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Der Prozess der wirtschaftlichen und finanziellen Integration in Europa

Rede von Jean-Claude TrichetPräsident der Europäischen ZentralbankJournalisten-Symposium Konvent für Deutschland Berlin, 5. Dezember 2007

1. Einführung [1]

Es ist mir eine große Ehre, als Gastredner zu diesem Journalisten-Symposium in Berlin geladen zu sein, um über die wirtschaftliche und finanzielle Integration in Europa zu sprechen. Der Gedanke ist nicht neu. Bereits als der Vertrag von Rom vor einem halben Jahrhundert unterzeichnet wurde, stand der freie grenzüberschreitende Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen im Mittelpunkt der Bemühungen der innereuropäischen Politik, die schließlich zum europäischen Binnenmarkt führen sollten.

Heute – nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens im Januar dieses Jahres – umfasst die Europäische Union 27 Länder mit einer Gesamtbevölkerung von 494 Millionen Einwohnern. Die eindrucksvolle EU-Erweiterung geht mit der erfolg­reichen Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion einher, der inzwischen 13 Länder der EU und 317 Millionen Bürgerinnen und Bürger angehören. Wenn sich im Januar 2008 Zypern und Malta dem Euroraum anschließen, wird das Eurogebiet 15 Länder umfassen und die Einwohnerzahl wird um eine Million steigen.

Dennoch sind weitere Fortschritte vonnöten, damit sich Europa die Vorteile des Euro in vollem Umfang zunutze machen kann. In diesem Zusammenhang ist es dringend erforderlich, das Ziel des Konvents für Deutschland, die „Reform der Reformfähigkeit“ in Deutschland, zu erreichen. Hiermit komme ich zum Thema meines heutigen Vortrags, dem wirtschaftlichen und finanziellen Integrationsprozess in Europa. Zunächst möchte ich Ihnen einige diesbezügliche Fakten darlegen. Dann werde ich über wirtschaftliche Anpassungsprozesse sprechen. Reibungslose Anpassungsprozesse werden durch die wirtschaftliche und finanzielle Integration weiter verbessert und sind für das ordnungsgemäße Funktionieren der europäischen Volkswirtschaften von entscheidender Bedeutung.

2. Wirtschaftliche und finanzielle Integration in Europa

Beginnen möchte ich mit drei Aspekten der wirtschaftlichen Integration in Europa, nämlich mit dem Handel, der Mobilität von Arbeitskräften und der Synchronisation von Konjunkturzyklen.

a) Erstens spiegelt sich die wirtschaftliche Integration in einem deutlichen Anstieg des Handels mit Waren und Dienstleistungen innerhalb des Eurogebiets wider. Ich möchte in diesem Zusammenhang einige Zahlen nennen. Der Anteil der Ausfuhren und Einfuhren von Waren innerhalb des Euro-Währungsgebiets erhöhte sich zwischen 1998 und 2006 um 6 Prozentpunkte auf rund 32 % des BIP. Der Anteil der Exporte und Importe von Dienstleistungen innerhalb des Euroraums stieg in diesem Zeitraum um etwa 2 Prozentpunkte auf fast 7 % des BIP.

Mit der zunehmenden Handelsintegration innerhalb des Eurogebiets wird die Region auch nach außen hin offener. Der Anteil des Warenhandels mit Ländern außerhalb des Eurogebiets erhöhte sich im Zeitraum von 1998 bis 2006 um etwa 9 Prozentpunkte auf rund 33 % des BIP. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der entsprechenden Aus- und Einfuhren von Dienstleistungen um etwa 2 Prozentpunkte auf fast 10 % des BIP. Der deutsche Handel mit Ländern außerhalb des Eurogebiets stieg von 31 % des deutschen BIP im Jahr 1998 auf 51 % im Jahr 2006 und trug somit in besonderem Maße zu diesen Entwicklungen bei. Das Beispiel des deutschen Außenhandels zeigt, dass es sich beim Euroraum um eine offene Volkswirtschaft und nicht um eine „Festung Europa“ handelt. Im Vergleich dazu waren die Aus- und Einfuhren von Waren in den Vereinigten Staaten im Jahr 2006 mit einem Anteil von etwa 22 % am BIP geringer, der Dienstleistungsverkehr belief sich auf 6 %.

b) Ein zweiter Aspekt des Prozesses der wirtschaftlichen Integration ist der Grad der Synchronisation bzw. des Gleichlaufs unterschiedlicher Konjunkturlagen in den verschiedenen Ländern des Euroraums. Dieser Synchronisationsgrad hat sich seit Beginn der Neunzigerjahre erhöht. Anders ausgedrückt: die Konjunkturzyklen vieler Volkswirtschaften im Eurogebiet ähneln sich inzwischen.

