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Der Euro und seine Stabilität - Konsequenzen für die Finanzpolitik

Professor Dr. Dr. h.c. mult. Otmar Issing Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank Rede anlässlich des Finanzpolitischen Kongresses 1999 Veranstaltet von Goldman, Sachs & Co. oHG

Frankfurt am Main, 24. März 1999

1. Der Start

Morgen vor genau einem Jahr haben das Europäische Währungsinstitut und die Europäische Kommission ihre jeweiligen Konvergenzberichte vorgelegt. Die Kommission hat in ihrem Bericht diejenigen elf EU-Staaten zur Aufnahme in die Währungsunion empfohlen, die heute den Euroraum bilden. Wir sind seitdem einen großen Schritt vorangekommen, und man kann getrost sagen: Die Geburt des Euro vor drei Monaten war ein historisches Ereignis. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit haben souveräne Staaten ihre staatliche Hoheit auf dem Gebiet des Geldwesens an eine neu geschaffene, supranationale Institution übertragen und ihre nationalen Währungen in einem gemeinsamen, einheitlichen Geld aufgehen lassen. Von einem Tag zum anderen wurde der Euro zur einheitlichen Währung für - vorerst - 11 Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit einer Gesamtbevölkerung von knapp 300 Millionen Menschen. Das Euro-Währungsgebiet ist damit sowohl nach seiner Bevölkerungszahl als auch in seiner Wirtschaftskraft mit den Vereinigten Staaten von Amerika vergleichbar.

Mit dem Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion ist die geldpolitische Verantwortung für den Euro-Währungsraum von den nationalen Zentralbanken der Teilnehmerstaaten auf das Eurosystem, das heißt die Europäische Zentralbank und die Notenbanken der elf teilnehmenden Staaten, übergegangen. Dieser "kühnste ökonomische Großversuch aller Zeiten", wie Jürgen Jeske in der F.A.Z. das Projekt Währungsunion einmal beschrieben hat, stellt einen souveränen Verzicht auf nationale Kompetenz und den Abschied von stabilen nationalen Währungen dar. Es handelte sich damit keinesfalls um den verzweifelten Versuch, eigenem Versagen und nationalem Chaos zu entrinnen, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war, wenn eigenständige Währungen untergingen.

Die Geburt des Euro vollzog sich nicht nur erfreulich reibungslos und gewissermaßen schmerzfrei. Die neue Währung wurde zudem in einer Zeit geboren, in der die Eurozone durch Preisstabilität und rekordverdächtig niedrige Zinsen gekennzeichnet ist. Dieser erfolgreiche Start ist ohne Zweifel Ergebnis einer langen, aufwendigen und sorgsamen Vorbereitung. Er wäre unter anderem nicht denkbar gewesen ohne die erheblichen Fortschritte europäischer Staaten hin zu einer verstärkten wirtschaftlichen Konvergenz und Stabilitätsorientierung. Angesichts der Größe und Wirtschaftskraft des Euroraumes wird die neue Währung, die schon von Natur aus international ist, von Beginn an auch interkontinental eine große Rolle spielen. Dementsprechend aufmerksam und kritisch wird die Entwicklung des Euro auf den Finanzmärkten der Welt und von der interessierten Öffentlichkeit beobachtet werden.

Seien Sie versichert: Das Eurosystem wird seinen Auftrag ernst nehmen und alles Notwendige tun, um den Erfolg - das heißt: die Stabilität - des Euro zu sichern. Gleichzeitig werden wir keine Gelegenheit versäumen, unsere Entscheidungen ausführlich zu erläutern und uns einer offenen Diskussion über unser Vorgehen zu stellen.

Trotz all unserer Bemühungen ist die Preisentwicklung im Euroraum zweifellos Einflüssen ausgesetzt, die außerhalb des unmittelbaren geldpolitischen Wirkungskreises liegen. Diesen Einflüssen werden wir, falls nötig, entgegensteuern. Wir werden sie aber womöglich nicht immer vollständig neutralisieren können. Denn nicht wir allein bestimmen, wie stark der Euro und die Wirtschaft im Euroraum in Zukunft sein werden. Diese Erfahrung mußte der Euro sozusagen schon in zartem Alter über sich ergehen lassen.

Ein Teil der Einflüsse auf die wirtschaftliche und monetäre Entwicklung in Europa hat seinen Ursprung außerhalb unserer Grenzen, wie die Krisen in Rußland, Südostasien und Lateinamerika zeigen. Diese Krisen haben sich auch bei uns in verschlechterten Konjunkturaussichten niedergeschlagen. Diese Einbußen sollten begrenzt bleiben und im Laufe dieses Jahres abklingen. Dennoch bleiben beträchtliche Unsicherheiten im Hinblick auf die globale Entwicklung.

Andere Einflüsse sind dagegen hausgemacht. Sie bedürfen daher der besonderen Beachtung, gewiß nicht nur durch die Notenbanken. Am Beispiel der Arbeitsmärkte und der Lage der öffentlichen Finanzen wird dies gegenwärtig besonders deutlich. Beide Bereiche bieten in den meisten europäischen Staaten gegenwärtig ein alles andere als befriedigendes Erscheinungsbild: Hier eine erschreckend hohe und sich offenbar hartnäckig verfestigende Arbeitslosigkeit; dort überhöhter staatlicher Schuldenstand und in vielen Fällen Stagnation oder sogar Rückschläge bei der Rückführung der strukturellen Budgetdefizite. Beide Bereiche beeinflussen sich in unheilvoller Weise gegenseitig. Steigende Steuerlasten als Folge hoher staatlicher Schuldendienstverpflichtungen schlagen sich in erhöhten Belastungen des Arbeitsmarktes nieder und senken die Nachfrage nach dem Faktor Arbeit. Arbeitslosigkeit lähmt die Wirtschaftsentwicklung und führt zu ausufernden staatlichen Transferzahlungen und zurückgehenden Staatseinnahmen.

In diesem Wechselspiel gilt mein Hauptaugenmerk heute, dem Thema dieser Konferenz entsprechend, der staatlichen Finanzpolitik und ihrer besonderen Verantwortung für die Stabilität des Euro.

  • Zunächst möchte ich Ihnen in aller Kürze meine Einschätzung der gegenwärtigen Lage in den öffentlichen Haushalten der Euro-Länder geben.

  • Zweitens werde ich darüber sprechen, aus welchen geldpolitischen Gründen ich eine besondere Verantwortung der Finanzpolitik für die Preisstabilität sehe.

