsläufig verbundenen Erschütterungen am besten überstehen, die Verlierer in vernünftiger Weise schützt, richtige Anreize für eigene Anstrengungen setzt und mit Ausbildung und Förderung die Leistungsfähigkeit der Schwächeren stärkt.

Globalisierung ist nicht zuletzt die Chance der armen Länder, im Wohlstand rasch aufzuholen. Dazu müssen die reichen Industrieländer vor allem ihre Märkte öffnen. Es ist schon ein seltsames Verständnis von Ethik und Moral, wenn reiche Länder die technischen Eliten aus Entwicklungsländern anheuern (Stichwort „green card“), gleichzeitig aber den Produkten, die in diesen Ländern mit billiger Arbeit produziert werden mit moralisch verbrämtem Protektionismus den Zugang versperren. Europa, das über Jahrhunderte in globaler Orientierung nur eine Richtung kannte, die aus dem Zentrum der Welt nach außen, sei es als Eroberung, Besiedlung, Zivilisierung anderer Teile des Globus muss sich jetzt auf „Gegenverkehr“ einstellen.

Mit einem kurzen Blick auf die letzten 50 Jahre mag man die Globalisierung als einen unaufhaltsamen Prozess quasi im Sinne eines Naturereignisses verstehen. Von diesem Verständnis bis zur These vom „Ende der Geschichte“ ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Geschichtliche Vorgänge zeichnen sich jedoch nicht durch Geradlinigkeit aus, deterministische Extrapolationen haben sich bisher immer als falsch erwiesen. Mit wachsendem Widerstand gegen die Globalisierung muss gerechnet werden, er ist ein endogener, unvermeidlicher Vorgang. Je weniger gefestigt in ihrem Selbstbewusstsein, desto empfindlicher reagiert eine Gesellschaft auf das Neue, das als Bedrohung von außen empfunden wird.

In einem Umfeld großer „Gewinne“ werden die Verlierer – im relativen wie im absoluten Sinne – die Einbußen umso schmerzlicher empfinden. Welche Interessen sich durchsetzen, kann niemand mit Sicherheit vorhersagen. Aus einer bestimmten Sichtweise hat sich die Globalisierung sozusagen schon einmal selbst zerstört: auf die Phase wachsenden Wohlstands unter den Bedingungen eines stabilen Währungssystems und der Hinwendung zum Feihandel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgten Jahrzehnte der Kriege und Krisen.[13]

Die Gegner der Globalisierung verwenden oft Argumente, die gegen die Gesetze der Ökonomie im Allgemeinen und gegen die des Marktes im Speziellen gerichtet sind. Nicht von ungefähr spricht der Titel eines populären Buches vom „Horror der Ökonomie“.[14]

Forderungen an die Politik, sich nicht dem Einfluss der Globalisierung, der Märkte und Unternehmen zu unterwerfen, zielen häufig auf den Widerstand gegen die Zwänge wirtschaftlicher Logik im Allgemeinen und treffen dabei auf eine entgegenkommende Prädisposition. Olaf Sievert hat dazu einmal bemerkt: „Ein Grundzug der Konsens-Demokratie ist ihre Neigung zur Ignoranz bezüglich der Gesetze ökonomischer Logik, sprich ihre Neigung zum Selbstbetrug. Man verteilt mehr als hundert Prozent dessen, was man erwirtschaftet, am leichtesten per Termin.“[15]

Wohin geht also die Reise? Wer wollte sich schon ein Urteil über den weiteren Verlauf der Geschichte anmaßen. Selbst die krudesten und jeder Logik Hohn sprechenden Argumente der Globalisierungsgegner entfalten in einem Umfeld allgemeiner Verunsicherung hohe Wirkungskraft. Viele Menschen sind verständlicherweise emotional gegen den Fortgang der Globalisierung und ihre Folgen eingestellt. Wer weiß schon im Voraus, ob er nicht doch zu den Verlierern gehört, und wie viele wollen sich einem Spiel von Chance und Risiko ausgesetzt sehen, wenn der status quo vergleichsweise behaglich und vermeintlich sicher erscheint.