Zudem ist der Rückgang der Inflationsunterschiede zwischen den Ländern des Eurogebiets in den letzten Jahren beeindruckend gewesen. Gegenwärtig liegen die Inflationsdifferenzen der Länder des Eurogebiets unter denen von 14 US‑amerikanischen Ballungszentren. [2] Die Streuung der Zuwachsraten des realen BIP in den Ländern des Euroraums entsprach in etwa den in den US-Regionen verzeichneten Werten für das Produktionswachstum. [3]

c) Die Mobilität von Arbeitskräften innerhalb der EU stellt einen dritten Aspekt der wirtschaftlichen Integration dar, den ich anführen möchte. Durch diese Mobilität bieten sich Arbeitskräften zusätzliche Wahlmöglichkeiten. Sie kann die Auswirkungen länderspezifischer Schocks dämpfen und das Risiko von Lohndruck bei einer angespannten Arbeitsmarktlage verringern. Aus den verfügbaren Daten geht hervor, dass die grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitskräften innerhalb der Europäischen Union noch immer eingeschränkt ist, wobei regulatorische Beschränkungen sogar innerhalb des Euroraums selbst – beispielsweise im Hinblick auf Arbeitskräfte aus Slowenien – weiterhin bestehen. Deutschland zählt zu den Ländern, die der Mobilität von Arbeitskräften aus einigen EU-Ländern gegenwärtig einen Riegel vorschieben – und dies zu einer Zeit, in der viele Unternehmen von Schwierigkeiten bei der Suche nach entsprechend qualifizierten Arbeitskräften berichten. So besteht einer Umfrage der Europäischen Kommission zufolge derzeit beispielsweise ein erheblicher Arbeitskräftemangel in der deutschen Industrie.

Es ist schwierig, vergleichbare Zahlen zur Mobilität von Arbeitskräften für die EU und die Vereinigten Staaten zu erhalten, und bei der Interpretation dieser Zahlen ist große Vorsicht geboten. Dennoch scheint die geografische Mobilität von Arbeitskräften in den Vereinigten Staaten weit höher zu sein als in der EU.

Ich möchte mich nun der finanziellen Integration in Europa widmen. Die Einführung des Euro hat zur innereuropäischen Finanzintegration beigetragen, die wiederum den freien Kapitalverkehr im Euroraum erleichtert hat. Die Finanzintegration stärkt den Wettbewerb und erhöht das Potenzial für kräftigeres inflationsfreies Wirtschafts­wachstum. [4] Sie verbessert auch die reibungslose und effektive Übertragung der einheitlichen Geldpolitik im gesamten Euroraum.

Die Finanzintegration unterstützt Finanzsysteme zudem darin, Finanzierungsmittel von Wirtschaftsakteuren, die über überschüssige Sparguthaben verfügen, an jene weiterzuleiten, die diese Mittel benötigen; insbesondere ermöglicht sie es Akteuren, Risiken effektiv zu handeln, abzusichern, zu streuen und zusammenzufassen. Im Ergebnis führt dies zu einer besseren Risikoteilung und -streuung.

Wissenschaftlichen Studien zufolge wurden in den Vereinigten Staaten im Zeitraum von 1963 bis 1990 39 % der Schocks für das Bruttoinlandsprodukt des Bundesstaats über die Kapitalmärkte, 23 % über den Kreditkanal und 13 % über die Finanzpolitik des Bundesstaats ausgeglichen. [5] Rund 25 % der Schocks wurden nicht abgefedert. Somit trugen Finanzmärkte und Finanzinstitute dazu bei, 62 % der idiosynkratischen Schocks für den Bundesstaat zu absorbieren. Am Beispiel der Vereinigten Staaten ist daher zu erkennen, dass das Finanzsystem von weit größerer Bedeutung sein kann als die Finanzpolitik – ein Grund mehr, um die Finanzintegration in Europa zügiger voranzutreiben. In einer neueren Studie zeigte sich, dass sich die Lage im Euroraum aufgrund zunehmender Kapitalströme zwischen den Ländern des Eurogebiets an die Situation in den Vereinigten Staaten angleicht. In den Ländern, die später einmal den Euroraum bilden würden (ohne Luxemburg), hätten die Kapitalmärkte zwischen 1993 und 2000 etwa 10 % der länderspezifischen Schocks für das BIP ausgeglichen. [6]