  • Drittens möchte ich erklären, warum ich es für dringend erforderlich halte, die Regeln zur Begrenzung der Finanzpolitik in der Währungsunion strikt zu befolgen.

  • Und schließlich werde ich kurz auf das Zusammenspiel von Geld- und Finanzpolitik im Eurogebiet eingehen.

2. Finanzpolitische Lage im Euroraum

Unter dem Einfluß der Rezession um das Jahr 1993 erreichten die staatlichen Defizite in den Ländern der heutigen Währungsunion extreme Ausmaße. Gleichzeitig waren diese Defizite jedoch keineswegs allein, oder auch nur zum größten Teil, auf die schlechte konjunkturelle Entwicklung zurückzuführen, sondern vielmehr weitgehend struktureller Natur und damit ein klarer Hinweis auf akuten Konsolidierungsbedarf. Seitdem sind die Budgetdefizite in Europa beträchtlich gefallen, und ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt im Euroraum belief sich 1998 mit knapp über 2% auf weniger als die Hälfte des Wertes im Jahr 1993. Die bislang stärksten Konsolidierungsanstrengungen wurden in den Jahren 1996 und 1997 unternommen. Offenbar war in vielen Ländern das Hauptmotiv hierbei, die Eintrittskriterien für die Währungsunion noch rechtzeitig zu erfüllen. Zum Teil wurde dabei auf nur kurzfristig wirksame Einmalmaßnahmen zurückgegriffen, die den strukturellen Kern budgetärer Ungleichgewichte unberührt ließen.

Im vergangenen Jahr hat sich die Tendenz zur Defizitsenkung nicht annähernd mit gleicher Geschwindigkeit fortgesetzt, wie sie während des Endspurts zur Konvergenzprüfung erreicht worden war. Nachdem 1997 die durchschnittliche Defizitquote im Eurogebiet um etwa 1½ Prozentpunkte gesunken war, nahm sie 1998 nur noch wenig ab. Die Abnahme der Defizite war außerdem die Folge einer günstigen Konjunktur- und Zinsentwicklung und nicht auf aktive Konsolidierungsanstrengungen der öffentlichen Haushalte zurückzuführen. Die strukturellen Defizite sind 1998 vielmehr leicht angestiegen, der durchschnittliche Primärüberschuß - also der Überschuß der Einnahmen über die um den Schuldendienst bereinigten Ausgaben - im Euroraum ist gesunken. Beides geschah zum ersten Mal seit der Rezession des Jahres 1993, jedoch, im Vergleich mit jenem Jahr, unter wirtschaftlich wesentlich günstigeren Bedingungen. Als Konsequenz eines verlangsamten Defizitabbaus sind auch die staatlichen Schuldenstände, die im Durchschnitt der Euro-Länder weiterhin auf viel zu hohem Niveau liegen, bisher kaum zurückgeführt worden.

Lassen Sie es mich offen sagen: Dies war eine enttäuschende Entwicklung, insbesondere deshalb, weil die meisten Regierungen 1998 die große Chance der wirtschaftlichen Erholung nicht genutzt haben, um in ihren Haushalten strukturelle Bereinigungen vorzunehmen. Im Gegenteil: Bei stärker sprudelnden Steuerquellen und zurückgehenden Arbeitslosenzahlen wurden teilweise sogar die Ausgaben erhöht und die strukturellen Ungleichgewichte noch verschärft. Gleichzeitig wurde auch die beträchtliche Entlastung der öffentlichen Haushalte durch das von historisch niedrigen Zinsen geprägte monetäre Umfeld nicht zur Haushaltskonsolidierung genutzt.

Betrachtet man die Budgetplanungen einzelner Länder für das Jahr 1999, so ist wiederum nicht mit einer Fortsetzung der Konsolidierungsanstrengungen in der Eurozone zu rechnen. Unter dem Einfluß der schwächeren Konjunktur könnte sich das Ergebnis sogar verschlechtern.

Eine eindeutige Trendwende in der Entwicklung der öffentlichen Haushalte zum Ende der neunziger Jahre ist damit alles in allem nicht auszumachen. Als Fazit bleibt eine relativ kurze Phase deutlich sinkender Haushaltsdefizite und einer nur zögerlichen Umkehr der Schuldendynamik. Doch nunmehr scheint, nachdem die mit der Konvergenzprüfung verbundenen Anreize weitgehend verschwunden sind, der Wille zu weiteren Konsolidierungsanstrengungen erlahmt zu sein.

Die Europäische Zentralbank beobachtet aufmerksam gegenwärtige finanzpolitische Tendenzen in den einzelnen Mitgliedstaaten und im Eurogebiet als Gesamtheit. Ebenso aufmerksam versuchen wir uns ein Bild zu machen von den mittelfristigen Plänen der Regierungen sowie von den längerfristigen finanziellen Herausforderungen, denen sich die öffentlichen Haushalte werden stellen müssen. Die so gewonnenen Informationen fließen, zusammen mit einer Vielzahl anderer wirtschaftlicher Indikatoren, in unsere Überlegungen für angemessene geldpolitische Entscheidungen ein. Nicht in jedem Fall ist hierbei eindeutig zu entscheiden, welche Wirkungszusammenhänge bestehen und in welchem Maße oder mit welchen Instrumenten bestimmten Entwicklungen entgegenzuwirken ist. Für die Geldpolitik ergeben sich dennoch einige klare Schlußfolgerungen, wenn es um die Beurteilung staatlicher Verschuldungspolitik geht.

3. Zum Zusammenhang zwischen den Zielen der Geld- und Finanzpolitik

Zwischen den Handlungsparametern und Zielgrößen finanz- und geldpolitischer Institutionen bestehen bekanntlich enge Interdependenzen. Drei wesentliche Grundmuster theoretisch denkbarer Verknüpfungspunkte sind hierbei zu unterscheiden:

  • Erstens, die direkte Finanzierung staatlicher Defizite durch die Notenbank.

  • Zweitens, Zusammenhänge zwischen einer nicht tragfähigen staatlichen Verschuldungspolitik und der Wirksamkeit der Geldpolitik.

  • Und drittens, Einflüsse staatlicher Verschuldungspolitik auf die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik.

Lassen Sie mich auf diese drei Punkte im einzelnen eingehen.