Es kann daher nicht verwundern, wenn sich in Zeiten der Krise auf den ersten Blick überraschend erscheinende Koalitionen bilden: Der vom Verlust des Arbeitsplatzes bedrohte Arbeiter verbündet sich mit dem Kapitalisten, der sich einem erbarmungslosen Wettbewerb mit Konkurrenten aus aufstrebenden Ländern ausgesetzt sieht.[16]

In dieser Lage fällt es mehr als schwer, Verständnis für eine rein ökonomisch begründete Argumentation zu finden. Nicht von ungefähr betont Bhagwati in seiner „Verteidigung der Globalisierung“. „In short: I argue that the notion that globalisation needs a human face – a staple of popular rhetoric that has become a dangerous cliché – is wrong. It raises a false alarm. Globalisation has a human face, but we can make that face more agreeable“ … „Globalisation will yield better results if it is managed“.[17]

Zweifelsohne bedarf die Globalisierung einer angemessenen Rahmenordnung, um ihre positiven Wirkungen entfalten zu können, wie der Instrumente, um allgemeine Regeln auch im Einzelfall und gerade gegen die mächtigen Nationen durchsetzen zu können. An Appellen und Versuchen in diese Richtung mangelt es nicht. Kürzlich hat eine hochrangig besetzte Gruppe, die „World Commission on the Social Dimension of Globalisation“, durch die ILO ins Leben gerufen, ihren Bericht abgeschlossen. Der voluminöse Text ist jedoch leider ebenso reich an leeren Grundsätzen wie arm an überzeugender Ökonomie.

Mit der unablässigen Wiederholung guter Absichten ist es nicht getan. Wie heißt es doch im Wallenstein: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raum stoßen sich die Sachen“. Freilich werden auch die Ökonomen mit ihren Argumenten nicht durchdringen, wenn es ihnen nicht gelingt, die moralische Seite erfolgreichen Wirtschaftens und guter Politik überzeugend auszusprechen. Wo wäre dieses Vorhaben besser aufgehoben als hier in Kiel, am Institut für Weltwirtschaft …, wobei ich wieder am Anfang angelangt wäre.

  1. [1] Bhagwati, Jagdish, In Defense of Globalisation, Oxford 2004, p. IX. Zum folgenden siehe: Issing, Otmar, Globalisierung – Widerstand zwecklos?, in: H. Hesse (Hrsg.), Zukunftsfragen der Gesellschaft, Akademie der Wissenschaften und der Literatur – Mainz, Stuttgart 2001.

  2. [2] Siehe z.B. Borchardt, Kurt, Globalisierung in historischer Perspektive, München 2001.

  3. [3] Micklethwait, John & Wooldridge, Adrian, A Future Perfect – The Challenge and Hidden Promise of Globalisation, London 2000, S. 272.

  4. [4] Greider, William, 1997, One World , Ready or Not, New York 1997.

  5. [5] Zitiert nach Roger Cohen, Redrawing the Free Market, The New York Times, 14. November 1998.

  6. [6] Siehe: Meunier, Sophie, The French Exception, Foreign Affairs Vol. 79, No. 4, July/August 2000, S. 104ff.

  7. [7] Smith, Adam, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776, Book IV, Chapter II, Seite 35.

  8. [8] Siehe: Easterlin, Richard A., The Worldwide Standard of Living since 1800, The Journal of Economic Perspectives, Winter 2000, S. 7 ff. Easterlin gibt in dieser Übersicht Hinweise auf viele, zum Teil umfangreiche Studien.

  9. [9] Siehe etwa: Sachs, Jeffrey D., Globalization and Patterns of Economic Development, Weltwirtschaftliches Archiv, Band 136, Tübingen 2000, S. 579 ff.

  10. [10] Zu einem ebenso simplen wie beeindruckenden Modellansatz siehe: Lucas, Robert E. Jr., Some Macroeconomics for the 21st Century, The Journal of Economic Perspectives, Winter 2000, S. 159 ff.

  11. [11] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 7, Frankfurt 1986, S. 159.

  12. [12] Siehe etwa: Berthold, Norbert, Der Sozialstaat im Zeitalter der Globalisierung, Walter Eucken Institut, Beiträge zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik Nr. 153, Tübingen 1997.

  13. [13] Kevin H. O`Rourke and Jeffrey G. Williamson, Globalization and History, Cambridge, Mass. 2nd printing 2000. Siehe auch: Borchardt, a.a.O., S. 6 zur Situation der Weltwirtschaftskrise: “Globalisierung war als solche vielleicht nie besonders populär; j e t z t war sie ein Schreckgespenst.”

  14. [14] Forrester, Viviane, L`Horreur Économique, Paris 1996.

  15. [15] Sievert, Olaf, Europa – Dominanz des Wirtschaftlichen?, in: Akademie der Wissenschaften und der Literatur – Mainz Hrsg., Mainz 1996, S. 140. - Mainz Hrsg., Mainz 1996, S. 140.

  16. [16] Radjan, Raghuram G., Zingales, Luigi, Saving Capitalism form the Capitalists, New York 2003, S. 2.

  17. [17] Bhagwati, a.a.O., p. X, und p. 221.

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