Von der EZB veröffentlichte Indikatoren deuten auf einen seit 1999 zunehmenden Integrationsgrad an den Finanz- und Bankenmärkten im Eurogebiet hin. [7] Darüber hinaus haben die Kapitalmärkte im Hinblick auf den Anteil des Gesamtwerts der Aktien-, Anleihe- und Kreditmärkte am BIP seit 1999 erheblich zugelegt und verfügen sogar über weiteres Wachstumspotenzial, wie ein Vergleich mit den Vereinigten Staaten zeigt. Im Zeitraum von 1995 bis 1999 belief sich der Anteil des Gesamtwerts der Kapitalmärkte im Euroraum auf 177 % des BIP und in den Vereinigten Staaten auf 279 %; in den Jahren 2005 bis 2006 hatte sich dieser Wert im Eurogebiet auf 256 % und in den Vereinigten Staaten auf 353 % des BIP erhöht. In Deutschland stieg dieser Anteil von 202 % auf 229 % des BIP.

Die Integration des Kundengeschäfts der Banken hingegen ging bislang nur langsam vonstatten. Es bestehen weiterhin erhebliche Unterschiede bei den Bankzinsen für Einlagen und Kredite in den Ländern des Euroraums, wobei die länderspezifische Streuung im Eurogebiet höher ist als die intraregionale Streuung dieser Zinssätze in den Vereinigten Staaten. [8]

Dennoch gibt es insgesamt gesehen Hinweise auf eine wachsende wirtschaftliche und finanzielle Integration in den Ländern der Europäischen Union. Die Einführung des Euro hat durch die Verringerung von Informationskosten, die Verbesserung der Preistransparenz und die Beseitigung von Wechselkursrisiken zwischen den Ländern des Euroraums zu dieser Entwicklung beigetragen. Auf einigen Gebieten gibt es jedoch noch viel zu tun – so gilt es beispielsweise, die Mobilität von Arbeitskräften innerhalb des Eurogebiets und die Finanzintegration im Kundengeschäft der Banken zu erhöhen.

3. Anpassungsprozesse im Eurogebiet

Wirtschaftliche und finanzielle Integration sind Grundvoraussetzungen für das reibungslose Funktionieren des Euroraums. In einer Währungsunion wie dem Eurogebiet, in der es keine regionale Geld- und Wechselkurspolitik mehr gibt, ist es wichtig, sicherzustellen, dass die Marktanpassungsmechanismen ordnungsgemäß funktionieren. Solche Mechanismen sind erforderlich, um zu verhindern, dass es in einem Land oder einer Region nach einem länderspezifischen Schock zu anhaltend geringem Wachstum und höherer Arbeitslosigkeit kommt oder sich eine lange Phase der Überhitzung einstellt.

Es gibt viele Faktoren, die die Widerstandsfähigkeit der Volkswirtschaften des Eurogebiets gegenüber negativen Schocks erhöhen. In diesem Zusammenhang trägt die Geldpolitik der EZB durch die Gewährleistung von Preisstabilität, durch ihre Glaubwürdigkeit bei der Gewährleistung von Preisstabilität und somit durch die Verankerung dieser Preisstabilität in den Erwartungen und Entscheidungen der Wirtschaftsakteure zum ordnungsgemäßen Funktionieren der Anpassungs­mechanismen innerhalb des Euroraums bei. Eine solche Verankerung der Erwartungen ist im Hinblick auf eine angemessene Preisbildung durch die Marktteilnehmer wichtig. Hinzufügen möchte ich, dass die Inflationserwartungen am besten durch eine unabhängige und rechenschaftspflichtige Zentralbank stabilisiert werden. Die deutsche Geschichte liefert hierfür das beste Beispiel.