3.1 Direkte Finanzierung staatlicher Defizite durch die Notenbank

Im Eurogebiet ist heute die direkte Finanzierung von Staatsdefiziten durch die Notenbank ausgeschlossen. Die Beschaffung von Krediten am Kapitalmarkt ist zur einzig möglichen Variante der langfristigen staatlichen Schuldenaufnahme geworden. Jede Kreditvergabe nationaler Notenbanken oder der Europäischen Zentralbank an den öffentlichen Sektor ist gemäß dem Maastrichter Vertrag untersagt. Darüber hinaus ist das Eurosystem dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität verpflichtet. Es ist ausdrücklich nicht berechtigt, Weisungen von Regierungen oder anderen Einrichtungen einzuholen oder entgegenzunehmen. Diese dürfen wiederum nicht versuchen, Einfluß auf die Beschlußorgane der Europäischen Zentralbank oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu nehmen.

Auch in finanziell schwierigen Zeiten, wenn beispielsweise die Last hoher staatlicher Schulden durch nachlassende Wirtschaftskraft noch schwerer wiegt, kann und darf die Notenbank dem möglichen Wunsch der Regierungen nach einer geldpolitischen Erleichterung nicht nachgeben, wenn dadurch das Ziel der Preisstabilität gefährdet würde. Der Unabhängigkeit der Notenbank, ihr eigentliches Ziel unbeeinflußt von den Interessen anderer Institutionen zu verfolgen, kommt damit überragende Bedeutung zu. Die gegenwärtigen Regelungen im europäischen Zentralbankensystem lassen hier keinerlei Spielraum zur Interpretation: Die Geldpolitik orientiert sich mit Priorität am Gebot der Preisstabilität und entscheidet eigenständig, wie dieses Ziel zu erreichen und zu bewahren ist.

Jede direkte Einflußnahme staatlicher Institutionen auf die Geldpolitik sowie eine Finanzierung von Staatsdefiziten mit Hilfe der "Notenpresse" ist also ausgeschlossen. Es wäre aber fahrlässig anzunehmen, damit seien sämtliche von einer unangemessenen Finanzpolitik ausgehenden inflationären Risiken bereits abgewehrt. Zu hohe staatliche Schulden können auch für eine unabhängige Notenbank eine beträchtliche Bedrohung darstellen. Dies wird besonders deutlich am - wenn auch glücklicherweise in Europa eher theoretischen - extremen Beispiel einer gänzlich aus dem Ruder laufen Finanzpolitik und den unabwendbaren, negativen Folgen für die Geldpolitik.

3.2 Geldpolitik und Tragfähigkeit der Finanzpolitik

In einer Situation, in der der Realzins über der realen Wachstumsrate liegt - möglicherweise als Folge überhöhter Verschuldung und der damit einhergehenden Überforderung des Kapitalmarktes -, steigt die Staatsverschuldung im Verhältnis zum Sozialprodukt selbst bei ausgeglichenem Primärsaldo ständig an. Der Staat befindet sich in der Schuldenfalle und kann nur durch eine konsequente Senkung seiner Primärausgaben und durch Schaffung von Primärüberschüssen seine Schuldenlast zum Abschmelzen bringen. Geschieht dies nicht, sondern behält der Staat seine bisherige Verschuldungspolitik bei, so ist früher oder später der Staatsbankrott unausweichlich. Die Marktteilnehmer könnten in solchen Fällen mit einer zukünftigen Monetisierung der Staatsschulden rechnen und damit ein Anziehen der Inflation als zunehmend wahrscheinlich empfinden. Bleibt die Notenbank bei ihrem auf Geldwertstabilität gerichteten Kurs, verschärft sich unter diesen Bedingungen die Misere der Staatsfinanzen weiter. Der politische Druck auf die Notenbank, selbst wenn sich diese als hart - das heißt ihrem Mandat verpflichtet - erweist, nimmt unter diesen Umständen immer dramatischere Formen an, verunsichert die Märkte und treibt den Realzins in die Höhe.

Mit anderen Worten: Die Existenz überhöhter Schuldenstände kann den normalen Wirkungszusammenhang zwischen den von der Notenbank beherrschbaren Größen und ihrer zentralen Zielgröße, der Inflationsrate, empfindlich stören. Die Hauptaufgabe der Notenbank ist dann aus eigener Kraft nicht mehr zufriedenstellend zu erfüllen. Umgekehrt erhöht in einer solchen Situation die Rückführung staatlicher Schulden, verbunden mit einem Rückgang der Realzinsen, die Wirksamkeit geldpolitischer Instrumente. Besser noch: Einem übermäßigen Ansteigen der Staatsschulden muß bereits im Ansatz Einhalt geboten werden, um der Notenbank den gebotenen Spielraum zur Preisstabilisierung zu bewahren.

3.3 Finanzpolitik und Glaubwürdigkeit der Geldpolitik

Wie gesagt: Die beschriebene Wirkungskette stellt einen Extremfall dar, in dem eine Regierung bereits in den Strudel einer sich selbst verstärkenden Schuldendynamik geraten ist. In Europa stellen derzeit solche Entwicklungen glücklicherweise keine unmittelbare Bedrohung dar. Auch Ländern mit extrem hohen Schuldenständen ist es in den vergangenen Jahren gelungen, eine explosionsartige Ausdehnung der Schulden zu vermeiden. Bereits vor Eintreten einer solchen Extremsituation kann ein steigender oder überhöhter Schuldenstand jedoch eine empfindliche Beeinträchtigung der Geldpolitik bewirken. Dies ist dann der Fall, wenn die Gestaltung der Finanzpolitik die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik in Frage stellt.

Die jederzeit glaubwürdige - manche würden sagen "zeitkonsistente" - Verpflichtung der Notenbank, unbeeindruckt von kurzfristigen Versuchungen ihrem Hauptziel verpflichtet zu bleiben, ist eine notwendige Bedingung zur erfolgreichen Verteidigung von Preisstabilität. Es soll dagegen vorkommen, daß Regierungen eine an langfristigen Zielen orientierte Politik gelegentlich aus den Augen verlieren und statt dessen kurzfristigen Interessen den Vorrang geben. Solchermaßen unterschiedlich lange Planungszeiträume bergen die Gefahr in sich, daß die Geldpolitik nach Auffassung der Marktteilnehmer gewissermaßen im Schatten der Finanzpolitik steht.