Eine gut ausgestaltete Strukturpolitik, die die Flexibilität an den Güter- und Arbeitsmärkten steigert, ist wesentlich, um Schocks effektiver abzufedern. Es versteht sich von selbst, dass die Verantwortung für die Umsetzung dieser Politik bei den nationalen Regierungen, den Parlamenten und den Sozialpartnern liegt.

In diesem Zusammenhang ist die Lissabon-Strategie ein grundlegendes und ehrgeiziges Programm, das die Aufmerksamkeit Europas auf die Dringlichkeit von Strukturreformen lenken soll. Diese Reformen verbessern die langfristigen Wachstumsaussichten im Eurogebiet, indem sie sich einerseits positiv auf die Erwerbsbeteiligung auswirken und andererseits das Arbeitsproduktivitätswachstum durch die Förderung von Innovation und technischem Fortschritt stärken. Wir wissen sehr wohl, dass Strukturreformen häufig auf Widerstand bei Wirtschaftsakteuren stoßen und die öffentliche Meinung in diesem Punkt empfindlich reagiert. Deshalb ist es wichtig, zu verstehen und zu kommunizieren, dass die mittel- bis langfristigen Vorteile struktureller Reformen die kurzfristigen Kosten deutlich aufwiegen werden. Die EZB unterstützt die Regierungen daher ausdrücklich bei der Umsetzung von Strukturreformen. So haben beispielsweise die Arbeitsmarkt­reformen, die vor einigen Jahren in Deutschland umgesetzt wurden, erheblich zur Schaffung von Arbeitsplätzen, zu geringerer Arbeitslosigkeit und zum jüngsten Konjunkturaufschwung beigetragen. Es ist entscheidend, dass diese Ergebnisse nicht durch eine Unterbrechung oder gar eine Umkehrung des Reformprozesses aufs Spiel gesetzt werden. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nach wie vor hoch, und weitere Reformen sind erforderlich, um das Arbeitspotenzial hier in diesem Land besser einzusetzen.

Insbesondere am Arbeitsmarkt kann die wirtschaftliche Flexibilität durch den Abbau von institutionellen Hemmnissen für flexible Lohn- und Preissetzungssysteme gefördert werden. Ich möchte betonen, dass Regierungen und Sozialpartner gemeinsam dafür verantwortlich sind, sicherzustellen, dass bei der Lohnbildung die Arbeitsmarktlage auf Branchen-, auf sektoraler und auf regionaler Ebene angemessen berücksichtigt wird und die Wettbewerbsfähigkeit sowie die Beschäftigung nicht gefährdet werden. [9] Den Regierungen sollte bewusst sein, dass die Lohnbildung im öffentlichen Sektor sehr häufig eine Vorbildfunktion für den privaten Sektor hat. Darüber hinaus ist eine ausreichende Lohndifferenzierung erforderlich, um die Beschäftigungsmöglichkeiten für geringer qualifizierte Arbeitnehmer sowie in Regionen oder Sektoren mit hoher Arbeitslosigkeit zu verbessern. In dieser Hinsicht untergräbt eine übermäßige Regulierung der Löhne die Schaffung von Arbeitsplätzen, insbesondere für junge und weniger qualifizierte Arbeitnehmer sowie für diejenigen, die Schwierigkeiten bei der Stellensuche haben. So schmälert vor allem die Festsetzung von Mindestlöhnen auf einem Niveau, das nicht der Produktivität entspricht, die Beschäftigungschancen von weniger qualifizierten Arbeitnehmern und Arbeitslosen.

Wie wir in Deutschland nach der Wiedervereinigung gesehen haben, kann die Anpassungsphase schmerzhaft sein, aber Reformen und die Zurückhaltung bei den Lohnstückkosten zahlen sich nun schließlich aus und tragen zu robustem Wachstum bei. Vor einigen Jahren vertraten einige Beobachter den Standpunkt, dass in Deutschland deutlich kräftigere Lohnzuwächse erforderlich wären, um ein höheres Wachstum zu erzielen. Die aktuellen Daten bestätigen diese Auffassung nicht. Im Gegenteil war die dank der moderaten Entwicklung der Lohnstückkosten gestiegene Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft eine wichtige Voraussetzung für die ausgesprochen dynamische Schaffung von Arbeitsplätzen in den letzten Jahren.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch im Eurogebiet insgesamt wurde in den achteinhalb Jahren seit der Euro-Umstellung ein beeindruckender Beschäftigungszuwachs verzeichnet. Die Zahl der Erwerbstätigen erhöhte sich im Euroraum um 14,9 Millionen gegenüber lediglich 3,8 Millionen in den vorangegangenen achteinhalb Jahren.

Auch an den Gütermärkten sind Reformen vonnöten. Zunächst möchte ich die Bedeutung der Vollendung des Binnenmarkts, insbesondere in den Dienstleistungsindustrien und den netzgebundenen Sektoren, hervorheben. Eine tiefere Integration der Märkte würde die Preisflexibilität durch die Förderung von Wettbewerb anregen und die Gütermärkte öffnen. Ein stärkerer grenzüberschreitender Wettbewerb und die Integration der Märkte in den Ländern des Eurogebiets würden zu niedrigeren Preisen beitragen. Auch die Anpassungsprozesse in den einzelnen Ländern im Falle asymmetrischer Schocks oder unterschiedlicher konjunktureller Entwicklungen könnten hierdurch verbessert werden.

Es ist auch wichtig, die weitere Finanzmarktintegration und die Entwicklung von jederzeit verfügbaren Möglichkeiten zur Portfoliodiversifizierung zu fördern. Dies würde, wie bereits erwähnt, zur Abschwächung der Auswirkungen länderspezifischer Schocks führen.

Durch eine gut konzipierte Finanzpolitik können die nationalen Entscheidungsträger einen erheblichen Beitrag zum ordnungsgemäßen Funktionieren der Anpassungs­mechanismen innerhalb des Eurogebiets leisten. Schon häufig habe ich darauf hingewiesen, dass eine tragfähige und mittelfristig ausgerichtete Finanzpolitik, die vollständig im Einklang mit den Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts steht, am besten zum reibungslosen Funktionieren des Euroraums beitragen kann. Darüber hinaus kann und sollte sich die Finanzpolitik auch darauf konzentrieren, die Effektivität und Effizienz des öffentlichen Sektors selbst durch eine qualitativ hochwertige Ausgaben- und Steuerpolitik zu steigern. Große und ineffiziente öffentliche Sektoren bremsen das Wachstum, indem sie die Wirtschaft durch hohe Steuern belasten und Ressourcen unproduktiven Verwendungen zuführen.

In diesem Zusammenhang begrüßen wir die Bemühungen der deutschen Bundesregierung, die regulatorische Belastung weiter zu verringern. Darüber hinaus waren die finanzpolitischen Entwicklungen in Deutschland in letzter Zeit vielversprechend. Zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung dürfte der Staat einen ausgeglichenen Haushalt erreichen, nachdem in den Jahren 2002 bis 2005 die im Maastricht-Vertrag festgelegte Defizitobergrenze von 3 % des BIP überschritten wurde. Die erfolgreiche Konsolidierung der öffentlichen Finanzen basiert zwar zum Teil auf einnahmensteigernden Maßnahmen, wie beispielsweise der Erhöhung der Mehrwert­steuer zu Jahresbeginn, ist aber auch in erheblichem Maße auf die Ausgabenzurückhaltung zurückzuführen. So ist der Anteil der Staatsausgaben am BIP in den letzten vier Jahren um 4 ½ Prozentpunkte gesunken und liegt damit deutlich unter dem Durchschnitt des Euroraums. Derzeit ist es wichtig, dass die Regierung diesen Kurs weiterverfolgt, indem sie die moderaten Zuwächse bei den Ausgaben beibehält und gleichzeitig die Arbeits- und Investitionsanreize verstärkt. Wenn die Politik ihren Weg der strukturellen Ausgabenbeschränkung und der nachhaltigen Verbesserung der Finanzierungssalden fortsetzt, könnte Deutschland im Euroraum eine Vorbildfunktion im Hinblick auf die öffentlichen Haushalte einnehmen und wäre gut auf die kurz- und langfristigen Herausforderungen für die Finanzpolitik vorbereitet.