Die öffentliche Verschuldung, ihre Höhe und ihre Finanzierungsstruktur spiegeln diesen Konflikt augenfällig wider. Je drückender die Last der Staatsschulden ist, desto mehr sind Regierungen vermutlich an einer Abkehr vom Primat der Geldwertstabilität und an steigender Inflation interessiert. Ein Großteil staatlicher Schulden in Europa weist eine langfristige Zinsbindung auf, und, von Ausnahmen abgesehen, werden Staatsschulden üblicherweise nicht nach Maßgabe der jährlichen Preissteigerung indexiert. Aus diesem Grund erleiden die Besitzer von Staatsschuldtiteln durch unvorhergesehene Inflationssprünge einen realen Vermögensverlust. In gleichem Maße wird der Staat real von bestehenden Schulden entlastet. Der Einsatz von Inflation zur Schuldentilgung kann von Regierungen deshalb als reizvoll betrachtet werden, weil hierdurch den Wirtschaftssubjekten quasi anonym Finanzierungsbeiträge abverlangt werden. Anders als bei einer Finanzierung des Schuldendienstes durch Steuererhöhungen werden damit vermeintlich geringere Widerstände heraufbeschworen.

Wie die Steuerpolitik hat auch die Inflation, jedenfalls in der Realität, erhebliche verzerrende Wirkungen. Inflation behindert nachhaltig das Wirken des Preismechanismus und zieht gravierende Verzerrungen und ökonomische Effizienzverluste nach sich. Darüber hinaus ist Inflation besonders unter sozialen Gesichtspunkten ein überaus schädliches Phänomen. Sie bewirkt unvorhersehbare Umverteilungen und trifft wahllos bestimmte Gruppen stärker als andere. Vornehmlich trifft sie jedoch die wirtschaftlich schwachen Mitglieder der Gesellschaft.

Wegen der schädlichen ökonomischen und sozialen Folgen kann daher letztlich kein Staat ernsthaft annehmen, durch wiederholte beschleunigte Preissteigerungen einen bleibenden finanziellen Vorteil zu erzielen. Denn erstens werden sich negative Erwartungseffekte hinsichtlich zukünftiger Inflationsraten verstärken, so daß die verabreichte Inflationsdosis ständig erhöht werden müßte, und zweitens wird durch die Erwartung fortdauernder oder stufenweise sich beschleunigender Inflation eine anhaltende wirtschaftliche Entwicklung behindert und damit auch die Besteuerungsgrundlage des Staates nachhaltig geschwächt. Außerdem werden sich Besitzer von Staatsschuldtiteln nicht fortwährend durch Inflation überraschen lassen, sondern bereits bei aufkommenden Inflationserwartungen entsprechende Zinsaufschläge verlangen, beziehungsweise eine langfristige Zinsbindung der erworbenen Staatsschuldtitel ablehnen oder eine Indexierung verlangen.

Dennoch mag eine kurzfristige Versuchung zur Inflationierung von überhöhten Staatsschulden bleiben, die die Notenbanken zu erhöhter Aufmerksamkeit veranlassen muß. Wie schon betont, läßt der gegenwärtige institutionelle Rahmen in der Währungsunion den Regierungen zwar keine Möglichkeit, den Notenbanken Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Schuldenprobleme abzuverlangen oder gar auf freiwilliges Entgegenkommen zu hoffen. Selbst wenn Notenbanken aber ihre geldpolitischen Entscheidungen vollkommen autonom treffen, so können sie doch mit zunehmender Staatsverschuldung schließlich in eine schwierige Lage geraten. Allein der Verdacht einer verstärkten Einflußnahme der Politik könnte die Marktteilnehmer dazu verleiten, geldpolitische Entscheidungen auch im Lichte bestehender oder geäußerter Politikinteressen zu beurteilen. Die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik kann hierdurch Schaden nehmen. Eine geldpolitische Lockerung - so gerechtfertigt sie aus ökonomischen Gründen auch sein mag - kann in einer solchen Lage leicht den Eindruck erwecken, die Notenbank habe politischem Druck nachgegeben.

Selbstverständlich kann keine Notenbank, schon gar nicht eine mit dem Status der Unabhängigkeit, ihre Geldpolitik zur Tabuzone in der öffentlichen Diskussion erklären. Die kritische Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ist nicht nur notwendig, sie ist geradezu erwünscht. Soweit allerdings Attacken auf die Notenbank geeignet sind, das Vertrauen in die Währung zu beschädigen, muß ein Land - und in der Währungsunion in kollektiver Verantwortung die Gemeinschaft insgesamt - dafür in Form gestiegener Zinsen einen hohen Preis zahlen.

Je höher die Staatsschuld, desto größer das Gefährdungspotential, das auf der Stabilität des Landes wie der Geldpolitik lastet. Der Verdacht, zumindest die stille Befürchtung, am Ende könnte doch die Versuchung für die Politik zu groß werden, sich der Schuld "schmerzlos" durch Inflation zu entledigen, wächst quasi proportional zum (relativen) Schuldenstand. Die Unabhängigkeit der Notenbank ist kein ein für allemal wirksames Bollwerk gegen diesen Zusammenhang.

Aus dem bisher Gesagten sollte zweierlei klar werden: Erstens, der bestehende institutionelle Rahmen in der Europäischen Währungsunion verhindert jeden direkten Einfluß der Regierungen auf den geldpolitischen Kurs des Eurosystems. Zweitens, überhöhte Staatsverschuldung kann die Zentralbanken unter Druck setzen, ihre Glaubwürdigkeit beschädigen und damit die Bewahrung von Preisstabilität erschweren. Die unbestreitbare Schlußfolgerung aus der Sicht der Geldpolitik - wie im allgemeinen Interesse - liegt auf der Hand: Die staatliche Verschuldung muß begrenzt werden, gegenwärtige budgetäre Ungleichgewichte und ein überhöhter Schuldenstand sind gezielt abzubauen. Der Übergang zu einer gemeinsamen Europäischen Währung hat diese Notwendigkeit noch deutlicher werden lassen. Die im Vertrag von Maastricht und späteren Zusatzvereinbarungen, vor allem dem Stabilitäts- und Wachstumspakt, enthaltenen Regelungen sind offensichtliche Ergebnisse dieser Erkenntnis. Gleichzeitig spiegelt sich in diesen Regelungen aber auch die Auffassung wider, daß gerade im Rahmen der Währungsunion noch größere Vorsicht mit staatlichen Defiziten geboten ist als im nationalen Rahmen.

4. Begrenzung staatlicher Verschuldung in der Währungsunion

Damit komme ich zu der Frage, welche besonderen Bedingungen in der Währungsunion eine strenge und koordinierte Begrenzung der staatlichen Verschuldungspolitik rechtfertigen und warum eine strikte Einhaltung dringend erforderlich ist.