Es ist besonders wichtig, dass die Länder sich auf weniger günstige Wirtschaftsbedingungen und die auf längere Sicht steigende Belastung der öffentlichen Haushalte im Zusammenhang mit der Bevölkerungsalterung vorbereiten. In diesem Kontext ist die allmähliche Anhebung des Rentenalters in Deutschland ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Der spätere Rentenbeginn wird dazu beitragen, dass die umfangreiche durch die Bevölkerungsalterung bedingte fiskalische Belastung für die jüngeren und aktiven Generationen verringert wird.

Schließlich möchte ich zum entscheidenden Thema der Wettbewerbsfähigkeit kommen, die in einer Währungsunion einen der wichtigsten marktbasierten Anpassungsmechanismen darstellt. [10] Die Wettbewerbsfähigkeit wird normalerweise auf der Grundlage verschiedener Messgrößen für die Preis- und Kostenwettbewerbsfähigkeit beurteilt [11], ergänzend werden einige nichtpreisliche Faktoren berücksichtigt, wie beispielsweise die Qualität und der technologische Gehalt der produzierten Güter.

Die Wettbewerbsunterschiede im Eurogebiet zeichnen sich besonders durch ihre Hartnäckigkeit aus. Im Zeitraum von 1999 bis 2006 besteht ein Unterschied von bis zu etwa 25 Prozentpunkten zwischen den Ländern des Euroraums mit den niedrigsten und denjenigen mit den höchsten kumulierten Wachstumsraten der Lohnstückkosten für die Gesamtwirtschaft. Deutschland und Österreich gehören zur ersten Ländergruppe, während Irland, Portugal und Griechenland der zweiten Gruppe zuzuordnen sind. Anhaltende Unterschiede bei der Wettbewerbsfähigkeit können normal sein, wenn eine Volkswirtschaft sich in einem längeren Aufholprozess befindet, der zu einem höheren Pro-Kopf-Einkommen führt, oder wenn eine Volkswirtschaft strukturelle Veränderungen oder vorangegangene Schocks bewältigen muss, die sich in einem neuen relativen Preisgleichgewicht widerspiegeln.

Allerdings können anhaltende Verluste der relativen Kostenwettbewerbsfähigkeit beispielsweise auch mit einer Reihe von strukturellen Rigiditäten zusammenhängen, die zu Trägheit bei der Preis- und Lohnbildung führen. Diese Entwicklungen könnten Volkswirtschaften Anlass zur Sorge geben und signalisieren, dass Vorsicht geboten ist. Daher müssen die Entwicklungen der Preis- und Kostenwettbewerbsfähigkeit in den Volkswirtschaften des Eurogebiets genau beobachtet werden.

Für alle betroffenen Parteien – privater Sektor, Sozialpartner, die nationalen öffentlichen Entscheidungsträger – ist es wichtig, zur Preis- und Lohnflexibilität beizutragen. So würden wirtschaftlich nicht gerechtfertigte Verluste an Wettbewerbsfähigkeit vermieden und das Risiko von möglicherweise anhaltenden Anpassungskosten über den Wettbewerbskanal auf ein Mindestmaß reduziert werden.

4. Zusammenfassung

Sehr geehrte Damen und Herren, ich komme nun zu den Schlussfolgerungen. Die einheitliche Währung und die Wirtschafts- und Währungsunion sind ein beeindruckender Erfolg, vielleicht der größte Erfolg Europas seit der Unterzeichnung des Vertrags von Rom. Wir alle müssen zur Konsolidierung dieses großartigen Erfolges beitragen und sicherstellen, dass er in den kommenden Jahren weiter gefestigt wird. Was die Geldpolitik betrifft, so kann sich Europa darauf verlassen, dass die Europäische Zentralbank und das Eurosystem ihrem vorrangigen Auftrag treu bleiben und für die 317 Millionen Bürgerinnen und Bürger des Eurogebiets Preisstabilität auf mittlere Sicht sicherstellen. Im Hinblick auf andere Politikbereiche, die nicht von der Zentralbank abhängen, möchte ich drei Gebiete hervorheben, in denen solide Politiken absolut unerlässlich sind: eine solide Haushaltspolitik, die die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts uneingeschränkt einhält, Strukturreformen, die vollständig im Einklang mit der Lissabon-Strategie und der Vollendung des Binnenmarkts stehen, und nicht zuletzt eine angemessene Beobachtung der Indikatoren für die relative Kostenwettbewerbsfähigkeit im Euroraum.

Es ist ermutigend, dass frühere Reformen zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Verringerung der Arbeitslosigkeit beigetragen haben. Wichtig ist, dass die Regierungen diesen Weg weiterverfolgen und frühere Reformen nicht gerade dann umkehren, wenn sie beginnen, Früchte zu tragen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. [1] Ich danke Malin Andersson für ihren Beitrag zu dieser Rede, Klaus Masuch und Hans-Joachim Klöckers für die hilfreichen Kommentare sowie Katherine Brandt, Annalisa Ferrando, Arne Gieseck, Matthew Hart, Christophe Kamps und Andrea Lüske für ihre Mitwirkung

  2. [2] Anfang der Neunzigerjahre betrug das Inflationsgefälle zwischen den Ländern, die heute dem Euroraum angehören, durchschnittlich rund 6 Prozentpunkte (ungewichtete Standardabweichung). Für das laufende Jahr liegt dieser Wert bislang bei lediglich 0,5 Prozentpunkten. Die Unterschiede in 14 US-amerikanischen Ballungszentren lagen in den letzten 20 Jahren bei etwa 1 Prozentpunkt. Die Streuung der Zuwachsraten des realen BIP in den Ländern des Euroraums bewegte sich in den letzten Jahrzehnten um 2 Prozentpunkte.

  3. [3] Es ist hervorzuheben, dass einige Differenzen von vorübergehender Natur sind, während andere dauerhafter sind. Anhaltende Differenzen beim Wirtschaftswachstum oder bei den Inflationsraten zwischen einigen Ländern des Euroraums sind in einer Währungsunion nicht ungewöhnlich, insoweit sie mit Aufholprozessen zusammenhängen. Es trifft jedoch auch zu, dass hartnäckige Differenzen, die strukturelle Rigiditäten widerspiegeln, Anlass zur Sorge geben.

  4. [4] Eine Studie von London Economics schätzte die Vorteile der Integration der europäischen Anleihe- und Aktienmärkte über einen Zehnjahreszeitraum auf rund 1 % zusätzliches BIP. London Economics, Quantification of the macro-economic impact of integration of EU financial markets, Report to the European Commission, 2002. Informationen über einen Vergleich des Beitrags des Finanzsektors zum jährlichen Arbeitsproduktivitätswachstum in den Vereinigten Staaten und im Eurogebiet finden sich auch in Mary O’Mahony und Bart Van Ark, EU Productivity and Competitiveness: an Industry Perspective. Can Europe Resume the Catching-up Process?, Europäische Gemeinschaften, 2003.

  5. [5] Siehe P. Asdrubali, B. Sørensen und O. Yosha, Channels of interstate risk sharing: United States 1963-1990, Quarterly Journal of Economics, Bd. 111, 1996.

  6. [6] Siehe S. Kalemli-Ozcan, B. Sørensen und O. Yosha, Asymmetric shocks and risk sharing in a monetary union: Updated evidence and policy implications for Europe, Diskussionspapier Nr. 4463 des CEPR, 2004.

  7. [7] Siehe EZB, Financial integration in Europe, 2007.

  8. [8] C. Kok Sørensen und T. Werner, Bank interest rate pass-through in the euro area: a cross-country comparison, Working Paper Nr. 580 der EZB, 2006.

  9. [9] Siehe beispielsweise die Analyse der Rolle der Lohnentwicklung im Hinblick auf die Arbeitslosigkeit in Europa in den Siebzigerjahren von O. Blanchard, The medium run, Brookings Papers on Economic Activity, Bd. 2, 1997, S. 89-141.

  10. [10] Eine umfassende Darstellung der Anpassungsmechanismen findet sich in The EU economy: 2006 review – Adjustment dynamics in the euro area – Experiences and challenges, Europäische Kommission 2006, sowie in F. P. Mongelli und J. L. Vega, What effects is EMU having on the euro area and its member countries? An overview, Working Paper Nr. 599 der EZB, 2006.

  11. [11] Im Jahr 2007 veröffentlichte die EZB mit den Harmonisierten Indikatoren der Wettbewerbsfähigkeit erstmals eine Messgröße für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit. Siehe EZB, Die Einführung von Harmonisierten Indikatoren der Wettbewerbsfähigkeit für die Länder des Euro-Währungsgebiets, Kasten 6, Monatsbericht Februar 2007.

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