4.1 Rechtfertigung staatlicher Verschuldungsgrenzen

Die Erfahrung mit der jüngeren Vergangenheit lehrt, daß staatliche Sektoren nicht nur beständig an Gewicht und Größe zugenommen, sondern auch vermehrt laufende Ausgaben durch zusätzliche Verschuldung finanziert haben. Zahlreiche Gründe sind hierfür genannt worden, insbesondere ein systembedingtes Aufblähen staatlicher Transfersysteme, das auch in der mittelfristigen Zukunft zu beträchtlichen Problemen führen wird. Einem gemeinsamen Währungsraum wohnt prinzipiell die Tendenz inne, die Neigung zu überhöhter staatlicher Verschuldung darüber hinaus noch zu verstärken. Was spricht für diese Annahme?

Zunächst ist der institutionelle Rahmen des Euroraumes durch verschieden große Wirkungsradien der Geldpolitik auf der einen und der Finanzpolitik auf der anderen Seite gekennzeichnet. Die Geldpolitik des Eurosystems ist ausdrücklich und gewissermaßen definitionsgemäß supranational. Umstände und Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten können für sich genommen auf die Ausrichtung der Geldpolitik keinen Einfluß haben. Demgegenüber ist die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten fast ausschließlich an nationalen Interessen orientiert. Aus diesem institutionellen Rahmenwerk unterschiedlicher Entscheidungsebenen und Wirkungskreise entstehen besondere Bedingungen für das Zusammenspiel von Geld- und Finanzpolitik.

Die positiven Auswirkungen staatlicher Konsolidierungspolitik auf das wirtschaftliche und monetäre Umfeld nehmen in einer Währungsunion den Charakter eines öffentlichen Gutes an. Vom Nutzen dieses Gutes können einzelne Mitglieder der Währungsunion nicht ausgeschlossen werden, auch wenn sie gleichzeitig nicht selbst bereit sind, ausreichend zur Bereitstellung dieses Gutes beizutragen. Im nationalen Währungsraum muß eine Regierung für bestehende oder erwartete Inflations- und Wechselkursrisiken einen Zinsaufschlag an Käufer staatlicher Wertpapiere zahlen. In einer Währungsunion mit mehreren Ländern entfallen aus Sicht der Anleger ein Teil der Risiken und die damit zusammenhängenden Zinsaufschläge. Risikoprämien sinken insgesamt, falls Investoren nicht im gleichen Maße, wie Inflationsdifferenzen und Wechselkursschwankungen für ihre Anlageentscheidung irrelevant werden, eine Zunahme des Ausfallrisikos staatlicher Schuldendienstzahlungen annehmen.

Verminderte Risikoprämien bedeuten für Länder der Europäischen Währungsunion, in denen früher verhältnismäßig hohe Inflationserwartungen herrschten und in denen daher Risikozuschläge einen beträchtlichen Anteil der Zinsausgaben ausmachten, ein "free lunch". Da der Einfluß eigener nationaler Budgetdefizite auf die finanzielle Stabilität fortan vornehmlich vor dem Hintergrund der Entwicklung im gesamten Währungsraum und nicht mehr allein im eigenen Land beurteilt wird, sind einzelne Länder spieltheoretisch betrachtet in einem "Gefangenendilemma": Eine gleichgewichtige Lösung als Ergebnis nationaler Nutzenerwägungen ergibt auch aus Sicht der einzelnen Staaten letztlich keinen optimalen Zustand. Die Chance, eigene Vorteile auszuschöpfen, wird bei unbeschränktem Individualverhalten verschenkt. Sie läßt sich nur durch koordiniertes Vorgehen nutzen.

Aufgrund dieser Erwägungen ist bei der institutionellen Gestaltung der Währungsunion die Entscheidung getroffen worden, die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten stärker zu koordinieren und vor allem die staatliche Verschuldung zu begrenzen. Zwar wirkt auch ein freier Kapitalmarkt in Europa disziplinierend auf die Finanzpolitik, da Anleger eine solide Finanzpolitik durch entsprechend niedrigere Zinsforderungen belohnen werden. Gleichzeitig dürfte jedoch der Euroraum in Zukunft mehr und mehr als einheitlicher Wirtschaftsraum betrachtet werden, in dem der drohende Bankrott eines einzelnen Mitgliedstaates und die Hinnahme dieses Bankrotts durch den Rest der Gemeinschaft als zunehmend unwahrscheinlich empfunden wird. (Die Wirksamkeit der "no bail out" Klausel in Artikel 104b des Maastrichtvertrages müßte ihren Test, der hoffentlich niemals gefragt ist, erst noch bestehen.) Auch aus Sicht der Finanzmärkte ergibt sich damit eine Nivellierung der Ausfallrisiken innerhalb des Euroraumes, so daß sich Risikoprämien für die Staatsschuldtitel einzelner Regierungen nur noch wenig unterscheiden dürften. Den von den Finanzmärkten ausgehenden Druckmitteln allein wurde daher zu Recht keine ausreichende Disziplinierungswirkung auf die Verschuldungspolitik zugetraut.

4.2 Verschuldungsregeln in der Europäischen Währungsunion

Deshalb enthält der Vertrag von Maastricht eine Reihe von Regelungen, die die gesamtwirtschaftliche - im Sinne des gesamten Euroraumes - Stabilität vor Fehlentwicklungen in den öffentlichen Haushalten schützen sollen. Bereits erwähnt habe ich das Verbot einer Finanzierung von Staatsdefiziten durch Überziehungskredite oder andere Kreditfaszilitäten der Europäischen Zentralbank und der nationalen Notenbanken. Darüber hinaus besteht ein Verbot, öffentlichen Haushalten einen bevorzugten Zugang zum Kapitalmarkt zu verschaffen. Weiter wurde vereinbart, eine Haftung für öffentliche Schulden von Mitgliedstaaten durch die Gemeinschaft oder durch andere Mitgliedstaaten generell auszuschließen.

Herausragende Bedeutung in der öffentlichen Diskussion hatte in den vergangenen Jahren die Verpflichtung der Regierungen, die sogenannten Konvergenzkriterien einzuhalten. Mitgliedstaaten betrachten gemäß dem Maastrichter Vertrag ihre Wirtschaftspolitik als Angelegenheit von gemeinschaftlichem Interesse und erklären sich daher zu einer Koordinierung bereit. Im Hinblick auf die Finanzpolitik enthält der Vertrag eine Verpflichtung, übermäßige Defizite und Schuldenstände - definiert anhand von Referenzwerten - zu vermeiden und die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten.

Eine andere, nur implizit im Maastrichter Vertrag (in Artikel 104c) enthaltene Regelung zur Begrenzung öffentlicher Defizite beruht auf einem Vergleich des Staatsdefizits mit der Höhe öffentlicher Investitionsausgaben. Der sogenannten "goldenen Regel" der Staatsfinanzen folgend, wäre eine staatliche Kreditaufnahme solange unbedenklich, wie die zusätzlichen Kredite nur zur Finanzierung rentabler staatlicher Investitionen verwendet würden. Kreditzinsen und Investitionsrendite könnten sich im Zeitverlauf ausgleichen, so daß eine zusätzliche finanzielle Belastung der Haushalte nicht entsteht. In jüngster Zeit wurde diesem Argument wieder vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, teilweise in dem Versuch, relativ hohe und kaum rückläufige Defizite mit dem Hinweis auf ebenfalls hohe investive Aufwendungen des Staates zu rechtfertigen. Meiner Ansicht nach ist diese Diskussion - bei aller verständlichen Logik, die ihrem zentralen Argument innewohnt - als praktische Handlungsanweisung aus zwei Gründen wenig hilfreich.

Erstens: Wer dem um Investitionsausgaben bereinigten Defizit eine besondere Bedeutung verleiht, der fügt den bereits äußerst schwierigen Problemen einer korrekten Erfassung des Staatsdefizits ein weiteres kaum lösbares Problem hinzu. Eine theoretisch saubere, statistisch einwandfreie und allgemein akzeptierte Definition finanziell rentabler staatlicher Investitionsausgaben zu geben, ist so gut wie unmöglich. Zweitens würde die Orientierung der staatlichen Verschuldungspolitik an der "goldenen Regel" zu einer Abschwächung der derzeit gültigen Regeln führen, die nicht akzeptabel ist.

Im Gegenteil: Die Regierungen der europäischen Länder sind bereits 1997 übereingekommen, die finanzpolitischen Normen des Maastrichter Vertrages strenger zu fassen, da ihre disziplinierende Wirkung auf die Verschuldungspolitik als nicht ausreichend angesehen wurde. Eine entsprechende Verschärfung dieser Regelungen wurde dem Vertrag durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt hinzugefügt.

Dieser Pakt enthält eine zentrale Richtschnur für die Finanzpolitik: das mittelfristige Haushaltsziel eines nahezu ausgeglichenen oder sogar einen Überschuß aufweisenden Budgetsaldos. Dieses Haushaltsziel würde es erlauben, auch in einer Phase schwachen Wirtschaftswachstums das gesamte Budgetdefizit in einem hinnehmbaren Rahmen zu halten, das heißt, den Referenzwert von 3% des Bruttoinlandsproduktes nicht zu überschreiten. Gleichzeitig wurden Ausnahmesituationen definiert, in denen ein Überschreiten dieses Defizitlimits dennoch toleriert werden kann. Diese Ausnahme darf jedoch formal nur in einer Situation eines stark sinkenden realen Sozialproduktes oder eines ungewöhnlichen Ereignisses mit gravierenden Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen und außerhalb des staatlichen Einflußbereiches beansprucht werden. Zudem enthält der Stabilitäts- und Wachstumspakt ein Frühwarnsystem, mit dessen Hilfe Abweichungen von den mittelfristigen Haushaltsplänen bereits im Ansatz erkannt werden sollen. Hierzu dienen Stabilitätsprogramme der Teilnehmerländer und Konvergenzprogramme der noch nicht der Währungsunion beigetretenen Länder. Der Rat der Europäischen Gemeinschaften prüft diese Programme und gibt im Zweifelsfalle Empfehlungen an die Mitgliedstaaten ab, ihre finanzpolitische Strategie zu ändern. Für den Fall eines überhöhten Haushaltsdefizits in einem Mitgliedstaat definiert der Stabilitäts- und Wachstumspakt einen klaren Zeitplan für das dann einsetzende Verfahren, das notfalls bis zur Verhängung von Geldstrafen führen kann.

4.3 Stabilisierungsfunktion der Finanzpolitik

Die zentrale Logik dieser Regelungen besteht darin, die öffentlichen Haushalte dauerhaft in einem Zustand zu halten, der auch im Fall konjunktureller Schwankungen jederzeit tragfähig ist und zusätzlichen Haushaltsspielraum für antizyklisches Verhalten zu schaffen. Ein zyklisch bedingtes Ansteigen von Haushaltsdefiziten soll soweit begrenzt bleiben, daß die öffentlichen Finanzen nicht aus dem Ruder laufen und sich nach einer wirtschaftlichen Erholung wieder rasch stabilisieren können. Es ist ausdrücklich nicht das Ziel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, ein Schwanken des Haushaltssaldos mit dem Konjunkturzyklus zu vermeiden.

Im Gegenteil: Die Staatstätigkeit soll gerade in der Währungsunion eine wichtige nachfragestabilisierende Funktion erfüllen, die vor allem durch automatische Reaktionen fiskalpolitischer Größen auf zyklische Schwankungen entstehen. Vor allem ein progressiv ausgestaltetes Einkommensteuersystem kann solche Nachfragestabilisierung bewirken. Mit langsamer wachsendem Sozialprodukt gehen die Steuereinnahmen nicht nur dem absoluten Betrage nach, sondern auch als Anteil am Sozialprodukt zurück. Auf der Ausgabenseite des Budgets ist im Falle einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums vor allem mit einem Anstieg staatlicher Transferzahlungen zu rechnen. Insgesamt werden das Haushaltsdefizit sowie sein Anteil am Sozialprodukt also konjunkturbedingt steigen, sofern die Wachstumsrate unter dem Potential- oder Trendwachstum liegt. Umgekehrt gilt nach dieser Logik auch, daß ein Haushaltsdefizit sinken muß, falls das Sozialprodukt ein schnelleres Wachstum als im Trend aufweist.

Die Finanzpolitik kann durch diese automatische Anpassung an wirtschaftliche Schwankungen zu einer Verstetigung des Wirtschaftswachstums beitragen. Im Rahmen der Währungsunion ist dieser Beitrag der Finanzpolitik besonders wichtig. Nominale Wechselkursänderungen bei asymmetrischen Schocks und unterschiedlicher Konjunkturentwicklung in den einzelnen Ländern der Währungsunion können keine ausgleichende Wirkung mehr ausüben. Die Finanzpolitik kann statt dessen ein Ausschlagen der realen Wachstumsraten in stabilitätsgefährdende Größenordnungen verhindern und damit auch die Geldpolitik bei der Ausführung ihres Stabilisierungsauftrages entscheidend entlasten.

Um die Wirksamkeit der automatischen Stabilisatoren zu garantieren, müssen allerdings vor allem zwei Bedingungen erfüllt sein:

  • Erstens, in den öffentlichen Haushalten muß genügend Spielraum vorhanden sein, um auch über einen längeren Zeitraum ein Schwanken des Defizits um einen mittleren Durchschnittswert zu erlauben. Befindet sich eine Regierung dagegen in einer Schuldenfalle, so wird jedes Ansteigen des Defizits in einer Rezession zu einem beschleunigten "Schneeballeffekt" und einem weiteren Anstieg des Defizits in der Zukunft führen. Die automatischen Anpassungen des Staatshaushalts an eine künftige wirtschaftliche Erholung und damit seine restriktiven Wirkungen im Falle einer möglichen konjunkturellen Überhitzung sind dann entsprechend vermindert.

  • Zweitens, die Marktteilnehmer müssen auf eine Defiziterhöhung tatsächlich mit verstärkter Nachfrage, beziehungsweise auf eine Defizitsenkung mit einem Nachfragerückgang reagieren. Betrachten die Wirtschaftssubjekte dagegen die gegenwärtige Haushaltspolitik als dauerhaft nicht tragfähig, so werden sie eine Defiziterhöhung als eine weitere Verschärfung der Haushaltslage interpretieren und daraufhin keine zusätzliche Nachfrage entfalten. Sie werden vielmehr geneigt sein vermehrt zu sparen, um auf zukünftig zu erwartende Steuererhöhungen oder Kürzungen von Transferzahlungen vorbereitet zu sein.

Gegenwärtig sind die Haushaltsspielräume in vielen Europäischen Staaten durch weiterhin hohe Defizite und Schuldenstände stark eingeschränkt. Vor allem wegen der immer deutlicher werdenden Konjunkturabschwächung in einzelnen Ländern wird nunmehr auf schmerzliche Weise spürbar, daß in der jüngeren Vergangenheit Chancen zur Haushaltskonsolidierung ungenutzt geblieben sind. Das starke Wirtschaftswachstum im Jahr 1998 hat zwar eine gewisse Entlastung der öffentlichen Finanzen mit sich gebracht, doch wurden in vielen Ländern die strukturellen Defizite nicht konsequent genug gesenkt oder sogar noch ausgeweitet. Dies war ein Schritt in die falsche Richtung. In diesem Jahr, bei nachlassender Wirtschaftsdynamik, zeigt sich, wie wünschenswert größere Haushaltsspielräume wären, um den Staaten eine verstärkte Einflußnahme auf die Wirtschaftsentwicklung zu ermöglichen und gleichzeitig die budgetäre Lage unter Kontrolle zu halten.

4.4 Notwendigkeit struktureller Haushaltskonsolidierung

Von dem selbstgesteckten Ziel eines annähernden Budgetausgleichs, ganz zu schweigen von der Bildung von Haushaltsüberschüssen, sind die meisten Regierungen im Euroraum noch weit entfernt. Auch mittelfristig streben viele Länder der Währungsunion - darunter insbesondere diejenigen, die aufgrund ihrer Größe die finanzpolitische Orientierung des Euroraums letztlich bestimmen - laut ihren Stabilitätsprogrammen Defizite in der Nähe von 1% des Bruttoinlandsproduktes an. Dabei kann selbst das Ziel eines nahezu ausgeglichenen Haushalts noch nicht als letzter Schritt im erforderlichen Konsolidierungsprozess angesehen werden, sondern zunächst nur als Zwischenstufe. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt formuliert in diesem Sinne sozusagen nur eine mittelfristige Mindestanforderung an die finanzielle Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte, um darauf aufbauend weitere Strukturanpassungen zu ermöglichen.

Denn eines scheint gewiß zu sein: Selbst mit einem ausgeglichenen Haushalt wären die meisten europäischen Länder auf zukünftige Herausforderungen nicht ausreichend vorbereitet. Worin bestehen diese Herausforderungen? Es sind vor allem zurückgehende Geburtenraten und eine verlängerte Lebenserwartung, die hohe finanzielle Belastungen des Staates in der Zukunft bewirken werden. Einer immer größer werdenden Zahl von Menschen, die auf staatliche Transfers zur Alterssicherung und Gesundheitsfürsorge angewiesen sind, steht eine rückläufige Tendenz bei den Beitragszahlern gegenüber. Bereits in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren wird diese Entwicklung zu großen Schwierigkeiten bei der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme führen. Bei annähernd gleichbleibenden oder steigenden staatlichen Transferzahlungen an jeden Renten- beziehungsweise Pensionsempfänger und ebenso weitgehend stabiler Entwicklung der Beitragssätze zur Sozialversicherung sind drastisch steigende Finanzierungsdefizite der sozialen Sicherungssysteme unabwendbar. Diese Defizite können nur dann dauerhaft finanziert werden, wenn die verschiedenen staatlichen Ebenen bis dahin die dafür nötigen Haushaltsspielräume geschaffen haben. Umgekehrt könnte ein zu rasches Ansteigen der Defizite in den Sozialversicherungssystemen nur abgewendet werden, falls Leistungsansprüche insbesondere an die staatlichen Renten- und Krankenversicherungen gesenkt oder Beitragssätze beziehungsweise Steuern erhöht würden.

Den Umfang der notwendigen strukturellen Anpassungen in den öffentlichen Haushalten haben in der jüngeren Vergangenheit verschiedene Berechnungen verdeutlicht. Insbesondere der Ansatz des "Generational Accounting" hat hierbei in vielen Ländern große Beachtung gefunden. Auch internationale Organisationen und Notenbanken, darunter die Deutsche Bundesbank, haben solche Berechnungen vorgelegt. Bei aller gebotenen Vorsicht im Umgang mit einem auf langfristige Projektionen und teilweise vereinfachende Annahmen angewiesenen Indikator erscheinen die Resultate in qualitativer Hinsicht überzeugend und erschreckend zugleich: Die gegenwärtige Finanzpolitik vieler europäischer Staaten ist nicht dauerhaft tragfähig. Schwere finanzielle Lasten werden in die Zukunft, das heißt auf zukünftige Generationen von Steuerzahlern, überwälzt. Die Größe dieser Lasten übersteigt in vielen Ländern offenbar den offiziell ausgewiesenen Schuldenstand bei weitem. Sogenannte "implizite" Staatsschulden aus den Ansprüchen künftiger Rentnergenerationen bleiben bei einer Haushaltspolitik, die sich allein an den offiziellen Indikatoren der Haushaltslage ausrichtet, aber unberücksichtigt. Ein Haushaltsausgleich, die Stabilisierung des Schuldenstandes oder seine Rückführung unter den Referenzwert von 60% des Bruttoinlandsproduktes bieten also noch keine Gewähr für die Zukunftsfähigkeit der öffentlichen Haushalte.

Aus Sicht der Geldpolitik gibt es nur einige wenige Ansatzpunkte, um Ratschläge zur konkreten Lösung dieser zukünftigen Finanzierungslasten der öffentlichen Haushalte zu geben. Sicher ist: Beitrags- oder Steuererhöhungen und damit eine weitere Belastung des Faktors Arbeit oder der Unternehmen sind angesichts der hohen Arbeitslosigkeit keine angemessene Antwort auf finanzielle Zukunftslasten. In diesem Zusammenhang ist vielmehr kritisch zu prüfen, inwieweit Staaten der Währungsunion durch ihre gegenwärtige Steuer- und Transferpolitik Anreize zu einer dynamischeren wirtschaftlichen Aktivität nachhaltig mindern. Die europäischen Staaten haben auch die Frage anzugehen, ob der öffentliche Sektor nicht weit über das Optimum hinaus aufgebläht ist. Der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt liegt im Durchschnitt der Euro-Länder bei knapp 50%, deutlich höher als in den der Größe nach vergleichbaren Wirtschaftsräumen USA und Japan. Noch immer sind die Staaten Europas zu stark in wirtschaftliche Aktivitäten verstrickt, die vermutlich effizienter durch private Unternehmenstätigkeit zu leisten wären. Eine stärkere Konzentration der Staaten auf die Kernbereiche ihrer Aufgaben, insbesondere die Bereitstellung eines die Wirtschaft unterstützenden öffentlichen Kapitalstocks, verbunden mit einem konsequenten Einsparen staatlicher Konsumausgaben, könnte der Wirtschaft im Eurogebiet neue Wachstumsdynamik geben.

5. Policy-mix zwischen Geld- und Finanzpolitik in der Währungsunion

Lassen Sie mich abschließend einige Worte sagen zur Rollenverteilung zwischen Geld- und Finanzpolitik bei der Stabilisierung des Euro und dazu, wie sich aus ihrem Zusammenspiel ein harmonisches Ganzes ergeben kann. Unabhängig von der konkreten fiskalpolitischen Konsolidierungsstrategie ist für den Bereich der öffentlichen Haushalte eines entscheidend: die Glaubwürdigkeit und Entschlossenheit der Regierungen, eine dauerhafte Tragfähigkeit der Finanzpolitik zu sichern und damit auch langfristig mögliche Konflikte mit den Zielen der Geldpolitik zu vermeiden. Damit würde die Finanzpolitik ihre wichtigste Bringschuld für ein nachhaltiges Vertrauen der Marktteilnehmer und somit für einen stabilen Euro erfüllen.

Eine als verlässlich angesehene, an langfristigen Zielen orientierte Haushaltspolitik würde so auch implizit über eine höhere Wachstumsrate größeren Spielraum für den dazu passenden Geldmantel schaffen. Je weniger die Europäische Zentralbank die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten als Bedrohung für die Preisstabilität und Begrenzung des Wachstums empfinden muß, desto höher der Ansatz für das Produktionspotential in der Strategie der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank.

An dieser Stelle möchte ich eine kritische Anmerkung machen zu den kürzlich verstärkt geäußerten Vorschlägen einer bewußten Ex-ante-Koordinierung von Geld- und Finanzpolitik: Die Reaktion der Geldpolitik auf die gegenwärtige oder erwartete Finanzpolitik kann sich grundsätzlich nur an tatsächlichen Entwicklungen oder hinreichend gesicherten Erkenntnissen über die Zukunft orientieren. Eine Vorab-Koordinierung mit dem Ziel, ein für die Wirtschaft günstiges Mischungsverhältnis aus geld- und finanzpolitischen Impulsen zu garantieren, ist daher nicht hilfreich. Denn selbst auf eine Verpflichtung der Regierungen, zukünftig eine tragfähige Finanzpolitik anzustreben, kann die Geldpolitik nicht mit einem Versprechen zu dauerhaft niedrigen Zinsen antworten. Die Notenbanken sind dem Gebot der Preisstabilität verpflichtet, und sie müssen in jeder Situation angemessen reagieren können, ohne an andere Verpflichtungen gebunden zu sein. Die vertraglichen Regelungen für das Europäische Notenbanksystem sind hier eindeutig: Die Preisstabilität hat grundsätzlich Priorität.

Höchste Priorität für die Finanzpolitik sollte gegenwärtig darin bestehen, den verlorengegangenen Spielraum in der Gestaltung der öffentlichen Haushalte zurückzugewinnen. Darüber hinaus fehlt es vor allem an überzeugenden Konzepten, um klar erkennbare Zukunftsprobleme entschlossen anzugehen und zu lösen. Die Finanzpolitik in Europa erscheint weiterhin oftmals einer kurzfristigen Orientierung verhaftet zu sein. Langfristigen Perspektiven einen höheren Stellenwert einzuräumen, macht es erforderlich, neben den wichtigen haushaltspolitischen Kenngrößen Defizit und Schuldenstand auch eine Vielzahl weiterer Faktoren in Rechnung zu ziehen. Selbst eine Stabilisierung oder Rückführung von Defiziten und Schuldenständen stellt dann keine zukunftsfähige fiskalpolitische Strategie dar, wenn gleichzeitig die Steuerlasten zu hoch bleiben und bedeutende Effizienzverluste bewirken oder wenn durch die staatliche Abgaben- und Ausgabenpolitik strukturelle Verwerfungen im Wirtschaftsablauf hervorgerufen werden.

Nehmen die geld- und finanzpolitischen Institutionen ihren jeweiligen Auftrag in Zukunft ernst, so ergibt sich daraus eine stabile Grundlage für Wachstum und Stabilität in Europa beinahe von selbst. Die Preise im Euroraum sind stabil. Dadurch leistet das Eurosystem seinen wichtigsten Beitrag zu einer gedeihlichen Entwicklung der Gemeinschaft. Wir werden uns von diesem Kurs durch nichts und niemanden abbringen lassen.

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